Wie werden Verfolgung, Flucht und Migration erinnert? Szenisches Verstehen in intergenerationalen Forschungssituationen

Lena Inowlocki

1. Einführung 

In ihrem ersten eigenen Film, dem eindrucksvollen Dokumentarfilm „Born in Evin“ (2019), geht die Schauspielerin Maryam Zaree als Regisseurin und als Protagonistin der Frage ihrer Geburt nach, die gleichzeitig auch die Frage nach den Auswirkungen der Verfolgung Oppositioneller des Khomeini-Regimes im Iran stellt.[1] Dass sie 1983 im Evin-Gefängnis für politische Gefangene in Teheran geboren wurde, erfuhr sie erst als Jugendliche. Ihre Mutter, die mit ihr 1985 aus dem Iran nach Deutschland geflüchtet war, sprach mit ihr nicht darüber. Ihr Vater, der getrennt inhaftiert gewesen war, erzählte ihr nach seiner eigenen späteren Entlassung und Flucht nach Deutschland über die Haftbedingungen und gab ihr seinen Asylantrag zu lesen; als Jugendliche konnte sie beides zunächst kaum verstehen und nachvollziehen. Schließlich, mit Anfang 30, unternahm sie den Versuch, sich der Frage nach den Umständen ihrer Geburt im Gefängnis anzunähern. Wie zu Beginn ihres Films zu sehen ist, versucht sie wiederholt, ihre Mutter, Nargess Eskandari-Grünberg, Psychotherapeutin und Politikerin der Grünen, nach den Umständen der Haft und der Geburt im Gefängnis zu fragen. Ihre Mutter ermutigt sie zu ihrem Film-Vorhaben, es wird aber deutlich, dass sie das ihrer Tochter nicht erzählen kann. Eine enge Freundin ihrer Mutter, ebenfalls Psychotherapeutin, kritisiert ihr Vorhaben als zu aufwühlend und schmerzhaft. Maryam Zaree will schon aufgeben, auch weil vereinbarte Treffen und Gespräche abgesagt werden. Sie wird aber von der Soziologin Chahla Chafiq bestärkt, ihre Fragen zu stellen; sie seien wichtig für sie selbst und als Fragen ihrer Generation, auch wenn ihre Mutter und andere, die inhaftiert waren, sich nicht in der Lage sehen, zu antworten. Über die Schwierigkeit bzw. zumeist sogar die Unmöglichkeit des Erzählens zwischen den Generationen in der eigenen Familie über Verfolgung, Inhaftierung und Folter, tauscht sie sich daraufhin mit Gleichaltrigen aus, die wie sie als Säuglinge und Kleinkinder mit ihren Müttern inhaftiert waren. Sie nimmt an politischen Versammlungen von Exil-Iraner*innen und ehemaligen politischen Gefangenen teil, die die Folter und Ermordung Zehntausender unter dem Khomeini-Regime anklagen und spricht über ihr Filmprojekt. Sie gibt den Leidenserfahrungen und dem Protest der Regime-Gegner*innen und ihrer Zeugenschaft öffentlichen Raum.

„Born in Evin“ gibt wichtige Impulse für die sozialwissenschaftliche Forschung und Lehre zu den Auswirkungen von Verfolgung, Flucht und Migration auf die Betroffenen ebenso wie auf die jüngere Generation ihrer Familien und hebt die Bedeutung von öffentlicher und politischer Thematisierung hervor. In einem Seminar zu Erfahrungsdarstellungen von Verfolgung, Migration und gesellschaftlichen Umbrüchen hat der Film eine emotionale und reflektierte Auseinandersetzung mit den Leidenserfahrungen ermöglicht, zu denen eine biographische oder familiengeschichtliche Nähe der Seminarteilnehmer*innen bestand oder auch eine zunächst mehr oder weniger große Distanz aufgrund eigener und familiengeschichtlicher Positionierung.[2] In der Auseinandersetzung wurde immer wieder auf einzelne Szenen des Films Bezug genommen, die für die Seminar-Teilnehmer*innen einen kontrastiven Vergleich zum eigenen familiengeschichtlichen Herkunftswissen nahelegten. Dabei wurde nach möglichen Gemeinsamkeiten und nach Differenzen gefragt. Eine Annäherung an die „eigene“ Geschichte und an die „anderer“ kann durch Szenen möglich werden. Dazu möchte ich zunächst kurz auf die Begriffe „Szene“ sowie „szenisches Verstehens“ eingehen.[3]

Auf die Bedeutung von Szenen und szenischem Verstehen war ich viele Jahre vor diesem Seminar durch meine Forschung zu drei Generationen in Familien jüdischer displaced persons gekommen, in Forschungssituationen, an denen sich – für mich unerwartet – jeweils zwei Generationen beteiligten. In intergenerationalen Interview- und Gesprächssituationen wurde ich teilweise in die innerfamiliären Darstellungsaktivitäten und Aushandlungsprozesse involviert.[4] Im Seminar des Sommersemesters 2020 beschäftigten wir uns nicht mit diesen Forschungsprojekten. Aber durch die Seminardiskussion dachte ich wieder stärker an einige Szenen während meiner oben genannten Forschung. Es fiel mir nicht leicht, meine damaligen ethnographischen Protokolle zu den Interviewsituationen wieder zu lesen; ich fand mich konfrontiert mit meinen Vorannahmen und meiner begrenzten Offenheit gegenüber Sichtweisen meiner Interviewpartner*innen. Neuere Perspektiven auf biographieanalytische und ethnographische Forschung haben mich bei meinem re-reading begleitet, auf das ich im weiteren Verlauf eingehen möchte.

2. Szene und szenisches Verstehen

Eine Szene „kondensiert den Verlauf des Geschehens in besonders prägnanten Abschnitten […] als eine gestalthaft abgegrenzte, herausgehobene Handlungssequenz zwischen mehreren Personen“ (Wolf 2014, 935). Sie markiert in ihrer Bedeutungszumessung durch die Interviewpartner*innen als exemplarisches symbolisches Geschehen über die Situation hinaus eine besondere Geltung.

Das ursprüngliche Konzept der Szene ist ein literarisches und geht auf das griechische Theater zurück; die „Skene“ war das Bühnenhaus, „auf und vor dem die Schauspieler und der Chor auftraten“ (ebd.). Zu Beginn meiner Untersuchung zu drei Generationen in Familien jüdischer displaced persons Ende der 1980er-Jahre gab es kaum qualitativ-interpretative soziologische Forschung zur Bedeutung von Generationenbeziehungen. Umso wichtiger waren literarische Darstellungen von Generationenbeziehungen migrierter Familien in ganz unterschiedlichen globalen Kontexten.[5] Auch weiterhin gehe ich davon aus, dass in Romanen und Filmen zentrale Themen und Erfahrungsdimensionen in einer Dichte und Komplexität, die für die eigene Sensibilisierung als Forscher*in für ein szenisches Verstehen von Interaktionen und Dialogen von großer Bedeutung sein kann, zum Ausdruck kommen, bevor sie in die Forschung Eingang finden. Szenisch werden insbesondere Leidenserfahrungen zum Ausdruck gebracht, die nicht beschreibbar und nicht thematisierbar sind (Bar-On 1999).

Fritz Schütze beginnt seinen Aufsatz zu „Verlaufskurven des Erleidens in der interpretativen Soziologie“ mit einer Analyse von Franz Kafkas „Prozess“: „[W]eil Kafka eine wesentliche Klasse von sozialen Prozessen in seinen Werken literarisch verdichtet dargestellt hat, die in der Soziologie gewöhnlich nur am Rande bedacht oder z. T. gar theoretisch ausgeblendet wird“ (2016, 123). Während die interpretative Soziologie sich in erster Linie auf handlungstheoretische Überlegungen zur Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse bezog, wurden Erleidensprozesse weitgehend aus der Theoriebildung und Forschung ausgeblendet. Die „fragilitätssensible Sicht der sozialen Realität“ (Schütze 2016, 140) und die Bedeutung eines tiefergehenden szenischen Verstehens (ebd., 117) entstanden erst mit der erhöhten Aufmerksamkeit für Situationen längerfristigen biographischen und kollektiven Verlusts von Erwartungssicherheit und Planbarkeit, wie im Fall schwerer chronischer Erkrankung (Strauss et al. 1985).

Welche Bedeutung wird in der Darstellung dem Einzelfall gegeben, dem Nachvollziehen der subjektiven Erfahrungsdarstellung und Reflektion unter sich verändernden gesellschaftlichen Verhältnissen sowie den eigenen Handlungsmöglichkeiten im Verhältnis zu Leidenserfahrungen und Verletzbarkeiten? Die Biographieforschung sieht darin die Grundlage einer kritischen Theoriebildung (Apitzsch 2018).

Traumatische Ereignisse im Zuge von Flucht und Verfolgung sowie Leidenserfahrungen im Migrationsprozess treffen aus psychoanalytischer Sicht auf ein sehr individuelles Situationsverständnis und sehr spezifische Versuche, „die pathogenen Situationsfaktoren zu überwinden oder sie […] ‚aufzuheben‘ – in der dreifachen Bedeutung dieses Wortes von ‚außer Kraft setzen‘, ‚überschreiten‘ und ‚aufbewahren‘“ (Fischer/Becker-Fischer 2013, 28). Dies entspricht auch einer biographietheoretischen Sicht auf das Subjekt, das seine Handlungsorientierung zu erhalten und wiederzuerlangen versucht, wenn eine Situation eintritt, die es gefährdet, verletzt, demütigt und seiner Verletzbarkeit preisgibt. Das Wiedergewinnen einer Handlungsorientierung kann damit verbunden sein, das verletzende, traumatisierende Geschehen zur Sprache zu bringen. Aber der Umkehrschluss, das leidende Subjekt könne die Folgen der Traumatisierung nur durch Verbalisieren außer Kraft setzen, ist unbegründet und unethisch. Dieser bürdet die Verantwortung, das eigene Leiden zu beenden, der oder dem Einzelnen auf, obwohl es auf die Reaktionen anderer, auf Öffentlichkeit und Politik ankommt, um eine Diskursveränderung einzuleiten und damit eine mögliche Besprechbarkeit und Beschreibbarkeit.

Wichtig ist die erhöhte Aufmerksamkeit für unterschiedliche Formen des Andeutens, markierter Auslassungen oder beredten Schweigens, die szenisch nachvollziehbar machen, wie versucht wird, im Erleidensprozess Handlungsorientierung zu gewinnen. So können wir die subjektiven Anstrengungen verstehen, die biographischen, innerfamilialen und transgenerationalen Auswirkungen der belastenden oder traumatischen Situation „aufzuheben“. Ellen Reinke spricht von einem „szenischen Blick“ Sigmund Freuds auf das Arzt-Patienten-Verhältnis (Reinke 2013, 47). Aber auch das symbolische Handeln eines kleinen Kindes, des anderthalbjährigen Enkels von Freud, den er dabei beobachtet, wie er eine Garnrolle aus seinem Bett wirft und sie wieder hereinholt, begleitet von „o-o-o“ (fort) und dann freudigem „da“, versteht dieser als kindliche Inszenierung der wiederholten Situation, dass die Mutter aus dem Zimmer geht und zurückkommt, wann sie will: „[E]s war dabei passiv, wurde vom Erlebnis betroffen und bringt sich nun in eine aktive Rolle, indem es dasselbe […] als Spiel wiederholt“ (Freud 1920, 14). Der Verlusterfahrung wird eine Gestalt gegeben. In Alfred Lorenzers Begriff des „szenischen Verstehens“ erschließt sich die Konstitution von Subjektivität durch sinnlich-symbolische Interaktionsformen, später durch „Wünsche, Sehnsüchte und Phantasien, […] die zu einem großen Teil nie vollends in Sprache eingehen werden“ (Lorenzer/Görlich 2013, 149).

3. Szenen im Fokus der rekonstruktiven Forschung

Um Auswirkungen von Verfolgung, Flucht und Migration zu verstehen, sind Offenheit und Sensibilität der Forscher*innen dafür, was sich in der Interviewsituation entfaltet, notwendig und stellen zugleich eine Herausforderung dar. Für eine ethnographische Haltung der teilnehmenden Beobachtung oder beobachtenden Teilnahme und die (Selbst-)Reflexion ist szenisches Verstehen hilfreich. In Szenen werden unter anderem Positionierungen, Widersprüche und Konflikte aufgezeigt und verhandelt. Filme und Literatur können zu einer Sensibilisierung der Forscher*innen für das Verstehen von Szenen beitragen, gerade auch in Bezug auf politische Dimensionen der Migrationserfahrungen und deren intergenerationale Besprechbarkeit im Verhältnis zu öffentlicher Thematisierung (Bar-On 1999).

Eine rekonstruktive Sozialforschung kann die Erfahrungen geflüchteter Menschen und ihre Erfahrungsreflexion nachvollziehen und diesen Raum geben. Die Voraussetzung dafür auf Seiten der Forscher*innen ist eine erhöhte Bereitschaft, sich über die Arbeitsbündnisse mit ihren Forschungssubjekten – als Forschungspartner*innen – immer wieder im Klaren zu werden: Welches sind unterschiedliche, welches geteilte Interessen in der Forschungssituation und am Forschungsprojekt? Welche Asymmetrien bestehen zwischen den an der Forschungssituation Beteiligten – auf Seiten der Forschungssubjekte sowie zwischen ihnen und den Forscher*innen? Wie werden unterschiedliche Interessen ausgehandelt und inwiefern wird zwischen ihnen vermittelt?

Als eine methodologische Konsequenz der intersektionalen Ungleichheiten zwischen Forschungssubjekten und Forscher*innen sollte die Forschungssituation an die Wünsche oder Bedürfnisse der Forschungssubjekte angepasst werden, beispielsweise in Hinblick darauf, ob es Einzelgespräche gibt oder mehrere Familienmitglieder oder auch andere Personen des sozialen Umfeldes anwesend sind und auf unterschiedliche Weise teilnehmen. In den Interaktionen der Beteiligten lassen sich – zumeist erst während der Analyse – signifikante Szenen erkennen.

4. Die eigene Familiengeschichte und die anderer: eine filmische Szene

Forscher*innen sind in intergenerationalen Forschungssituationen in Familien besonders involviert, weil die eigene Familiengeschichte ebenfalls relevant ist. Gleichzeitig wird die eigene Familiengeschichte nur selten zum Anlass genommen, am Besonderen des Einzelfalls das Allgemeinere zu diskutieren. Die Arbeiten von Marianne Hirsch (1997) und von Eva Hoffmann (1991) sind eindrucksvolle Ausnahmen.[6] Hingegen thematisieren viele Romane die Erinnerung an die eigene Kindheit und verbinden sie mit der Geschichte der Eltern und Großeltern (z. B. Zeniter 2017; Stanišić 2019). Auch in diesen Fällen geht die Suchbewegung von der jüngeren Generation aus, um die Geschichte der Verfolgung, Flucht und Migration der Familie zu verstehen und darüber die Involvierung in kollektive Ereignisse.

Am Beispiel der Überlegungen von Evgenia Gostrer (2019) zu ihrem Knet-Animationsfilm „Kirschknochen“ können wir nachvollziehen, wie „Szenen […] aus Details gestaltet“ werden (Buchholz 2019, 415). Wie sie schreibt, hatte sie ihre Eltern gebeten, ihr die Geschichte ihrer Migration als „Kontingent-Flüchtlinge“ aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland zu erzählen. Die Eltern weigerten sich, standen aber eines Abends vor ihrer Tür, mit den Dokumenten zur Aus- und Einwanderung. Ihr Vater hatte seine Gitarre mitgebracht. An diesem einen Abend erzählten beide Eltern und sie konnte Tonaufnahmen machen. In ihrem Knet-Animationsfilm hören wir den O-Ton ihrer Eltern und sehen einige der Dokumente im Ablauf einer Szene, in der ihre Eltern mit dem Auto eine Tiefgarage verlassen. Dazu schreibt Gostrer:

Durch die Konzentration auf bestimmte Erzählungen/Legenden der Familiengeschichte, werden andere, unangenehme ausgeblendet oder verkürzt. Als Fragende möchte ich zwar etwas erfahren, fürchte mich aber zugleich davor, möchte die Eltern beschützen und für mein Verhalten Anerkennung bekommen. Gleichzeitig versuche ich das Diffuse, das Unausgesprochene an die Oberfläche zu bringen, natürlich aus egoistischen Gründen, aber auch weil ich glaube, dass meine Eltern sonst niemandem ihr Leben in dieser Form erzählen würden. Die gewählte Rahmung durch die Ausparkszene [in der Tiefgarage] ist notwendig, um die Zweierbeziehung zu illustrieren. Die Darstellung zweier Menschen, die einander lieben, und deren Beziehung nicht ausgehandelt, sondern basierend auf gemeinsam durchlebten Jahren und Erfahrungen in bestimmten Situationen ganz ohne Worte funktioniert, war mein Ziel. […] 

Mir schien die Situation in der Parkgarage aus mehreren Gründen aber besonders passend. Ein Grund hierfür ist, dass meine Eltern tatsächlich jedes Mal, und das nun schon seit 40 Jahren, genau auf diese Art und Weise ausparken und einparken, und mein Vater sich niemals ohne meine Mutter ans Steuer setzt. Ein weiterer Grund ist, dass das Ausparken eines Autos, eine Tiefgarage, ein Paar, das die Aufgaben bei einer bestimmten Tätigkeit aufteilt, ein sehr bildhafter Weg für die Darstellung einer wechselseitigen Beziehung zweier Menschen ist. Diese zwei Menschen sind das Grundgerüst – in diesem Film und stellvertretend für viele biografische migrantische Erzählungen. […] Und schließlich verbergen sich für mich in der Tiefgarage und im Akt des Ausparkens und des Nachoben-Kommens sehr viele Metaphern und poetische Bilder: die Tiefgaragentür, die ganz langsam aufgeht und einen unversperrten Blick entfaltet, eine rote Säule, die immer und immer wieder umschifft werden muss, um heil weiter zu kommen, andere Autos, die im Weg sind und möglichst unbeschadet bleiben müssen, die Projektion in Rückspiegeln, das Mitgehen des anderen Menschen beim Hin und Her im Labyrinth, das zwar ganz vertraut zu sein scheint und doch voller Gefahren ist.

Die Transformation als Übergangsform von einer Sequenz in die andere ist notwendig, um die Fluidität der Erinnerung aber auch der Ereignisse darstellen zu können. Das Unscharfmachen der Fotos war Zufall und Absicht in einem. Die Unschärfe gibt den Fotos einen nichtgreifbaren Eindruck – sie verschwinden schnell und unerwartet, man schafft es gerade noch, etwas zu erkennen. So wie es manchmal mit Erinnerungen ist. Doch damit gleite ich auch auf eine gewisse Weise noch weiter in die Unsichtbarkeit, die ich zu bekämpfen versuche. Ich versuche dem Wunsch meiner Eltern nach Unsichtbarkeit zu entsprechen und gleichzeitig ihre Geschichte und Erzählung und somit die Erzählung von vielen anderen Eltern sichtbar zu machen. 

Die gewählte Technik ist eine Kraftinvestition, ein Bemühen alles zusammen zu bringen, was zusammen gehört – die gelebte Wirklichkeit, die widersprüchlichen Erinnerungen mehrerer Familienmitglieder, zeithistorische Dokumente. Die Kraftinvestition ist notwendig – ganz konkret und im übertragenen Sinne. Konkret, um die unterschiedlichen Materialitäten zusammen zu halten, im übertragenen Sinne, um etwas zu verstehen und verständlich zu machen.

Die sehr unterschiedlichen filmischen Annäherungen von Gostrer und Zaree an die eigene Familiengeschichte als Teil einer kollektiven Geschichte sensibilisieren uns für Szenen, in denen Interviewpartner*innen nach ihrer Flucht, nach belastenden Migrationserfahrungen (noch) keine Worte finden und das mit Gesten, Handgriffen und der Handhabung von Objekten, die eine Praxis enthalten, uns zu verstehen geben (vgl. auch Schnitzer in diesem Themenheft).

5. Drei Generationen in jüdischen displaced-persons-Familien: Szenen in der Forschungssituation

Ende der 1980er- bis Mitte der 1990er-Jahre bat ich Frauen der älteren, mittleren und jüngeren Generation, mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen, gerade auch in Hinblick auf Kontinuitäten und Veränderungen zwischen den Generationen in ihren Familien. Meine Untersuchung galt den weiblichen Familienmitgliedern, da Traditionsvermittlung in der häuslichen Sphäre seit der Moderne als Aufgabe der Frauen gesehen wird. Die Erfahrungsdarstellungen der älteren Frauen gingen zurück bis in ihre Kindheit und Jugend in unterschiedlichen jüdischen Herkunftskontexten in Polen in den 1920er- bis 1930er-Jahren und auf ihre Verfolgung während der Schoa. Sie kamen als jüdische displaced persons in die westeuropäischen Nachkriegsgemeinden von Antwerpen, Amsterdam und Frankfurt am Main. Dort wurden die Frauen der mittleren Generation in den späten 1940er- bzw. 1950er-Jahren und deren Töchter in den 1970er- bis 1980er-Jahren geboren.[7]

Ich ging der Frage nach, wie und auf welche Weise sich die Verfolgung in der Schoa, die Zerstörung der jüdischen Lebenswelten in Polen und das Leben mit nicht realisierten Auswanderungsplänen auf die älteren und jüngeren Generationen auswirkten und wie die Familienmitglieder darüber kommunizierten. Vergleichbar zu Zarees Suche nach Antworten musste ich damals erst herausfinden, wie ich fragen konnte, da viele Erinnerungen zu belastend waren, um sie erzählen zu können. Ich fragte also nach der Vermittlung und Veränderung von Traditionen in der Familie. Es stellte sich heraus, dass in vielen Familien die jüngere Generation eine religiöse Orientierung neu initiierte und intensivierte, während die Großeltern und Eltern sich nach der Schoa davon entfernt hatten. Es stellte sich auch heraus, dass die Großeltern und in einigen Fällen auch die Eltern nicht über ihre eigene Verfolgung in der Schoa mit der jüngeren Generation sprachen, da dies mit einer zukunftsorientierten Familienatmosphäre nicht vereinbar schien (ganz ähnlich wie in „Born in Evin“). Die nicht realisierte Auswanderung der älteren Generation nach 1945 blieb als Projekt der jeweils jüngeren Generation bestehen.

Die Bedeutung und Ausübung der Religion war nach dem Krieg noch lange untrennbar mit der unermesslichen Trauer der Eltern verknüpft. Jede rituelle Handlung, jeder Feiertag erinnerte an das Zuhause, das ihnen genommen, und die vielen Angehörigen, die ermordet worden waren. So unausgesprochen die Geschichten der Verfolgung blieben, die der eigenen und die der Familienangehörigen, so ausdrucksvoll übertrugen sich Verzweiflung und Trauer in die Gesten der von zu Hause vertrauten Traditionspraxis der älteren Generation. Ihre in der Nachkriegszeit geborenen Töchter entfernten sich in vielen Fällen von der Traditionspraxis. Mit Blick auf ihre eigenen Kinder lag ihnen ab den 1980er-Jahren dann aber an einer Weiterführung einer Zugehörigkeit zum Judentum in einem mehrheitlich nichtjüdischen Umfeld.

Ende der 1980er-Jahre setzte eine Dynamik der Re-Traditionalisierung ein – wie auch in globaler Hinsicht in unterschiedlichen Religionen –, in den von mir untersuchten Gemeinden zunächst und hauptsächlich in Antwerpen, durch eine Intensivierung religiösen Schulunterrichts und religiösen Praktizierens sowie einer strikteren Auslegung der Geschlechtertrennung. Aber auch in Amsterdam und in Frankfurt führte sie in den Familien der jüdischen displaced persons zu intergenerationellen Auseinandersetzungen und Aushandlungsprozessen. Die Bedeutung von Religion als Wissen und Praxis veränderte sich durch den Schulunterricht, sie sollte nicht mehr an der Elterngeneration orientiert und auch nicht durch die persönliche Erinnerung an die Verfolgung in der Schoa geprägt sein, sondern in Hinblick auf ein konstruktives und zukunftsorientiertes Familienleben neugestaltet werden.

Für die mittlere Generation, also die Kinder der displaced persons, war die Erfahrung des religiösen Ritus – praktiziert, aber nicht erklärt – auf unbestimmte, nachdrückliche Weise mit der Verfolgung ihrer Eltern in der Schoa verknüpft, die immer im Raum stand, auch wenn nur in Andeutungen darüber gesprochen wurde. Eine ältere Frau, die die Schoa überlebt hatte, da sie sich als Christin ausgegeben hatte, war verzweifelt darüber, dass sie nur einzelne Familienmitglieder hatte retten können und nicht alle. Im Interview sagte sie, sie und ihr Mann hätten nicht über die Verfolgung gesprochen, um die Kinder zu schonen. Ihre um 1950 in Frankfurt geborene Tochter, die beim Interview mit ihrer Mutter dabei sein wollte, kommentierte: „Ihr habt immer darüber gesprochen“ (Inowlocki 2013a).

Wie in dieser Familie wurde meine Fragestellung auch in vielen anderen Familien zumeist von den Frauen der mittleren Generation, der auch ich angehöre, aufgegriffen. Sie entschieden, gemeinsam mit ihren Müttern sowie auch gemeinsam mit ihren Töchtern interviewt zu werden und übernahmen in einigen Fällen die Rolle der Interviewerinnen, um danach zu fragen, was sie schon immer voneinander wissen wollten oder wofür sie Bestätigung suchten. In diesen Interviewsituationen kam es zu dichten Szenen, die auf exemplarische und hervorgehobene Weise gegenseitige Beziehungen, relevante und strittige Themen, Paradoxien und Widersprüche zum Ausdruck brachten. Als Interviewerin war ich auf unterschiedliche Weise involviert. Bei der Analyse meiner Interviews haben mich diese Szenen besonders beschäftigt. Wenn ich heute, lange nach der Durchführung der Interviews Anfang der 1990er-Jahre, meine damaligen ethnographischen Protokolle zu den Interviewsituationen lese, verstehe ich einige der Szenen anders oder sehe Aspekte darin, die ich heute auf andere Weise interpretieren würde. Es wird deutlich, dass Szenen in Interviewsituationen einen Bedeutungsüberschuss beinhalten, der noch lange in uns weiterarbeitet

6. Wie soll erinnert werden: zwischen den Generationen einer Familie in Amsterdam

So denke ich immer noch über Interview-Situationen in einer Familie in Amsterdam nach. Frau Neumann und ihr Mann engagierten sich für eine orthodoxe jüdische Schule, die ihre siebzehn und fünfzehn Jahre alten Töchter, Daphne und Nurith, besuchten. Die Töchter erzählten mir im Interview, dass sie in ihren Mädchenklassen von Lehrern, die Jungenklassen aber nicht von Lehrerinnen unterrichtet werden könnten. Als ich nachfragte, wieso das so sei, riefen sie ihre Mutter zum Interview dazu. Eine relativ Außenstehende wie ich würde gerade das Selbstverständliche nicht verstehen können, weil ihr offensichtlich die Grundlagen, vielleicht auch die Bereitschaft dafür fehlten. Mein Nicht-Verstehen hing in der Tat damit zusammen, dass ich es erklärungsbedürftig fand, wie sich die Geschlechterverhältnisse und insbesondere auch die Geschlechtertrennung in der neuen Orthodoxie entwickelt hatten. Die Schwestern wären durchaus in der Lage gewesen, auf meine Frage zu antworten, wie sich später zeigte. Ich nehme an, dass sie auf meine Fremdheit reagierten und ihre Mutter als Vermittlerin dazu riefen.

Frau Neumann setzte sich dazu und kam selbst ins Nachdenken, wie sie die Unterschiede im Geschlechterverhältnis erklären könne. Sie und ihre Töchter begründeten die Unterschiede zunächst damit, dass Mädchen schon damit zurecht kämen, falls ein nichtjüdischer Lehrer sich einmal nicht an den Dresscode halten würde; männliche Kleidung entspräche ja generell dem orthodoxen Dresscode und der Lehrer würde sicher nicht in kurzen Hosen kommen – eine Vorstellung, die die Schwestern witzig fanden, und sie bestätigten, dass das für sie kein Problem wäre. Erst recht wäre es kein Problem, falls eine nichtjüdische Lehrerin in einer ärmellosen oder durchsichtigen Bluse sie unterrichten würde oder im kurzen Rock – die Jungen hingegen würde das irritieren.

Frau Neumann betonte dann die Bedeutung des Verhaltens von Mädchen: Sie sollten keineswegs auffallen, sagte sie in sehr bestimmtem Ton, sich nicht benehmen „wie die Straßenjungen“. Die ältere Schwester erklärte daraufhin die spezifischen Verhaltenserwartungen an Mädchen mit dem Begriff „Tsniut“, also mit der normativen Erwartung an sittsames, zurückhaltendes, bescheidenes Verhalten. Auf meine Nachfrage nach dem Begriff wandte sich Frau Neumann an mich und kommentierte: „Da wird sehr viel den Kindern darüber eh, – gebrainwashed.“ Von dieser plötzlichen Wendung war ich verblüfft und lachte auf. Auch Frau Neumann lachte und wurde von ihrer älteren Tochter gebeten, „nicht so zu übertreiben“ – mit anderen Worten, sich an „Tsniut“, an Zurückhaltung, zu orientieren.

In dieser Szene habe ich Anteil daran, dass ganz unterschiedliche Begründungen dafür gegeben werden, was in der Familie von Frau Neumann von ebenso selbstverständlicher wie prinzipieller Bedeutung ist, nämlich die Regeln einer Geschlechtertrennung als Grundlage einer orthodoxen Lebensführung. Während ich dachte, dass ich mich damit einigermaßen auskenne, mussten die Erklärungen für mich ausbuchstabiert werden; sie kurz zu benennen, reichte nicht aus. Als relative Außenseiterin kam mir die ethnographische Rolle zu, Beschreibungen, Erklärungen, Überlegungen und Argumentationen hervorzurufen.

In meiner Analyse dieser Szene bezog sich mein Befremden schließlich weniger auf die Geschlechtertrennung als auf die Bezeichnung „gebrainwashed“ von Frau Neumann für den orthodoxen Schulunterricht ihrer Kinder, für den sie sich doch von Anfang an engagiert hatte. Wie konnte sie ihre Töchter, oder zumindest deren intensives Lernen in der Ganztagsschule mit regulären Gymnasialfächern plus Religions- und hebräischem Sprachunterricht, mir gegenüber so herabsetzen? Wie war ich dazu gekommen, wie hatte sie mich dazu gebracht, laut aufzulachen, was mir als Insensibilität gegenüber den Töchtern erschien?

Tatsächlich hatte sie mir in unserem ersten Gespräch, das vor dem Interview mit ihren Töchtern stattgefunden hatte, über das Verhältnis zwischen Schule und Zuhause erzählt, dass die Schule den Rahmen disziplinierten Lernens bildete und sie selbst in Bezug dazu einen modifizierenden Einfluss ausüben könne. Das hätte für mich ein Schlüssel zum Verstehen der Szene mit ihren Töchtern sein können. Ich hatte es aber nicht als wichtigen Hinweis verstanden, weil ich in diesem ersten Gespräch mit ihr von einem anderen Kommentar irritiert war. Sie erzählte mir, dass ihre Eltern, Schwiegereltern und ihr Mann als Kind im Konzentrationslager gewesen waren, sie aber „Gott sei Dank“ in der Familie darüber nicht sprechen würden. Ginge es ihrem Mann schlecht, würde er sich eine Weile allein in ein Zimmer zurückziehen. Die Kinder sollten in der Schule über die NS-Verfolgung und die Schoa lernen, sich als allgemeines Wissen damit auseinandersetzen, nicht jedoch mit den persönlichen Leidenserfahrungen ihres Vaters und ihrer Großeltern.

Damit widersprach Frau Neumann dem, was ich in meiner Forschung herauszufinden hoffte: Dass es eine Möglichkeit geben könne, über die eigenen Verfolgungserfahrungen in der Familie mit den Kindern zu sprechen. Das erschien mir eine Bedingung dafür, die Auswirkungen der Leidenserfahrungen und Traumatisierung nicht auf die Folgegenerationen zu übertragen. In einem kurz darauf stattfindenden Interpretations-Workshop schilderte ich dieses Gespräch und äußerte dazu mein Unverständnis, wie Frau Neumann so etwas sagen konnte, mit einer Fehlleistung: „Meine Interviewpartnerin versteht mich nicht“. Gerne hätte ich Erkenntnisse transgenerationaler psychoanalytischer Forschung – ich arbeitete zu der Zeit in einer entsprechenden Forschungsgruppe – insofern vorgefunden, dass sich meine Interviewpartnerinnen mit mir einig gewesen wären, dass das Sprechen über die Verfolgung der älteren Generationen in der Familie schwierig aber notwendig sei.

Frau Neumann hatte mir zu verstehen gegeben, dass wir uns beide mit den Auswirkungen der NS-Verfolgung beschäftigten, aber eben auf unterschiedliche Art und Weise. Befasste ich mich mit der Thematisierung, deren Schwierigkeit oder Unmöglichkeit in der Familie und zwischen den Generationen, so setzte Frau Neumann einen Rahmen, innerhalb dessen es keine Thematisierung der Verfolgung geben sollte. Der Rahmen selbst stand nicht zur Debatte, wie sie mit ihrem „Gott sei Dank“ resümierte. Für sie und ihren Mann bestand die Antwort auf den Abgrund der Schoa in einer strikten Einhaltung der religiösen Gesetze in Verbindung mit einem möglichst guten Leben, das sie ihren Kindern ermöglichen wollten. Dazu gehörte neben der intensiven Schulbildung die Förderung vielseitiger Interessen und Sportaktivitäten, die in einer engen Auslegung nicht zu einem orthodox orientierten Leben zu passen scheinen. Die außergewöhnliche Lösung, die Frau und Herr Neumann für das existenzielle Problem des Lebens nach der Verfolgung in der Schoa gefunden hatten, bestand darin, im vorgegebenen Rahmen einer orthodoxen Lebensführung ein so erfülltes Leben wie möglich zu führen. Dafür kam der Schule die Aufgabe der umfangreichen Wissensvermittlung zu, sodass Frau Neumann zur Schule eine eigenständige, geradezu kritische Haltung einnehmen konnte.

Damit gab sie ihren Töchtern zu verstehen, dass sie ambivalent eingestellt war gegenüber dieser neuen Form der Wissensvermittlung im Schulunterricht und nicht, wie das noch in ihrer eigenen Kindheit der Fall gewesen war, in der häuslichen Sphäre. Der orthodoxe Schulunterricht für Mädchen entspricht nicht der Traditionsvermittlung, die ohne Erklärungen auskommt, wie Frau Neumann es aus ihrem Elternhaus kannte. Ihre ambivalente Haltung gegenüber dem von ihr als wünschenswert und notwendig erachteten religiösen Schulunterricht entspringt der aus Sicht von Frau Neumann bitteren Erkenntnis, dass es nach der Schoa und der Zerstörung der osteuropäischen jüdischen Lebenswelten keine intergenerationelle Vermittlung der traditionellen Praxis und des traditionellen Wissen mehr gibt, die beides aktiv bewahren und weiterführen könnte. Mit der orthodoxen Schule soll dem Verlust entgegengesteuert und die Religiosität unbedingt verstärkt werden, um eine konstruktive Kontinuität zu gewährleisten. Die persönliche Leidenserfahrung der älteren Generation soll kein Thema in der Familie sein. Das Gespräch mit den beiden Schwestern und ihrer Mutter endete damit, dass Frau Neumann sagte, die Kinder sollten sich nicht so viel mit der Schoa beschäftigen. Die ältere Schwester widersprach dem ruhig und sagte, sie habe es als Thema ihrer Abschlussarbeit in der Schule gewählt. In der Interaktion kam es aus meiner Perspektive also zu jeweils unerwarteten Wendungen, indem die beiden Töchter und ihre Mutter einander widersprachen, während ich eher erwartet hatte, dass sie sich einig sein würden.

Die Erkenntnisinteressen meiner – ungefähr gleichaltrigen – Interviewpartnerinnen der mittleren Generation sind mir beim re-reading meiner ethnographischen Protokolle zu den Interviewsituationen viele Jahre später deutlich geworden: als Interesse einer Klärung und Erklärung des eigenen biographischen Projekts im Vergleich mit signifikanten Anderen und mit Peers, zu denen auch die Interviewerin gehörte. Trotz Altersunterschieden waren wir gleichermaßen Mütter von Jugendlichen kurz vor oder in der Adoleszenz. Damit stellte sich für uns die Frage nach unserer Lebensführung und den Veränderungen, die wir für die jüngere Generation erwarteten. Außerdem fiel mir beim Lesen auf, dass ich vor allem über die thematischen Aspekte meiner Forschung geschrieben hatte, die ich zunächst befremdlich und unerklärlich fand (wie beispielsweise, dass die eigene stärkere Zuwendung oder die der Töchter zu einer orthodoxen Lebensführung paradoxerweise als „Brainwash“ oder Indoktrination bezeichnet wurden).[8]

Hingegen schrieb ich nicht über Aspekte, die aus meiner Sicht gemeinsame Interessen und Fragen thematisierten. Die Arbeiten von Kathy Davis (2017), Ruth Behar (1996) und Ina Schaum (2020) zum Begriff des „vulnerable writing“ als Beschreiben von Szenen, an denen wir teilnehmen, die (auch) durch uns hervorgerufen werden und zustande gekommen sind, ermutigen dazu. Die Fragen gehen weiter: Wie finden wir eine angemessene Sprache und Erzählposition zu der Geschichte, die wir nachvollziehbar und begreifbar machen wollen? Können wir in der Soziologie und insbesondere der Biographieforschung davon lernen, wie in Romanen und in Filmen zwischen Autor*in und Protagonist*in unterschieden und vermittelt wird?[9] Wie verhalten sich beispielsweise Dichte und Komplexität der Darstellung im Roman und Film zur Fokussierung auf Einzelphänomene in der soziologischen Analyse? Inwiefern kann eine Verknüpfung mit Filmen und Romanen eine intersektionale Analyse fördern?

7. Zusammenfassende und weiterführende Überlegungen

„Mikro-analytische Details konstituieren die prozessuale Ebene eines Gesprächs. Ihre Konstellierung zu einer ,Szene‘ bildet eine mittlere Ebene, die sich geschulter Wahrnehmung öffnet“ (Buchholz 2019, 419). Ein wiederkehrendes Element – oder mikroanalytisches Detail – findet sich in Interviewsituationen in der Familie Neumann sowie auch anderer interviewter Familien dann, wenn einzelne Familienmitglieder sich gegen einen Anspruch auf Konsens richten. Thematisch geht es dabei um das Erinnern der Verfolgungserfahrungen und um Fragen der Lebensführung. Der Widerspruch verweist auf den nicht abschließbaren Prozess der Auseinandersetzung mit diesen Themen. Szenisch wird gleichzeitig zu verstehen gegeben, dass die Dynamik der lebhaften Interaktion einer intergenerationalen Auseinandersetzung entspricht, die nicht im Rückblick auf das Geschehene erstarrt. Mit Bezug auf den Film „Born in Evin“ würde ich zu diesen Szenen in Interviewsituationen in der Familie Neumann hervorheben, dass es in ganz unterschiedlichen Kontexten der Verfolgung und Traumatisierung keine direkte Entsprechung zwischen den Fragen der jüngeren Generation und den Antworten der älteren geben kann. Die Möglichkeiten, ein gutes Leben mit oder ohne religiöse Orientierung zu führen, sind nicht vereinbar mit der expliziten Beschreibung der eigenen Verfolgungserfahrungen. Das heißt aber keinesfalls, dass die Erfahrungen kein Thema sein sollen: Im Gegenteil, sie sollen in Schulen, in Politik und in der Öffentlichkeit thematisiert werden. Die öffentliche Thematisierung ist deshalb unbedingt wichtig, weil sie die intergenerationale Erfahrungsvermittlung entlastet. Mit der Bedeutung von Öffentlichkeit in Bezug auf das Verschweigen von Täterschaft beschäftigen sich auch die eindrucksvollen Arbeiten von Alexandra Senfft (2007, 2016).

Wir finden hier eine Parallele zu Zarees Film „Born in Evin“, in dem sie mit Psychotherapeutinnen, politischen Aktivistinnen und deren Töchtern spricht, um die Verfolgung durch das Khomeini-Regime und dessen Auswirkungen als gemeinsame, kollektive Geschichte zu verstehen. Dieser Form der Spurensuche und der politischen Dimension der Verfolgungs- und Fluchtmigration sollte auch in der Forschung und Lehre ein zentraler Ort zukommen.

Filme und Literatur behandeln Themen intergenerationaler Flucht- und Migrationsforschung in einer Dichte, Komplexität und Annäherung an Erfahrungswirklichkeiten, die zu explorativer, rekonstruktiver Forschung ermutigen und inspirieren. Um Lebenssituationen mit ihren vielfachen Herausforderungen und Verlusterfahrungen nachzuvollziehen, in denen sich Menschen nach Verfolgung und Fluchtmigration sowie unter oftmals prekären Bedingungen der Schutzsuche befinden, erscheint eine biographietheoretische Perspektive angemessen, weil sie die subjektiven Perspektiven auf situativ möglichst offene Weise zum Ausdruck kommen lässt. Es stellen sich mindestens die folgenden Herausforderungen, wenn wir Flucht- und Migrationserfahrungen in Familien untersuchen:

  • Unsere Erwartungen, die gerade auch mit der eigenen biographischen Involvierung in unsere Familiengeschichte zu tun haben, zu erkennen; sie, soweit das möglich ist, zu reflektieren und uns bewusst zu machen.
  • Vieles wird uns fragmentarisch mitgeteilt, in Andeutungen, markierten Auslassungen, beredtem Schweigen – in der eigenen Familie und in unserer Forschung.[10]
  • Uns auf das Besondere einzulassen, das wir in einer Forschungssituation finden werden – im besten Fall etwas ganz anderes, als wir erwartet haben.
  • Uns der Prozesshaftigkeit der Interaktionen, Erinnerungen und Geschichte der Familienmitglieder in unserer Beobachtung, Beschreibung und Analyse anzunähern.
  • Die kollektive und politische Dimension der Erfahrungen unserer Interviewpartner*innen zu verstehen und aufzuzeigen.[11]

Flucht- und Migrationserfahrungen bilden in der Biographieforschung ein substantielles Feld, um kritische Perspektiven gegenüber Herrschaftsverhältnissen und dominanten Diskursen über Migration und Migrant*innen zu entwickeln. Gleichzeitig ist dies auch ein Bereich, in dem Literatur auf der Basis – zumeist eigener – biographischer Erfahrung der soziologischen, auch biographieanalytischen Forschung vorausgeht.[12] Voraus geht sie vor allem in der gesellschaftlichen Rezeption und Wahrnehmungsveränderung, da sie auf ein viel breiteres Publikum trifft als soziologische Artikel und Bücher. Aber auch bestimmte Begrenzungen soziologischen Schreibens können die Nachvollziehbarkeit subjektiver Erfahrungsperspektiven einschränken, insbesondere die Legitimation in akademischen Arenen. So auch nicht-reflektierte Erwartungen, die mit der eigenen biographischen Involvierung in Familiengeschichte zu tun haben, ob nun Flucht, Migration oder lange Anwesenheit vor Ort der Fall ist.

 

Literatur

Apitzsch, Ursula (2018): Biographieforschung und kritische Theorie. In: Lutz, Helma/Schiebel, Martina/Tuider, Elisabeth (Hrsg.): Handbuch Biographieforschung. Wiesbaden: Springer VS, 11–21.

Bar-On, Dan (1999): The Indescribable and the Undiscussable: Reconstructing Human Discourse after Trauma. Budapest: Central University Press.

Behar, Ruth (1996): The Vulnerable Observer: Anthropology That Breaks Your Heart. Boston: Beacon Press.

Buchholz, Michael B. (2019): Szenisches Verstehen und Konversationsanalyse. In: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse, 73 (06), 414–441.

Cohen, Marcel (2017): Raum der Erinnerung. Tatsachen. Berlin: Edition Tiamat.

Davis, Kathy (2017): Auto/Biography – Bringing in the ‘I’. In: Lutz, Helma/Schiebel, Martina/Tuider, Elisabeth (Hrsg.): Handbuch Biographieforschung. Wiesbaden: Springer VS, 633–646.

Fischer, Gottfried und Monika Becker-Fischer (2013): Zwischen Erlebnis und Geschehnis. Zum Traumabegriff bei Alfred Lorenzer. In: Reinke, Ellen (Hrsg.) (2013): Alfred Lorenzer. Zur Aktualität seines interdisziplinären Ansatzes. Gießen: Psychosozial-Verlag, 23–36.

Freud, Sigmund (1987): Jenseits des Lustprinzips. 9. Auflage, Frankfurt am Main: Fischer.

Gostrer, Evgenia (2019): „Kirschknochen“ (Ausschnitte). Knet-Animationsfilm, work in progress/Meisterschülerinnen-Abschlussarbeit „Migration und fluides Familiengedächtnis: Möglichkeiten/Grenzen der Darstellung in der Knetanimation“. Unveröffentlicht.

Grossman, Atina (2012): Juden, Deutsche, Alliierte. Begegnungen im besetzten Deutschland. Göttingen: Wallstein.

Grünberg, Kurt (2016): „Szenisches Erinnern der Shoah: Über transgenerationale Tradierungen extremen Traumas in einer Überlebenden-Familie“. In: Chernivsky, Marina/Scheuring, Jana/Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e. V. (Hrsg.): Gefühlserbschaften im Umbruch. Perspektiven, Kontroversen, Gegenwartsfragen, 42–63. Online verfügbar unter: https://www.vielfalt-mediathek.de/mediathek/6498/gef-hlserbschaften-im-umbruch.html (15.10.2020).

Hirsch, Marianne (1997): Family Frames: Photography, Narrative and Postmemory. Cambridge: Harvard University Press.

Hoffman, Eva (1991): Lost in Translation: A Life in a New Language. London: Minerva. 

Inowlocki, Lena (2000): Doing Being Jewish: Constitution of Normality in Families of Jewish Displaced Persons in Germany. In: Breckner, Roswitha/Kalekin-Fishman, Devorah/Miethe, Ingrid (Hrsg.): Biographies and the Division of Europe. Experience, Action and Change on the Eastern Side. Opladen: Leske+Budrich, 159–178.

Inowlocki, Lena (2006): Stretching It so It Fits Real Well. Biographical, Gendered, and Intergenerational Dimensions of Turning to Religion. In: Geyer, Michael/Hölscher, Lucian (Hrsg.): Die Gegenwart Gottes in der modernen Gesellschaft – Transzendenz und religiöse Vergemeinschaftung in Deutschland. Göttingen: Wallstein, 467–481.

Inowlocki, Lena (2013a): Collective Trajectory and Generational Work in Families of Jewish Displaced Persons: Epistemological Processes in the Research Situation. In: Seeberg, Marie Louise/Levin, Irene/Lenz, Claudia (Hrsg.): Holocaust as Active Memory – The Past in the Present. Farnham: Ashgate Academic, 29–43.

Inowlocki, Lena (2013b): Narrationsanalyse eines Interviews mit einem Ehepaar. In: Bereswill Mechthild/Liebsch, Katharina (Hrsg.): Geschlecht (re)konstruieren: zur methodologischen und methodischen Produktivität der Frauen- und Geschlechterforschung. Münster: Westfälisches Dampfboot, 98–114.

Kingston, Maxine Hong (1976): The Woman Warrior. Memoirs of a Girlhood Among Ghosts. New York: Knopf.

Kuster, Brigitta/Mabouna, Moise Merlin (Regie) (2006): 2006 – 1892 = 114 ans (DVD). Deutschland.

Kuster, Brigitta (2016): Choix d’un passé. Transnationale Vergegenwärtigungen kolonialer Hinterlassenschaften. Wien/Linz: transversal texts.

Lepenies, Wolf (1988): Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch.

Lepenies, Wolf (2017): „So ein richtiger Soziologe bin ich ja nicht…“. Ein Gespräch mit Sina Farzin. In: Soziologie, 46 (4), 377–388.

Lorenzer, Alfred/Görlich, Bernard (2013): Lebensgeschichte und Persönlichkeitsentwicklung im Spannungsfeld von Sinnlichkeit und Bewusstsein. In: Reinke, Ellen (Hrsg.): Alfred Lorenzer. Zur Aktualität seines interdisziplinären Ansatzes. Gießen: Psychosozial-Verlag, 139–164.

Reinke, Ellen (Hrsg.) (2013): Alfred Lorenzer. Zur Aktualität seines interdisziplinären Ansatzes. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Schaum, Ina (2020): Being Jewish (and) in Love – Two and a Half Stories about Jews, Germans and Love. Leipzig: Hentrich und Hentrich Verlag.

Schütze, Fritz (2016): Verlaufskurven des Erleidens als Forschungsgegenstand in der interpretativen Soziologie. In: Schütze, Fritz: Sozialwissenschaftliche Prozessanalyse: Grundlagen der qualitativen Sozialforschung, herausgegeben von Werner Fiedler und Heinz-Herrmann Krüger. Opladen: Verlag Barbara Budrich, 117–149.

Senfft, Alexandra (2007): Schweigen tut weh: eine deutsche Familiengeschichte. Berlin: Claassen.

Senfft, Alexandra (2016): Der lange Schatten der Täter. Nachkommen stellen sich ihrer NS-Familiengeschichte. München: Piper.

Stanišić, Saša (2019): Herkunft. München: Luchterhand.

Strauss, Anselm L./Fagerhaugh, Shizuko/Suczek, Barbara/Wiener, Carolyn (1985): Social Organization of Medical Work. Chicago/London: University of Chicago Press.

Waterston, Alissa/Rylko-Bauer, Barbara (2007): Out of the Shadows of History and Memory: Personal Family Narratives as Intimate Ethnography. In: McLean, Athena/Leibing, Annette: The Shadow Side of Fieldwork. Exploring the Blurred Borders between Ethnography and Life. Hoboken: Blackwell Publishing, 31–55.

Wolf, Michael (2014): Szene, szenisches Verstehen. In: Mertens, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. 4., überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart: W. Kohlhammer, 934–938.

Zeniter, Alice (2017): L’art de perdre. Paris: Éditions Flammarion.


 

 


[1] Dieser Beitrag geht zurück auf meinen Vortrag auf der Internationalen Fachtagung „Migration. Erinnern. Praktiken des Erzählens und Erinnerns in der Migrationsgesellschaft“ am 24.–25. Oktober 2019 an der Universität Zürich. Ich danke den Organisatorinnen Anna Schnitzer und Ellen Höhne für die sehr spannende Veranstaltung. Den Peer-Reviewer*innen dieses Beitrags möchte ich für ihre Kommentare und Fragen zu einer früheren Version danken. Den Studierenden in meinem online durchgeführten MA-Seminar „Erfahrungsdarstellungen von Verfolgung, Migration, gesellschaftlichen Umbrüchen in rekonstruktiver Forschung, Filmen und Romanen“ im Sommersemester 2020 am Institut für Soziologie der Goethe-Universität Frankfurt danke ich für ihre Beiträge und weiterführenden Fragen. Danken möchte ich auch Maryam Zaree, Marcel Cohen, Alexandra Senfft und Ina Schaum, die sich an der online-Seminardiskussion zu ihren Arbeiten beteiligt haben.

[2] Das zeigen die schriftlichen und mündlichen Beiträge der Seminarteilnehmer*innen auf eindrucksvolle Weise. Während der Corona-bedingten interaktionsarmen Kommunikation der Online-Lehre im Sommersemester 2020 kam der persönlichen Auseinandersetzung mit diesem Film für die Teilnehmer*innen des MA-Seminars „Erfahrungsdarstellungen von Verfolgung, Migration, gesellschaftlichen Umbrüchen in rekonstruktiver Forschung, Filmen und Romanen“ (am Institut für Soziologie der Goethe-Universität Frankfurt) eine besondere Bedeutung zu, vor allem auch deshalb, weil Maryam Zaree von ihrer Arbeit am Film erzählte und Eindrücke und Fragen mit Gruppen Studierender besprach.

[3] In ihrem Film bezieht sich Maryam Zaree auch auf Fragestellungen und Konzepte der Forschung, die ihr Stiefvater, der Psychoanalytiker Kurt Grünberg, als „szenische Erinnerung“ der Verfolgung in der Schoa untersuchte, die das Erlittene, das nicht zur Sprache gebracht werden kann, durch die symbolische Interaktion in dichten Szenen vermittelt versteht (Grünberg 2016). 

[4] In einem späteren Forschungsprojekt zu älteren und jüngeren Generationen in Familien von Arbeitsmigrant*innen war ich dann schon nicht mehr überrascht, als Paare (Ehepaare oder Eltern und Kinder) gemeinsam interviewt werden wollten (Inowlocki 2013b). 

[5] Die chinesisch-amerikanische Schriftstellerin Maxine Hong Kingston beschreibt in ihrem autobiographischen Roman „The Woman Warrior“ (1976), wie ihre in China aufgewachsene Mutter die einzelnen Zimmer des Hauses in Los Angeles mit bestimmten Gesten, Verrichtungen und Formeln spirituell reinigt. Sie selbst steht als kulturelle Analphabetin daneben; ihre Mutter habe ihr nie etwas erklärt, was wichtig war. Es ließe sich sagen, dass ihre Mutter die symbolischen Handlungen, die im Einwanderungsland keinen Sinn ergeben und erklärt werden müssten, als Gebrauchswissen fortführt; durch Erklärungen würden sie aber gerade ihren Sinn als Gebrauchswissen verlieren, das ja durch die dazu gehörenden Handlungen anschaulich gemacht und durch weitere Praxis selbstverständlich wird.

[6] Noch seltener scheint es zu sein, dass Interviews mit den eigenen Eltern geführt und analysiert werden. Die Anthropologinnen Alisse Waterston und Barbara Rylko-Bauer interviewten in ihrer „intimen Ethnographie“ jeweils einen Elternteil: Waterston ihren jüdisch-polnischen Vater, der vor der Schoa nach Argentinien ausgewandert war, und Rylko-Bauer ihre christlich-polnische Mutter, die in Auschwitz inhaftiert war und als Ärztin mit einem jüdischen Arzt und einer jüdischen Krankenschwester zusammen arbeitete. Später emigrierte sie in die USA. Waterstons Vater emigrierte vor dem Holocaust nach Kuba, dann in die USA und nach Puerto Rico. Beide Forscherinnen konnten in diesem gemeinsamen Projekt die komplexe Beziehung, Distanz und Nähe zu ihren Eltern regulieren, indem sie diese fortlaufend miteinander reflektierten (Waterston/Rylko-Bauer 2007).

[7] Zwischen 1945 und 1948 befanden sich in den alliierten Besatzungszonen in Deutschland, Österreich und Italien ungefähr 300.000 jüdische displaced persons (siehe Grossman 2012, 217). Einem Teil von ihnen war es nicht möglich, ihre Auswanderungspläne umzusetzen. Sie wurden Mitglieder jüdischer Nachkriegsgemeinden westeuropäischer Städte.

[8] In einer Reihe von Interviewsituationen bezeichneten Mütter in den von mir interviewten Familien die regelbezogene religiöse Erziehung der Töchter im Schulunterricht mit reichlich Ambivalenz als „Brainwash“ oder „indoktrinieren“ (Inowlocki 2000). Die überspitzte Formulierung weist darauf hin, dass gegenüber einer mehrheitlich nichtjüdischen Umwelt keine andere Wahl bestehe und nach dem Abbruch der Tradierung und der Zerstörung der jüdischen Lebenswelt andere Formen religiöser Erziehung schlichtweg nicht möglich seien. Sie weist auch auf eine eigenständige Haltung gegenüber dieser Notwendigkeit hin. Eine junge Frau aus Antwerpen aus nicht religiösem Elternhaus, Diana, die zuvor auf eine nicht-religiöse jüdische Schule gegangen war, bezeichnete sogar den von ihr selbst gewünschten intensiven orthodoxen Unterricht als „Brainwash“. Wie in vielen DP-Familien wollten auch ihre Großeltern, denen sie sehr nahestand, ihr nicht erzählen, was sie durchlitten hatten. Um aber zumindest annähernd mehr darüber zu erfahren, nahm sie während einer Israelreise an einer Gruppendiskussion teil, in der Überlebende der Schoa von ihren Erfahrungen berichteten. Wir können hier von korrigierenden Interventionen sprechen, wenn Diana es einerseits unternimmt, sich einem „Brainwash“ zu unterziehen, um sich im sozialen Prozess der stärkeren Bedeutung von Religionspraxis und -wissen in Antwerpen weiterhin persönlich zugehörig fühlen zu können, und andererseits über die innerhalb der Familie nicht mitteilbare Erfahrung der Verfolgung während der Schoa Aufschluss in einer Gesprächsgruppe Überlebender sucht. Beide Vermittlungsinstanzen erscheinen ungewöhnlich im Verhältnis zur „normalen“ intergenerationellen Tradierung; sie werden von Diana in ihrem Orientierungsprozess aber als notwendig angesehen (Inowlocki 2006).

[9] Zaree unterscheidet zwischen ihrer Rolle als Regisseurin und als Protagonistin in ihrem Film. Eine (trotz sehr unterschiedlicher Produktionsbedingungen von Film und Forschung) mögliche Übertragung der Rollenteilung auf die rekonstruktive Forschung könnte das Spannungsfeld veranschaulichen, wie wir zwischen uns als Teilnehmenden in Forschungssituationen und während Analyse und Schreiben hin- und herdenken.

[10] Marcel Cohen (2017) geht auf sehr berührende und eindrucksvolle Weise der Suche nach Erinnerung sowie der Konfrontation mit befremdendem offiziellen Gedenken nach.

[11] In unserer Seminardiskussion im Sommersemester 2020 zum kurzen Film-Loop von Brigitta Kuster und Moise Merlin Mabouna (2006) wurde deutlich, wie komplex gegenwärtige Fluchtbiographien und postkoloniale Erinnerung miteinander verbunden sind (vgl. auch Kuster 2016).

[12] Zum Verhältnis zwischen Literatur und Soziologie hat Wolf Lepenies (1988) sich kürzlich in der Zeitschrift „Soziologie“ geäußert: „Schauen wir uns doch an, ob in bestimmten Kontexten nicht die Literatur die bessere oder mindestens so gut wie die etablierte Soziologie ist. Das zu fragen hat mir immer Spaß gemacht und macht es bis heute“ (2017, S. 378).