Editorial zu „Kindheit und Adoleszenz in Bewegung – Aufwachsen unter Bedingungen von Flucht*Migration“

Rebecca Mörgen und Anna Schnitzer

Flucht*Migrationsbewegungen junger Menschen sind keine neuen Phänomene. Sie erfahren jedoch in politischen, medialen und wissenschaftlichen Debatten immer dann verstärkte Aufmerksamkeit, wenn sie auf europäische Grenzregimes treffen und westlich-europäische Gesellschaften damit vor vermeintliche Herausforderungen stellen – zuletzt 2015, im sogenannten „langen Sommer der Migration“ (Hess et al. 2016). In öffentlichen und medialen Debatten dominieren in diesem Zusammenhang zum einen Repräsentationen von (un)begleiteten Kindern und Jugendlichen als „besonders vulnerable“, „traumatisierte“ und „besonders hilfsbedürftige“ Personengruppe (kritisch hierzu: Lems et al. 2019). Zum anderen werden junge (männliche) Erwachsene mit Fluchterfahrung als besonders integrationsbedürftige und die Mehrheitsgesellschaft gefährdende Gruppe stereotypisiert, etikettiert und skandalisiert (Scheibelhofer 2019).

Migrationsbewegungen von Kindern und Jugendlichen gehen entsprechend mit spezifischen Zuschreibungs- und Klassifizierungsprozessen sowie Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen einher. Im Umgang damit entwickeln die jungen Menschen subjektive Strategien und Taktiken, um in der Migration und der Migrationsgesellschaft zu „navigieren“ und sich Handlungs- und Möglichkeitsräume zu eröffnen (Otto 2020). Sie bewegen sich dabei in komplexen migrationsgesellschaftlichen Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen, die weniger von Eindeutigkeiten als vielmehr von Ambivalenz und Widersprüchlichkeit geprägt sind.

Vor diesem Hintergrund ist die Situation von Kindern und Jugendlichen mit Flucht*Migrationserfahrung von verschiedenen komplexen Spannungsverhältnissen geprägt. Neben der Migrationsgeschichte sind asyl- und kindesschutzrechtliche Maßnahmen, das Erlernen einer meist neuen Sprache sowie der Umgang mit Integrationsanforderungen und Fremdheitserfahrungen im Aufnahmekontext relevant. Die Auseinandersetzung der Kinder und Jugendlichen mit diesen konstitutiven Momenten ihrer Lebenssituation lässt sich als komplexes Verhältnis von Vulnerabilität und Handlungsfähigkeit konzipieren (siehe auch Mörgen/Rieker in diesem Band). Daneben haben Sozialisationsprozesse in unterschiedlichen Kontexten im Aufnahmeland wie in Empfangszentren des Asylwesens, in Kinder- und Jugendheimen sowie in Pflegefamilien, in Kollektivunterkünften mit der Familie, in Bildungsangeboten wie der frühkindlichen Bildung und Betreuung oder auch Integrationsklassen sowie in verschiedenen Freizeitkontexten jeweils spezifische Bedeutungen für Kinder und Jugendliche mit Migrationserfahrungen. Aber für transnationale Migrationsprojekte sind nicht nur die „Aufnahmekontexte“ als Sozialisations- und Handlungskontexte, sondern auch soziale Beziehungen und Konzepte aus den Herkunftskontexten bedeutsam, sodass Migrationsbewegungen unter Bedingungen der Flucht*Migration als individuelle wie auch intergenerationale und zugleich transnationale Erwartungsprojekte bezeichnet werden können. So unterliegen Kindheit und Adoleszenz historisch, sozial und kulturell spezifischen Verständnissen (siehe Schwittek in diesem Band), die die jeweiligen Entwicklungs- und Handlungsmöglichkeiten je nach Kontext unterschiedlich prägen.

In der vorliegenden Ausgabe „Kindheit und Adoleszenz in Bewegung – Aufwachsen unter Bedingungen von Flucht*Migration“ versammeln sich Beiträge, die aus unterschiedlichen Perspektiven und in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten soziale Praktiken und subjektive Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen im Flucht*Migrationskontext diskutieren.[1] Wie lässt sich das relationale Verhältnis von Verletzlichkeit und Handlungsfähigkeit von Kindern und jungen Menschen unter Bedingungen von Flucht*migration erfassen und darstellen? Inwiefern müssen etablierte (theoretische) Konzepte von Kindheit und Adoleszenz für die Erforschung von transnationalen Lebensführungsweisen weitergedacht werden? Wie lassen sich die jeweils eigenen Positionen der Forscher*innen und die damit verbundenen Fremdheits- und Vertrautheitserfahrungen im Kontext von Kindheit und Adoleszenz unter Bedingungen von Flucht*migration reflexiv-analytisch in den Forschungsprozess einbeziehen? Diese und andere Fragen nehmen die Autor*innen in den folgenden Beiträgen in den Blick, in denen aktuelle empirische Ergebnisse vorgestellt sowie methodische und methodologische Herausforderungen thematisiert werden.

In dem Beitrag „Kindheit in Deutschland aus der Perspektive neu zugewanderter Kinder“ zeigt Jessica Schwittek auf, inwiefern Migration als eine biographische Zäsur für Kinder verstanden werden kann. Denn mit der Migration in westlich-europäische Gesellschaften erfolge ein Wechsel in eine für die Kinder zunächst „fremde Kindheit“. Doch wie gehen Kinder damit um? Wie positionieren sie sich zu für sie fremden Kindheitsvorstellungen und wie deuten sie die von ihnen „neu“ erlebte Kindheit? Diesen Fragen geht der Beitrag nach und rekonstruiert auf der Basis von Gruppendiskussionen mit neu zugewanderten Kindern entsprechende Erfahrungs- und Deutungskomplexe von Kindheit in Deutschland. Hierbei kommt die Autorin zu dem Ergebnis, dass es die „normale“ Kindheit in Deutschland sei, die mit Zumutungen einhergehe und zugleich „Gewinne“ für die Kinder bereithalte.

In dem Beitrag „Adoleszente Weiblichkeit im Grenzregime“ beleuchten Laura Otto und Margit Kaufmann auf der Grundlage eines ethnographischen Forschungsprojekts in Malta die Erfahrungen von Frauen* und Mädchen* im Kontext von Fluchtmigration. Damit trägt der Text dazu bei, eine Forschungslücke in der Debatte um Flucht*migration zu schließen. Die Autor*innen schlagen auf methodologischer Ebene eine an Intersektionalität orientierte Leseweise vor, der ein Verständnis von Selbst- und Fremdpositionierungen als dynamische, interaktive Praktiken zugrunde liegt. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Kategorien wie Fluchtstatus, Alter und Gender nicht nur wirkmächtig sind, sondern über Selbst- und Fremdpositionierungen (machtvoll) ausgestaltet und – auch im gemeinsamen Interpretations- und Schreibprozess – ausgehandelt werden.

Rebecca Mörgen und Peter Rieker richten in ihrem Beitrag „Vulnerabilitätserfahrungen und die Erarbeitung von Agency: Ankommensprozesse junger Geflüchteter“ den Blick auf Prozesse des „Ankommens“ von Jugendlichen mit Fluchterfahrungen in der Schweiz. Dieses „Ankommen“ im europäischen Grenzregime wird in den meisten Fällen durch unterschiedliche Bedingungen erschwert. Die Jugendlichen lassen die Situation der Flucht mit den ihr inhärenten Bedrohungen und Unsicherheiten zwar hinter sich, aber auch in der Schweiz befinden sie sich meist in prekären Lebenssituationen, die mit Vulnerabilitätserfahrungen einhergehen, die zugleich bearbeitet und bewältigt werden. Dabei geht der Beitrag über eine rekonstruktive Analyse qualitativer Interviews mit jungen Geflüchteten folgenden Fragen nach: Wie gestalten Jugendliche den Prozess des Ankommens und welche Formen von Agency erarbeiten sie sich unter den jeweiligen sozialen Bedingungen?

Diese drei Beiträge zum Schwerpunktthema werden durch zwei freie Beiträge und zwei Rezensionen ergänzt. Christian Armbrüster widmet sich in seinem Beitrag einem bisher eher vernachlässigten Forschungsfeld innerhalb der Sozialisationsforschung, indem er „institutionell eingeforderte biographische Berichte Adoleszenter mit der Diagnose einer Depression“ ins Zentrum seiner Analyse stellt. Ausgehend von zwei Fallbeispielen rekonstruiert der Autor, wie Depression in biographischen Identitätskonstruktionen verstanden werden kann und in welcher Weise sich in diesem Kontext Agency darstellt. Der Beitrag zeigt über die Rekonstruktionen der biographischen Berichte eindrücklich auf, inwiefern Depression „als vom psychosozialen Hilfesystem bereitgestelltes Narrativ“ rekonstruiert werden kann, das in den Identitätskonstruktionen der Jugendlichen aufgenommen wird. Hierbei erscheint Depression als Narrativ des „selbstverschuldeten Versagens“, das zugleich Ausdruck symbolisch-machtvoller Ordnungen einer Leistungsgesellschaft ist.

Die berufliche Integration von Jugendlichen in Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe als besonders anforderungsreiche Aufgabe steht in dem Beitrag von Karin Werner und Renate Stohler im Fokus. Auf Basis einer qualitativen Studie gehen die Autor*innen der Frage nach, wie Jugendliche Care Leaver den Übergang von der obligatorischen Schulzeit in die weiterführende Berufsausbildung erleben. Die Perspektive der Jugendlichen und die darüber rekonstruierbaren Herausforderungen des Übergangs ergänzen die Autor*innen mit der Perspektive von Sozialpädagog*innen. In den präsentierten Ergebnissen zeigt sich, dass die individuellen Belastungen, die die Jugendlichen erleben, auch die Frage der Berufswahl erschweren und sie zudem auf der Suche nach Ausbildungsplätzen vielfältige Stigmatisierungserfahrungen machen. Sie erfahren allerdings auch Unterstützung durch sozialpädagogische Fachkräfte, die insbesondere in Krisen während der Ausbildung als sehr hilfreich hervorgehoben wird.

Ellen Höhne ergänzt die Beiträge durch eine Rezension zu dem Buch von Catherine Delcroix „Licht und Schatten der Familie Nour. Wie manche der Prekarität trotzen – biographische Rekonstruktionen“. Im Mittelpunkt der Studie steht die Geschichte der Familie Nour, welche Delcroix über viele Jahre hinweg immer wieder getroffen hat und die aufgrund der prekären Lebensverhältnisse als für in französischen Vorstädten lebende, aus den Maghrebstaaten eingewanderte Familien exemplarisch verstanden werden kann. Aufgrund der spürbaren Nähe zu einzelnen Familienmitgliedern, mit denen geforscht wurde, bei gleichzeitig enger Verflechtung mit wissenschaftlichen Analysen und umfassender Kontextualisierung stellt die vertiefte Fallstudie – so die Rezensentin – ein eindrückliches Leseerlebnis dar.

Abschließend nimmt Eveline Zwahlen in ihrer Rezension das Buch von Maria Kontos „Die desintegrativen Folgen des öffentlichen Integrationsdiskurses. Eine biographieanalytische Untersuchung von Migrantinnen und Migranten“ in den Blick. Kontos geht in ihrer Studie der Frage nach, welchen Niederschlag die insbesondere im Anschluss an Thilo Sarrazin intensiv und kontrovers geführte Debatte um die „Integration von Migrant*innen“ in den biographischen Konstruktionen der Befragten findet. Die Analysen basieren auf „autobiographisch-narrativen Interviews“ mit insgesamt 48 Migrant*innen, die ehemals als Gastarbeiter*innen nach Deutschland gekommen sind. Die Rezensentin empfiehlt das Buch insbesondere aufgrund der reichhaltigen empirischen Analysen zur unbedingten Lektüre, auch wenn sie die theoretischen Verortungen als voraussetzungsvoll und für thematische Laien nicht immer gut verständlich einschätzt.

Wir hoffen, Ihnen mit diesem Heft interessante Einblicke in aktuelle Forschungsarbeiten zu Kindheit und Adoleszenz in Bewegung zu geben und wünschen eine anregende Lektüre!

Literatur

 

Hess, Sabine/Kasparek, Bernd/Kron, Stefanie/Rodatz, Mathias/Schwertl, Maria/Sontowski, Simon (2016): Der lange Sommer der Migration: Grenzregime III. Berlin: Assoziation A.

Lems, Annika/Oester, Kathrin/Strasser, Sabine (2019): Children of the crisis: ethnographic perspectives on unaccompanied refugee youth in and en route to Europe. In: Journal of Ethnic and Migration Studies, 46 (2), 315–335.

Otto, Laura (2020): Junge Geflüchtete an der Grenze. Eine Ethnografie zu Altersaushandlungen. Frankfurt am Main: Campus.

Scheibelhofer, Paul (2019): Prekarisierte Männlichkeit im Fluchtkontext. Erfahrungen eines jungen Mannes zwischen Syrien und Österreich. In: Böttcher, Alexander/Hill, Marc/Rotter, Anita/Schacht, Frauke/Wolf, Maria A./Yildiz, Erol (Hrsg.): Migration bewegt und bildet. Kontrapunktische Betrachtungen. Innsbruck: Innsbruck University Press, 129–146.

 


[1] Der Themenschwerpunkt geht auf eine Tagung zurück, die im Herbst 2020 an der Universität Zürich durchgeführt wurde. Wir möchten an dieser Stelle ganz herzlich allen danken, die diese Tagung möglich gemacht haben. Neben dem ganzen Team des Lehrstuhls Ausserschulische Bildung und Erziehung des Instituts für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich und allen Referent*innen gebührt unser Dank vor allem Fränzi Buser und Eveline Zwahlen, die die Tagung maßgeblich mitkonzipiert und -organisiert haben. Zudem möchten wir an der Stelle allen anonymen Gutachter*innen für ihre wertvolle Arbeit danken.