Rezension zu: Delcroix, Catherine (2021): Licht und Schatten der Familie Nour. Wie manche der Prekarität trotzen. Opladen u.a.:  Barbara Budrich, 255 Seiten, ISBN: 978-3-8474-2278-5, 36,00 Euro (51,90 CHF)

Ellen Höhne

Im Zentrum des Buches von Catherine Delcroix steht die Familie Nour, die in einer französischen Vorstadtsiedlung lebt. Während die Eltern in den 1970er-Jahren aus Marokko einwanderten, sind die sieben Kinder in Frankreich geboren und aufgewachsen. Die bereits im Untertitel des Buches angesprochenen Schwierigkeiten, die mit prekären Lebensverhältnissen zusammenhängen, beziehen sich u. a. auf Arbeitslosigkeit, chronisch knappe finanzielle Mittel und Erfahrungen von Diskriminierung und Rassismus. Die Autorin ist heute Professorin für Soziologie an der Universität Strasbourg und hat über sechs Jahre hinweg immer wieder Gespräche mit den Mitgliedern der Familie Nour geführt; auch danach bestand der Kontakt fort. Die zentrale Frage, die die Autorin im Zuge der vertieften Einzelfallstudie der Familie Nour untersucht, ist, ob Diskreditierte in ihrem Denken und Handeln zur Passivität verurteilt sind und in welcher Weise sie sich und sich ihnen Handlungsmöglichkeiten eröffnen. 

Das Buch ist vor 20 Jahren zum ersten Mal auf Französisch erschienen und beinhaltet daher mehrere Vor- und Nachwörter der deutschen und französischen Ausgaben. Im Folgenden werden die Hauptteile des Buches in Bezug auf ihren Inhalt, die Art der Darstellung und die Argumentation der Autorin in Hinblick auf ihre Untersuchungsfrage vorgestellt und anschliessend kommentiert. 

Im ersten Hauptteil, dem „Dialog der Kindheiten“, erfahren die Leser*innen zunächst etwas über biographische Stationen von Djamila und Amin, den beiden Elternteilen der Familie Nour. Beide kommen aus einem Dorf im Nordwesten Marokkos. Djamila konnte aufgrund von Geldmangel keine Schule besuchen und Amin musste bereits mit 14 Jahren arbeiten. Die Autorin beschreibt die harten Lebensbedingungen, die beide Kindheiten prägten. Zunächst geht Amin 1969 zum Arbeiten allein nach Frankreich und nach der Heirat, die gegen den Willen der damals 17-jährigen Djamila vollzogen wird, beziehen die Eheleute im Jahr 1974 eine Wohnung in Frankreich, in der sie bis heute leben. Vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen arbeiten die Eheleute darauf hin, dass ihre sieben Kinder einen Platz in der französischen Gesellschaft finden. Dies schliesst Sorgen und Kämpfe der Eltern ein, die die Bildungswege und materielle Absicherung ihrer Kinder betreffen, aber umfasst auch allgemeinere Überlegungen zur Lebensgestaltung. So zeigt die Autorin auf, wie Djamila aufgrund der selbst erfahrenen Zwangsverheiratung in Bezug auf die eigene Erziehung ihrer Töchter beschliesst, ihnen eine freie Partner*innenwahl zu ermöglichen. Eine Handlung der Eltern hebt die Forscherin besonders hervor – das Erzählen von ihren Kindheiten gegenüber ihren Kindern, „um ihnen die für ihre Entwicklung so notwendigen festen und positiven Orientierungspunkte zu geben“ (79). Die Autorin formuliert anschliessend die Hypothese, dass die Geschichte der Eltern zu kennen, eine wichtige Ressource für die Kinder darstelle: ein „biografisches Kapital“ (80). Am Ende des ersten Hauptteils zeigt die Forscherin, inwiefern eine lokale Institution, die „Fürsorgestelle für Mutter und Kind“, als eine „Schule für Mütter“ verstanden werden kann, wobei die Mütter angehalten werden, eine französische Art der Kindererziehung zu praktizieren (85). Diese Darstellung der Institution nimmt die Autorin anhand von Informationen zum institutionellen Aufbau und Aufgabenfeldern vor und kontrastiert Einschätzungen von Nutzer*innen, so auch von Djamila, mit Aussagen von dort arbeitenden Fachpersonen, wobei Eindrücke von Beziehungen zwischen Eltern und Fachleuten gewonnen werden können. Die Autorin schreibt von der paradoxen Situation, in welcher sich Nutzer*innen einer solchen Fürsorgestelle wiederfinden, in welcher sie fachübergreifend Zugang erhalten und gleichzeitig schutzlos einer Bewertung ihres Verhaltens oder der Ablehnung ihrer Anträge ausgeliefert sein können. 

Im zweiten Teil mit dem Titel „Eheleben und ein ausgeglichener Haushalt“ geht es um das Ende der Berufstätigkeit des Vaters in Folge mehrerer Arbeitsunfälle und seine darauffolgende Krise. Der Umstand, dass der Vater nach seiner Arbeitsunfähigkeit in Marokko ein zweites Mal heiratet, sorgt für Spannungen innerhalb der Familie, deren Bearbeitungen die Autorin schildert. Daneben ist die Familie Nour mit weiteren Schicksalsschlägen konfrontiert, da mehrere Kinder an schweren physischen und psychischen Erkrankungen leiden. Die prekäre Lebenssituation zwingt die Familie zu Sparmassnahmen. Die Forscherin portraitiert die Tätigkeiten der Mutter als Einkäuferin, die ganz bewusst Besorgungen tätigt und Überlegungen anstellt, wann trotz finanziellen Drucks ein sehnsüchtiger Wunsch eines Kindes erfüllt werden kann. Die Autorin changiert zwischen der Wiedergabe von Gesprächen zwischen Familienmitgliedern und zusammenfassenden Schilderungen sowie ethnographischen Beschreibungen. Dies tut sie in einer literarischen Form, sodass Françoise Lorcerie im Vorwort treffend den Ausdruck eines „wahren soziologischen Romans“ (35) verwendet.

Im Zuge des dritten und umfassendsten Teils des Buches befasst sich die Autorin mit den Prozessen des Erwachsenwerdens der vier ältesten Kinder der Familie. Beim ältesten Sohn Rachid steht seine Überwindung einer Psychose im Fokus, die er als „Sieg über sich selbst“ (132) bezeichnet und die er mithilfe von Familie und medizinisch-sozialen Diensten erreicht. In den Ausführungen zum Leben des jüngeren Sohns Djamel erfahren die Leser*innen etwas über seinen Weg in die Delinquenz. Im Kapitel zur Tochter Leïla wird ihr Weg zum Jurastudium trotz entmutigender Erfahrungen nachgezeichnet. Leïlas Ressourcen als neugieriger und offener Mensch mit viel Ehrgeiz und ihre Art, persönliche und emotionale Beziehungen zu knüpfen, werden offenbar. Auch in den Ausführungen zu Leïlas Erwachsenwerden sind einschneidende Erfahrungen, wie jene des Gerichtsprozesses ihres Bruders Djamel und die Folgen für Leïla, nachlesbar. Die Autorin führt schliesslich im Zusammenhang mit der Erzählung über das Leben des Sohns Driss das Thema Arbeitsintegration aus. Wie im ersten Hauptteil zu den Kindheiten, portraitiert und kritisiert sie in diesem Zuge Arbeitsweisen innerhalb einer Institution, hier den missions locales (Jobzentren). Die Autorin wählt in diesem Hauptteil eine Darstellungsweise, die eine Mischung aus einer figurenfokussierten Verlaufsperspektive anhand der Kinder und einer themenspezifischen Darstellung umfasst. 

Innerhalb der drei Hauptteile des Buches werden einzelne Familienmitglieder mit ihren Träumen, Sorgen und ihren Handlungen sichtbar, wobei sie häufig ihre selbstgesteckten Ziele nicht erreichen. Damit beantwortet die Autorin die aufgeworfene zentrale Frage, denn anhand dieses kollektiven Einzelfalls der Familie Nour werden die aktiv geführten Kämpfe mit Herausforderungen, ein Trotzen der prekären Bedingungen und Überlegungen gezeigt – sie bleiben in ihrem Denken und Handeln nicht passiv. Im Zuge einer Theoretisierung im Nachwort des Buches formuliert die Autorin eine Herleitung zu Fragen von Handlungsfähigkeit und Ressourcen sowie ihr Verständnis von strategischem Handeln, das nicht nur dann vorliege, wenn am Ende ein erfolgreiches Ergebnis errungen wird. Mit dem Ausdruck des „situationsbedingten Handlungsverlaufs“ (212) beschreibt die Autorin, dass bei der von ihr untersuchten Familie Nour zahlreiche Zufälle vorkommen und es zu Neuformulierungen von Strategien kommt, da die Forschungssubjekte nur wenig Einfluss auf ihr Umfeld haben und ihnen nur beschränkt Ressourcen zur Verfügung stehen. 

Im Anschluss an die erhellende Lektüre habe ich mir als sozialwissenschaftliche Forscherin Fragen zu methodischen Überlegungen gestellt, welche so im Buch nicht thematisiert werden, jedoch bereits auf Französisch vorliegen (u. a. Delcroix 2010). Und inwiefern hat sich die Autorin aufgrund ihrer Erkenntnisse in lokalen/nationalen Debatten beispielsweise zu den Unruhen in französischen Vororten geäussert? Zusammenfassend stellt die Lektüre der Studie für mich ein eindrückliches Leseerlebnis dar, aufgrund der spürbaren Nähe zu einzelnen Familienmitgliedern, mit denen geforscht wurde, bei gleichzeitig enger Verflechtung mit wissenschaftlichen Analysen und umfassender Kontextualisierung. Besonders anregend sind meiner Meinung nach auch die Überlegungen zum „biografischen Kapital“, die Fritz Schütze im Vorwort zur deutschen Ausgabe nochmals bündelt, oder dazu, welche positiven Effekte beispielsweise eine Kommunikation über gefällte Entscheidungen, gemeisterte Hürden oder eigene Fehler im familiären Rahmen entfalten kann. Eine unbedingte Leseempfehlung für Forschende und Praktiker*innen im Feld des Sozialen. 

Literatur

Delcroix, Catherine (2010): S’engager dans la durée. De la relation d’enquête aux effets de la publication. In: Payet, Jean-Paul/Giuliani, Frédérique/Laforge, Denis (Hrsg.): La relation d’enquête au défi des acteurs faibles. Rennes: PUR, 131–142.