Rezension zu: Kontos, Maria (2020): Die desintegrativen Folgen des öffentlichen Integrationsdiskurses. Eine biographieanalytische Untersuchung von Migrantinnen und Migranten. Opladen u.a.: Barbara Budrich, 231 Seiten, ISBN: 978-3-8474-2413-0, 24.90 € (36,90 CHF)

Eveline Zwahlen

 

Am 30. August 2010 erschien das Buch von Thilo Sarrazin mit dem Titel „Deutschland schafft sich ab“ und führte zum Höhepunkt einer breit inszenierten neuen öffentlichen Integrationsdebatte. Diese dient dem vorliegenden Buch als Ausgangslage, um der Frage nachzugehen, wie die Debatte „auf die Selbstinterpretation und das Selbstverständnis von Migrantinnen und Migranten, auf ihr Integrationshandeln und ihre Selbstpositionierung bzw. Selbstverortung in der Gesellschaft einwirkt“ (19). Maria Kontos fragt nach den unterschiedlichen Positionierungen der Migrant:innen zu diesem Diskurs und nach den Veränderungen in den sozialen Positionierungen. Im Fokus der Studie sind Migrant:innen der Gastarbeiterära, welche nach Deutschland immigriert sind.

Die Autorin legt in ihrem Buch gleich zu Beginn dar, wie kritische Diskursanalysen und medienwissenschaftliche Forschungen primär die Wirkung des Diskurses auf nicht-migrantische Rezipient:innen in den Fokus nehmen. Im Gegensatz dazu – und dies macht das Buch besonders interessant – blickt ihre empirische qualitative Untersuchung auf die von der Integrationsdebatte zwar nicht direkt adressierten, jedoch am stärksten Betroffenen, die Migrant:innen selbst. Die Migrant:innen werden in der öffentlichen Debatte als Problem definiert, da scheinbar integrationsunfähig und -unwillig. Sie seien also keine Kommunikationspartner:innen, sondern Objekt der Debatte (7). Ziel ist, herauszufinden, welche psychosozialen Wirkungen diese Debatte auf die Subjektivität der migrantischen Subjekte hat und welche mentalen Konsequenzen diese daraus ziehen (17) – oder anders ausgedrückt: „Die Spuren, die der Diskurs auf der Biographie hinterlassen hat, zu rekonstruieren“ (56). Es geht der Autorin also um das Verhältnis von Diskurs bzw. Debatte und Subjekt. Allerdings wird nicht deutlich, nach welcher Logik die Begriffe Diskurs und Debatte gebraucht werden (weshalb sie in dieser Rezension auch nicht differenziert verwendet werden können).

Das Buch ist in fünf Kapitel gegliedert. Es beginnt mit einer Einleitung (Kap. 1), in welcher die öffentliche Integrationsdebatte rund um das Buch von Sarrazin dargelegt wird. Verschiedene Integrationsdefinitionsstränge aufgreifend (u. a. Esser 2005, Strauss 1993, Peters 1993) ist es gemäss der Autorin für die Untersuchung der Bedeutung des Integrationsdiskurses zentral, sowohl das Integrationshandeln und die Integrationsarbeit der migrantischen Subjekte, als auch ihre identifikative Integration in den Vordergrund zu stellen.

Im zweiten Kapitel werden die theoretischen Grundlagen zu Diskurs, Migration, Integration und Biographie erarbeitet, vor deren Hintergrund die forschungsleitenden Hypothesen abgeleitet werden: Dass die Prozessstrukturen des Lebenslaufs für die Wahrnehmung und Verarbeitung des Integrationsdiskurses von Bedeutung sind (40). Zudem: Dass die Migrations-Normalbiographie die Rückkehr als konstitutiven Bestandteil enthält (47).

Die Autorin legt dar, dass für die vorliegende Thematik – die Wirkung des Diskurses auf das Subjekt erfassbar zu machen – ein relationales Diskurskonzept erforderlich ist (33). Denn inwiefern der Diskurs bzw. die Debatte auf die Subjekte einwirkt, ist nicht nur vom Diskurs selbst abhängig, sondern auch von der Frage, inwiefern Gesagtes und Ungesagtes von den Rezipient:innen überhaupt wahrgenommen werden (33 f.). Ebenso stellt sich die Frage, inwiefern die Subjekte bereit sind, die Debatte und die sie begleitenden Phantasmen – wobei im Buch der Begriff des Phantasmas seiner psychoanalytischen Verankerung beraubt wird und somit etwas diffus bleibt – zu interpretieren (33 ff.).

Anschliessend folgen methodologische und methodische Erläuterungen zur Untersuchung. Die Autorin führte in den Jahren 2013 bis 2015 „autobiographisch-narrative“ (48) Interviews mit 48 Migrant:innen aus Italien, Griechenland, Spanien, Portugal, der Türkei, den Folgestaaten des früheren Jugoslawiens und Marokko durch (58) – wobei auch hier eine begriffliche Unschärfe besteht, da nicht klar ist, welche Bedeutung das „auto-“ bei den autobiographisch-narrativen Interviews einnimmt. Die Interviews wertet die Autorin sequenziell und nach den Grundprinzipien der Grounded Theory rekonstruktiv aus (57).

Im dritten Kapitel, das auch das umfangreichste ist, legt die Autorin zunächst ihre ursprüngliche Annahme offen: Dadurch, dass der Integrationsdiskurs von den Migrant:innen der Gastarbeiterära als missachtend wahrgenommen werden kann, kann dies dazu führen, dass sie in ihrem Integrationsprozess zurückgeworfen werden. In ihrer Untersuchung ist die Autorin dabei auf zwei „Grobtypen“ (63) von Integrationsdiskurswahrnehmung und -verarbeitung gestossen: Migrant:innen, die die Anrufung des Diskurses für sich zurückweisen, und solche, die die Anrufung des Integrationsdiskurses annehmen und sich selbst als Angriffsziel des Diskurses erkennen (ebd.). Für ihre Untersuchung geht die Autorin auf letztere ein, wobei sie nun sechs unterschiedliche Biographien ausführlich darstellt und analysiert: Petros Antonopoulos, der die begriffliche Unschärfe im aktuellen Integrationsdiskurs kritisiert und dem einen positiven Integrationsbegriff entgegenstellt. Durch den Integrationsdiskurs hat er ethnische Allianzen gebildet, die zur Stärkung der ethnischen Identität beitragen und dadurch auch die Konfliktfähigkeit stärken. Yunus Can erlebt den Integrationsdiskurs als Bruch des bis dahin geltenden impliziten Migrationsvertrags, dass die Migrant:innen im Aufnahmeland arbeiten und dadurch akzeptiert werden. „Insofern Sarrazin ist mir nicht gefährlicher als diese Lehrer“ (111) ist eine Aussage Ahmet Erdems, mit welcher er seine Ohnmacht zum Ausdruck bringt, dass er seine Kinder nicht vor rassistischer Diskriminierung im Alltag schützen kann – der Lehrer ist für ihn mindestens ebenso gefährlich wie eine öffentlich prominente Figur à la Sarrazin. Aylin Inci hat sich den Diskurs positiv angeeignet, indem sie sich v. a. mit dem Aspekt der Frauenemanzipation identifiziert und sich so von ihrem Herkunftsland und dadurch von (alten) Abhängigkeiten emanzipiert. Mit einem Rückzug in die ethnische Gemeinschaft reagiert bspw. Hasan Arat. Für Suna Önal verstärkt die Integrationsdebatte die bereits bestehende Ausweglosigkeit gegenüber ihrem Leben im Aufnahmeland.

In Kapitel 4 werden die in Kapitel 3 hergeleiteten Ergebnisse übergreifend und unter Berücksichtigung des Gesamtsamples diskutiert. Je nach politischer Sozialisation konnte eine andere typische Form der Wahrnehmung und Verarbeitung der öffentlichen Integrationsdebatte herausgearbeitet werden. Ein typisches Argumentationsmuster ist auch der wertende Vergleich zwischen dem Herkunfts- und dem Aufnahmeland, was bspw. dazu führt, dass die Sarrazin-Debatte dazu verwendet wird, die Frauenemanzipation zu verteidigen. In diesem Kapitel werden zudem unterschiedliche „normative“ (200) und „biographische Reparaturarbeiten“ (203) durch die migrantischen Subjekte herausgearbeitet.

In den Schlussfolgerungen (Kap. 5) wird noch einmal deutlich, wie unterschiedlich die Migrant:innen mit dem Diskurs und den damit einhergehenden wie auch immer verstandenen Phantasmen umgehen. Einige werden durch ihn in ihrer Identität gestärkt und motiviert, sich aktiv einzubringen, andere eignen sich den Diskurs positiv an. Wiederum andere verstärkt er in ihrem Ausschluss, bspw. indem sie sich verstärkt in ihre Community zurückziehen oder sich noch ohnmächtiger gegenüber den ausschliessenden Integrationspraktiken fühlen.

Das Buch endet mit einer auf Helmut Dubiel (1997) zurückgehenden Frage, weshalb der Integrationsdiskurs nicht zu einer Integration durch Konflikt und Kampf führt oder zumindest zu einer vermehrten politischen Partizipation der Migrant:innen (210 f.). Die Autorin legt dar, dass dafür eine grundsätzliche Voraussetzung fehlt, nämlich dass das Recht auf physische Existenz auf einem gemeinsamen geteilten Territorium nicht bestritten wird (211 f.).

Dieses Buch schafft es durch einen ausführlichen empirischen Teil, die Bedeutung der populistischen negativ konnotierten öffentlichen Integrationsdebatte für die biographischen Verlaufskurven der Migrant:innen der Gastarbeiterära in Deutschland den Leser:innen näherzubringen. Der umfassende empirische Teil und die Erkenntnis der bestrittenen physischen Existenz machen das Buch in Hinblick auf die Integrationsthematik besonders lesenswert. Dies hilft auch über die Tatsache hinweg, dass der theoretische Teil höchst voraussetzungsvoll und für in dieser Hinsicht thematische Laien schwer verständlich ist und dass die doch diversen begrifflichen Unschärfen für das Verständnis eher hinderlich sind. Auf jeden Fall wird jedoch deutlich, dass eine Wirkung des Diskurses nicht unabhängig von den Interpretationsleistungen der entsprechenden Rezipient:innen untersucht werden kann und dass diese Interpretationsleistungen umgekehrt Aufschluss auf die (unterschiedlichen) Wirkungen des Diskurses geben können.

Literatur

Dubiel, Helmut (1997): Unversöhnlichkeit und Demokratie. In: Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Was hält die Gesellschaft zusammen? Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 425 – 444.

Esser, Hartmut (2005): Assimilation, ethnische Schichtung oder selektive Akkulturation? Neuere Theorien der Eingliederung von Migranten und das Modell der intergenerationalen Integration. In: Heitmeyer, Wilhelm/Imbusch, Peter (Hrsg.): Integrationspotenziale einer modernen Gesellschaft. Analysen zu gesellschaftlicher Integration und Desintegration. Wiesbaden: VS Verlag, 81 – 107.

Peters, Bernhard (1993): Die Integration moderner Gesellschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Strauss, Anselm L. (1993): Continual Permutations of Action. New York: de Gruyter.