„Vom rechten Rand wieder eher ein stückweit in die Mitte“– Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit als institutionelle De- und Resozialisierungsinstanz?[1]

Sally Hohnstein, Frank Greuel, Carmen Figlestahler


1. Einleitung

Hinwendungen zu rechtsextremen Strukturen und Ideologien sind Prozesse (politischer) Sozialisation, bei denen junge Menschen – entgegen den Erwartungen demokratischer Gesellschaften – extremistische Weltsichten und Zugehörigkeiten entwickeln und konsolidieren. Sozialisationskontexte wie etwa Familie oder Peers spielen dabei eine zentrale Rolle als Erklärung dafür, wieso sich junge Menschen rechtsextremen Strukturen zuwenden. Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit reagiert auf solche Entwicklungen als normatives Korrektiv.[2] Zivilgesellschaftliche und staatliche Angebote verfolgen in Deutschland seit etwa 20 Jahren das Ziel, bei ihren Klient:innen eine Abkehr vom Rechtsextremismus zu erreichen und eine Hinwendung zu einer Lebensweise herbeizuführen, die als mit demokratischen Grundwerten vereinbar gilt. Angesichts der langjährigen Existenz der Angebote, erprobter Vorgehensweisen und gemeinsamer fachlicher Standards kann hier von einem etablierten Arbeitsbereich professioneller Angebote der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit gesprochen werden (Rieker 2014, 7; Figlestahler/Schau i. E., 13). Die Arbeit basiert auf der Annahme, dass ein Wechselspiel von individuellen biografischen Entwicklungen, den damit verbundenen Bedürfnissen sowie bestimmten Lebensbedingungen und -ereignissen ursächlich für rechtsextreme Hinwendungsprozesse ist. In der Distanzierungs- und Ausstiegsarbeit wird daher versucht, durch Biografiearbeit, lebenspraktische Unterstützung bei Problemlagen, Hilfe beim Aufbau von sozialen Netzwerken außerhalb rechtsextremer Strukturen sowie ideologische Auseinandersetzung eine Ablösung von rechtsextremen Strukturen, Einstellungen und Handlungen zu erreichen (Rieker 2014; Hohnstein/Greuel 2015).

Viele der Angebote arbeiten mit einem breiten Spektrum an Personen – von jungen Erwachsenen in ersten Hinwendungsprozessen über Mitläufer:innen bis hin zu sogenannten Kadern mit Führungsfunktionen. Bei einigen Angeboten finden sich auch zielgruppenbezogene Schwerpunktsetzungen (Hohnstein/Greuel 2015, 32 ff.; Figlestahler/Schau i. E., 15 ff.). Die Kontaktaufnahme der Adressat:innen zu den Angeboten ist in manchen Fällen intrinsisch motiviert. Zum Teil liegt jedoch beim ersten Kontakt, gerade bei der Meldung durch sogenannte signalgebende Dritte, eine extrinsische Motivation vor. Teilweise erfolgt der Zugang auch über Zwangskontexte wie etwa richterliche Weisungen (Hohnstein/Greuel 2017; Figlestahler/Schau i. E., 22 ff.). In diesen Fällen müssen die Angebote der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit zunächst eine intrinsische Motivation auf Seiten der Adressat:innen herstellen.

Im Folgenden nehmen wir zunächst eine theoretische und empirische Verortung rechtsextremer Hinwendungsprozesse als Prozesse (politischer) Sozialisation vor. Im nächsten Schritt führen wir die Konzepte der Desozialisierung und Resozialisierung zur analytischen Beschreibung von Distanzierungs- und Ausstiegsarbeit ein. Anschließend stellen wir empirisch anhand zweier qualitativer Studien zur Praxis der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit dar, auf welche sozialisatorischen Ursachen für Hinwendungen zu rechtsextremen Strukturen bzw. Ideologien in der Arbeit Bezug genommen wird und wie durch die Arbeit individuell sozialisatorische Aspekte bearbeitet werden. Dabei betrachten wir auch die Frage, welche normativen Annahmen den Einschätzungen der Fachkräfte zu De- oder Resozialisierungsbedarfen bei den Adressat:innen zugrunde liegen bzw. wo die Grenzen einer „gelingenden“ Resozialisierung gesehen werden. 

2. Hinwendungen zum Rechtsextremismus aus Sozialisationsperspektive

Im Folgenden betrachten wir Hinwendungen zum Rechtsextremismus aus einer sozialisatorischen Perspektive. Dazu gehen wir zunächst allgemein auf (politische) Sozialisation ein, skizzieren den aktuellen Forschungsstand zu rechtsextremen Hinwendungsprozessen mit Fokus auf die Rolle unterschiedlicher Sozialisationsinstanzen und diskutieren anschließend Distanzierungsarbeit als De- und Resozialisierungspraxis.

2.1 Zum Begriff der (politischen) Sozialisation

Unter Sozialisation wird im Allgemeinen ein lebenslanger und offener, in der Phase der Kindheit und Jugend aber mit besonderer Prägekraft versehener Prozess verstanden, in dessen Verlauf sich Individuen mit ihrer materiellen und sozialen Umwelt auseinandersetzen und hierüber eine Persönlichkeit ausprägen. Ausgegangen wird dabei von einem Menschen, „der auf seine Lebens- und Lernprozesse einen aktiv-gestaltenden Einfluß [sic!] nimmt“, also nicht nur von seiner Umwelt als Objekt geprägt wird, sondern diese Umwelt auch mitgestaltet und „sich auf diese Weise zum handlungsfähigen Wesen, zu einem Subjekt” (Tillmann 2010, 12) entwickelt. Im Anschluss an Tillmann gilt also, dass Menschen nicht bloß passiv sozialisiert werden, sondern sich vielmehr immer auch selbst sozialisieren. Neben der Entwicklung einer autonomen und mündigen Persönlichkeit (Individuierung) umfasst Sozialisation nach Beer und Bittlingmayer (2008, 57) ebenfalls Prozesse der Integration in eine Gesellschaft (Vergemeinschaftung).

Als politische Sozialisation lassen sich hieran anschließend sowohl alle Prozesse begreifen, die das explizite politische Lernen einschließen als auch das „nicht-politische Lernen, welches das politische Verhalten beeinflusst, z. B. das Erlernen politisch bedeutsamer sozialer Einstellungen und der Erwerb politisch relevanter Persönlichkeitsmerkmale“ (Greenstein 1968, 551). Politische Sozialisation vollzieht sich entsprechend im Kontext vielfältiger Sozialisationsinstanzen und Prozesse (Kleeberg-Niepage 2012, 157).

Wie Rippl und Seipel (2012, 2 f.) herausstellen, ist Sozialisation „immer auch ein normativ geladener Begriff“, was insbesondere im Kontext der politischen Sozialisation sichtbar wird. Die Integration in die bestehende (demokratisch verfasste) Gesellschaft gilt als gelungen, wenn im Ergebnis der Subjektwerdung der gesellschaftlich vorhandene demokratische Konsens geteilt wird und verinnerlicht ist. Eine (politische) Sozialisation, in deren Ergebnis z. B. eine rechtsextreme Ideologie geteilt wird und Zugehörigkeiten zu rechtsextremen Gruppen vorliegen, käme entsprechend einer „misslungenen (politischen) Sozialisation“ gleich, da sie dem gesellschaftlich mehrheitlich geteilten demokratischen Grundkonsens zuwiderläuft bzw. diesen sogar aktiv in Frage stellt und herausfordert.

2.2 Hinwendungs- und Abwendungsprozesse als offene Prozesse der (politischen) Sozialisation

In den zurückliegenden Jahren sind Prozesse der Hinwendung zu sowie der Abkehr von politisch-weltanschaulichem Extremismus verstärkt in den Fokus interdisziplinärer Extremismus- und Radikalisierungsforschung gerückt und sind mittlerweile Gegenstand einer gewachsenen Zahl theoretischer Reflexionen und empirischer Analysen (im Überblick hierzu u. a. Daase et al. 2019; Baaken et al. 2020). Wenngleich dem Individuum, seinen Motivationen und seinem Verhältnis zur Gesellschaft dabei einige Aufmerksamkeit zukommt (siehe u. a. Zick et al. 2019b), sind dezidiert sozialisationstheoretische Perspektiven in diesem Forschungsfeld selten.

Zu rechtsextremen Hinwendungsprozessen existieren in der vorliegenden empirischen Forschungsliteratur immerhin einige Studien mitunter älterem Datums, denen sozialisationstheoretische Überlegungen zugrunde liegen bzw. die individuelle rechtsextreme Biografien und den Einfluss unterschiedlicher Sozialisationsinstanzen auf die biografische Entwicklung späterer Rechtsextremer untersuchen. Wie Zschach et al. (i. E.) festhalten, werden dabei wiederkehrend in verschiedenen Studien starke Effekte familialer Sozialisation und der Sozialisation in Peergroups beschrieben. Häufig untersucht und nachgewiesen ist ein Zusammenhang zwischen einem negativen Familienklima und der Hinwendung von Jugendlichen zum Rechtsextremismus. Emotional abwesende Eltern und eine geringe Beziehungsqualität stellen demnach einen bedeutsamen Risikofaktor dar (z. B. Bohnsack et al. 1995; Heitmeyer et al. 1995; Hopf et al. 1995). Der konkrete erste Kontakt in die rechte Szene erfolgt allerdings häufig über rechtsorientierte Gruppen von Gleichaltrigen (z. B. Möller 2000; Möller/Schumacher 2007; Sigl 2018). Beginnende Kontakte sind dabei Hafeneger et al. (2001) zufolge weniger Ausdruck bestehender ideologischer Präferenzen, sondern basieren eher auf bereits bestehenden Freundschaften, Nachbarschaften und Zufällen. Möller und Schuhmacher (2007, 281) konnten jedoch nachzeichnen, dass rechtsextreme Gruppen im Laufe der Zeit selbst sozialisatorische Wirkung entfalten und bedeutsam werden können, insbesondere „bei der Verfestigung von Orientierungs- und Handlungsmustern und von Zugehörigkeiten“. In diesem Rahmen vollziehen sich nach Inowlocki (2000, 290) auch Veränderungen des Selbstbildes – z. B. ideologisch geprägte Stilisierungen als Angehörige einer „Bewegung“. Damit verbunden vollziehen sich selbstwertsteigernde Eigenbeschreibungen als überlegen und elitär.

Die bestehenden Forschungserkenntnisse implizieren, dass Zugehörigkeiten zur rechtsextremen Szene insbesondere vor dem Hintergrund belastender und defizitärer familialer Beziehungen, aber auch anderen Desintegrationserfahrungen (z. B. Heitmeyer et al. 1992; Möller 2000; Möller/Schuhmacher 2007) subjektiv attraktiv wirken können und eine biografische Verarbeitung und Kompensation ermöglichen. Deutlich wird damit auch, dass Hinwendungen letztlich nicht allein auf objektive Bedingungen des Aufwachsens zurückzuführen sind, sondern vielmehr im Zusammenspiel mit individuellen Verarbeitungs- und Bewältigungsressourcen sowie der subjektiven Wahrnehmung persönlicher Lebensumstände entstehen.

Die zuletzt genannten und andere Studien (z. B. Sigl 2018) zeigen darüber hinaus, dass die Hinwendung zum Rechtsextremismus häufig nicht linear erfolgt, sondern auch Momente der Abwendung beinhalten kann. Zudem stellt die Hinwendung und Zugehörigkeit häufig eine zeitlich begrenzte biografische Phase dar. Hinwendungsprozesse sind also prinzipiell offen und umkehrbar. Erst auf Basis dieser prinzipiellen Entwicklungsoffenheit wird professionelle Distanzierungs- und Ausstiegsarbeit plausibel (Rieker 2014).

3. Distanzierungen als Prozesse der De- und Resozialisierung

Ausgehend von den vorangegangenen Überlegungen wird im Folgenden auch die Abkehr vom Rechtsextremismus als sozialisatorischer Prozess begriffen. Damit ergänzen wir die Fachdebatte zu Abwendungsprozessen sowie Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit um eine Perspektive, die nicht nur die verschiedenen sozialen, verhaltensbezogenen und inhaltlich-ideologischen Dimensionen von Distanzierungsprozessen, sondern auch den Prozess von Ablösung und Neuorientierung stärker in den Blick nimmt. Um dies theoretisch zu beschreiben, greifen wir auf die Konzepte der Desozialisierung und Resozialisierung zurück, die in diesem Forschungskontext bislang kaum – und wenn überhaupt, eher beiläufig – Verwendung finden (z. B. Eser/Gabriel 2014).

3.1 Desozialisierung

Der Begriff der Desozialisierung (oder Desozialisation[3]) bezeichnet Prozesse, in denen die im Laufe der bisherigen Sozialisation angeeigneten und internalisierten Lerninhalte „ihre allgemeine soziale und gesellschaftliche Gültigkeit verlieren“ (Raithel et al. 2009, 263 f.). Gemeint ist eine „Entgesellschaftung“ von Individuen sowohl im Sinne ihrer „Lösung aus den bisherigen gesellschaftlichen Bezügen und damit verbundenen Rollenverlusts“ (Kent 2006, Übers. d. A.) als auch bezüglich ihrer Trennung von den in der bisherigen Lebensphase gültigen „Mustern des Verhaltens und Fühlens“, Normen und Werten (Vester 2009, 69). Desozialisierung kann individuell im Grad der Freiwilligkeit und Vorhersehbarkeit variieren und das Leben eines Individuums, seine Persönlichkeit, seine Bezugs- und Wertesysteme in unterschiedlich tiefgreifendem Maße berühren (ebd.).

Desozialisierungsprozesse bedeuten einen Bruch mit Routinen und Gewissheiten und sind demzufolge potenziell mit Verunsicherung, Destabilisierung und unterschiedlichsten Verlusterfahrungen verbunden, z. B. bezüglich der sozialen Identität in Folge einer Identitätskrise, des Peerstatus oder des Selbstbildes und Selbstwerts (Kent 2006). Beispiele für solche Desozialisierungsprozesse sind das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben, z. B. aufgrund von unfreiwilligem Arbeitsplatzverlust oder Pensionierung, des Weiteren Obdachlosigkeit, einer schweren Erkrankung, die zu Ausgrenzungserfahrungen führen kann, oder einer Inhaftierung sowie Auswanderung (Vester 2009, 69). Insgesamt handelt es sich hier um biografische Phasen des Übergangs und des Bruchs, die einen Struktur- und Orientierungsverlust (Raithel et al. 2009, 263 f.) zur Folge haben können.

3.2 Resozialisierung

Mit dem Konzept der Desozialisierung eng verbunden ist der Begriff der Resozialisation bzw. üblicher der Resozialisierung. In einem allgemeinen Sinne beschreibt Resozialisierung zunächst einmal einen Prozess, in dem ein Individuum neue Rollen und damit verbundene Orientierungen und Verhaltensweisen erlernt, die den bisherigen sozialisierten Erfahrungen und Wissensbeständen widersprechen (ebd.). Resozialisierung ist gewissermaßen ein möglicher, wenngleich nicht per se einsetzender Folgeprozess von Desozialisierung und beschreibt die an die desozialisatorische Phase anschließende „generelle Re-Orientierung“ und einen „völligen Neubeginn“ in einer „neuen Lebenswelt“ (ebd.).

Um „Menschen, die ‚den Anschluss an die Gesellschaft‘ bzw. Teile von ihr verloren haben“ wieder „mit der Gesellschaft bzw. Teilen von ihr [zu] verbinden“ (Vester 2009, 69 f.), stellen gesellschaftliche Instanzen resozialisatorische Maßnahmen bereit, wie z. B. Beratungsagenturen oder Therapieeinrichtungen. Sie sollen das zeitweilig gesellschaftlich ausgegliederte Individuum bei seiner Wiedereingliederung in die Gesellschaft unterstützen (Kury 1988, 147). Hierin manifestiert sich zugleich die Normativität des Resozialisierungskonzepts (ebd.; Vester 2009, 69 f.): Resozialisierung ist, so Kury (1988, 147), „‚gesellschaftliche Reaktion‘ auf sozialabweichendes Verhalten“ und daher insbesondere im kriminologischen Kontext der „Behandlung Straffälliger“ etabliert. Die dahinterstehende Prämisse ist eine erzieherische (Wirth 2018, 712): Die Annahme ist, dass Menschen ihre Normorientierungen und die daraus resultierenden Verhaltensweisen ändern können (Kury 1988, 152) und dass die bisherige, aus resozialisatorischer Perspektive deviante bzw. ausgebliebene Sozialisation durch re- bzw. ersatzsozialisatorische Maßnahmen „behandelt“ und korrigiert werden kann und muss (ebd., 148 f.; Wirth 2018, 712). Resozialisierung ist vor diesem Hintergrund die institutionelle „Rückführung in die Gesellschaft“ (Cornel 2018, 31).

3.3 Ausstiegs- und Distanzierungsangebote als Instanzen von De- und Resozialisierung

Für die Analyse der Zielsetzungen und Vorgehensweisen in der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit sind die beiden Konzepte der De- und Resozialisierung in mehrfacher Hinsicht anschlussfähig. So ist auch diesem Arbeitsfeld eine normative Sichtweise eingeschrieben. Hinwendungen bzw. der Verbleib in rechtsextremen Szenen werden als von einer demokratisch-pluralistischen Norm abweichendes Verhalten und „misslungene“ Sozialisation begriffen. Werte, Orientierungen und Verhaltensweisen der rechtsextremen Binnenwelt sind aus dieser Perspektive nicht mit denen der zum Maßstab genommenen, als „normal“ angesehenen Außenwelt vereinbar und sind in ihrer nach außen gerichteten expressiven Manifestation als rechtsextreme Propaganda- und Gewaltstraftaten Gegenstand von strafrechtlicher Verfolgung. So gesehen wird in der Distanzierungs- und Ausstiegsarbeit eine Resozialisierung von Menschen mit abweichenden Einstellungen, Handlungsweisen und Subkulturzugehörigkeiten angestrebt.

Dabei ist der Distanzierungs- und Ausstiegsarbeit wie auch anderen Resozialisierungspraxen an der Schnittstelle von Sozialer Arbeit und Sicherheitssystem das Spannungsverhältnis von Hilfe und sozialer Kontrolle inhärent (Scherr 2015, 172 ff.). Denn einerseits orientiert sie sich an Grundprinzipien Sozialer Arbeit wie Freiwilligkeit, Bedürfnis- und Interessenorientierung und Ergebnisoffenheit (BAG „Ausstieg zum Einstieg“ 2019, 10 f.). Andererseits ist ihre Zielsetzung aber insofern eine erzieherische, als von den Klient:innen eine „kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der [aus normativer Sicht] menschenverachtenden Einstellung, […] die Hinwendung zu einer Lebensweise, die mit den Grundwerten von Demokratie und Pluralität vereinbar ist“ sowie „Gewaltverzicht“ (ebd.; ähnlich auch: o. A. 2014, 235) gefordert wird. Darüber soll eine Abkehr „von delinquentem und/oder deviantem Verhalten“ (o. A. 2014, 235 ff.) erfolgen und wird zum Maßstab für einen „gelungenen Ausstieg“ (BAG „Ausstieg zum Einstieg“ 2019, 10) gemacht. Ausstiegs- und Distanzierungsangebote können damit als Instanzen angesehen werden, die eine Anpassung an gesellschaftlich als erwünscht geltende Normen anstreben. Dabei kann der damit verbundene Anspruch sozialer Kontrolle teilweise durchaus von den Bedürfnissen und Problemeinsichten der Klient:innen abweichen. Für einen professionellen Ansprüchen genügenden Beratungsprozess muss hier eine Aushandlung von und Einigung über Ziele der Beratung erfolgen.

Aus dieser Perspektive heraus verfolgt die Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit eine desozialisatorische und resozialisatorische Absicht: Sie möchte bei ihrer Klientel zum einen eine umfassende Abkehr vom Rechtsextremismus und zum anderen eine „Reintegration in ein demokratisches Milieu“ (ebd.) bewirken. Desozialisatorisch sind demnach alle Zielsetzungen und darauf bezogenen Vorgehensweisen, die eine Abkehr bzw. Loslösung von rechtsextremen Szenen und deren Beziehungsgeflechten, Praktiken, Normen und Deutungssystemen beabsichtigen. Resozialisatorisch sind dagegen all jene Absichten und Praktiken, die die Klient:innen im positiven Sinne bei der Verwirklichung einer „sozialverträglichen Lebensführung“ (o. A. 2014, 235) unterstützen sollen.

4. Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit als Praxis der De- und Resozialisierung – empirische Befunde

4.1 Datengrundlage und methodisches Vorgehen

Als Datengrundlage dienen zwei qualitative Studien, in denen mittels Leitfadeninterviews Praxisperspektiven von Angebotsmitarbeitenden in der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit erhoben wurden. Zum einen wurden im Rahmen der Studie „Einstiege verhindern, Ausstiege begleiten“ der Arbeits- und Forschungsstelle Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit zwischen 2012 und 2014 25 leitfadengestützte Interviews mit Praktiker:innen in staatlichen und zivilgesellschaftlichen Angeboten geführt (Hohnstein/Greuel 2015).[4] Zum anderen beziehen wir uns auf Daten, die 2020 im Kontext der wissenschaftlichen Begleitung des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ im Handlungsbereich Land erhoben wurden.[5] Hier wurden leitfadengestützte Interviews mit Mitarbeitenden in 13 zivilgesellschaftlichen und einem staatlichen Angebot geführt.[6]

Für den vorliegenden Beitrag wurde eine Sekundäranalyse der Interviews beider Erhebungen im Hinblick auf sozialisationsbezogene Fragestellungen durchgeführt. Die Daten wurden mit Blick auf folgende Fragen erneut analysiert: Inwiefern werden in den vorliegenden Daten sozialisatorische Kontexte thematisiert? Welche Sozialisationskontexte gelten als problematisch oder als Ressource? Zeigen sich Versuche, Distanzierungsprozesse über Sozialisationskontexte zu beeinflussen? Was erachten die Befragten als legitime, akzeptable Sozialisation und was nicht? Welche Ziele können in der Arbeit erreicht werden? Inwieweit zeigen sich Grenzen der Beeinflussbarkeit von Sozialisationsprozessen?

Das Auswertungsvorgehen basierte auf der inhaltlich-strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse (Schreier 2014): Ausgehend von früheren Auswertungskategorien und ‑ergebnissen sowie dem Erkenntnisinteresse für den vorliegenden Beitrag haben wir entlang der erkenntnisleitenden Fragestellungen inhaltliche Kategorien zu Praxissichtweisen auf Hinwendungs- und Distanzierungsprozesse sowie darauf bezogene Vorgehensweisen und zugrundeliegende Deutungsmuster entwickelt.[7] Die relevanten Textpassagen wurden erneut codiert und die Daten vergleichend analysiert.

Die Erhebung und die komparative Auswertung erfolgten mit dem Ziel, möglichst breit gestützte Aussagen über das Gesamtfeld der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit treffen zu können. Die im Folgenden zitierten Interviewpassagen dienen daher weniger der Darstellung von einzelfallspezifischen Fallausprägungen denn der Illustration von typischen und mindestens von einem Teil des Praxisfeldes geteilten Deutungen.

Eine Kombination beider zu unterschiedlichen Zeitpunkten erhobenen Datensätze ist in doppelter Hinsicht begründet: Erstens konnte die Fragestellung so auf einer breiteren empirischen Basis untersucht werden. Zweitens lag der übergreifenden Sekundäranalyse der Daten die Ausgangsbeobachtung zu Grunde, dass sich mit Blick auf die Rolle sozialisationsrelevanter Kontexte zwischen beiden Erhebungszeitpunkten im Handlungsfeld keine gravierenden Veränderungen der grundlegenden Handlungsorientierungen, Prinzipien und Vorgehensweisen vollzogen haben und eine vergleichende Auswertung demnach legitimierbar ist.

4.2 Ausstieg und Distanzierung als De- und Resozialisierungsarbeit

Die in den beiden zugrundeliegenden Studien untersuchten Distanzierungs- und Ausstiegsangebote halten für ihre Klient:innen ein breites Spektrum an Unterstützungsleistungen vor, die auf verschiedene und individuell je unterschiedlich relevante Bedarfsdimensionen im Prozess der Abkehr vom Rechtsextremismus reagieren. Hohnstein und Greuel differenzieren entlang der in der Praxis bearbeiteten Problemdimensionen zwischen Maßnahmen, die auf 1) die sozialen Bezüge und Interaktionen der Klientel, 2)deren Persönlichkeit sowie 3) deren ideologische Orientierungen und Weltsichten ausgerichtet sind (2015, 93 ff.). Für alle drei Dimensionen definieren Distanzierungs- und Ausstiegsangebote für ihre Klientel, zum Teil auch in gemeinsamen Aushandlungsprozessen, das im Arbeitsprozess zu erreichende „richtige“ Ziel und das abzulegende „Falsche“. Einerseits fordern, begleiten und forcieren sie Brüche mit dem aus normativer Sicht Falschen (Desozialisierung), andererseits schaffen sie als Mittler bzw. „Türöffner“ und „Reintegrationshelfer“ Zugangswege zur Gesellschaft außerhalb der Szene und praktizieren damit „Lebenshilfe ohne Rechtsextremismus“ (E1_Int.6:203).

4.2.1 Soziale Distanzierung und Reintegration

Eine zentrale Zielstellung der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit ist die soziale Distanzierung aus rechtsextremen Strukturen, denn die Änderung der sozialen Kontexte der Klient:innen gilt als Erfolgsfaktor für einen stabilen Ausstieg. Aus Perspektive der Desozialisierung ist hier die Abkehr von rechtsextremen Gruppierungen und Erlebniswelten zentral: Es sollen keine Freundschaften mehr ins rechtsextreme Milieu gepflegt, keine einschlägigen Veranstaltungen wie Konzerte oder Demonstrationen besucht und keine (physischen wie virtuellen) Kontakte mehr zu Personen aus rechtsextremen Milieus gepflegt werden. Generell sollen sich die Klient:innen nicht mehr zu rechtsextremen Gruppen zugehörig fühlen. Weitere Erwartungen betreffen das Ablegen äußerlich sichtbarer Zuordnungen und Selbstpositionierungen, z. B. durch einschlägige Symbole und einen bestimmten Kleidungsstil, sowie das Entfernen oder Überstechen von Tätowierungen. In der Regel ist dieser konsequente Bruch grundlegende Bedingung für die Beratungsarbeit, er wird von den Klient:innen entsprechend eingefordert und durch die Angebote (bisweilen rituell inszeniert) begleitet und unterstützt.

Gerade bei Personen, die lange Jahre in der Szene aktiv waren, handelt es sich um tiefgreifende, mitunter stark belastende desozialisatorische Prozesse. Daher ist die soziale Abkehr von der Szene auch als längerfristiger Entwicklungsprozess zu verstehen. Angebote unterscheiden hier zwischen Sympathisant:innen, bei denen soziale Distanzierungsprozesse insofern einfacher sind, „weil meistens noch relativ viele nicht-szenebezogene Kontakte im Hintergrund sind, weil die meist noch andere Alternativpläne haben, was Zukunftsentwicklung anbelangt“ (E2_Int.1:281-283). Demgegenüber gestalten sich z. B. bei rechtsextremen Kadern, also Personen die über Jahre in Führungspositionen waren, Ausstiegsprozesse eher langwierig. Desozialisierungsprozesse können hier z. B. auch Umzüge in ein anderes Bundesland oder einen Namenswechsel beinhalten.

Gerade weil der Bruch von allen sozialen Verbindungen zum Rechtsextremismus und der damit verbundene Wegfall von sozialem Halt und Zugehörigkeit einen tiefgreifenden Einschnitt in das Leben der Betroffenen darstellt, werden Klient:innen zugleich in ihrer Integration in die soziale Welt außerhalb des Rechtsextremismus unterstützt. Dahinter steht die Sorge, dass durch den Verlust der alten sozialen Kontakte und alltagsstrukturierenden Aktivitäten ein soziales Vakuum entstehen könnte. Im Weg „raus aus der Szene“ (E1_Int.16:101) und „wieder in die Zivilgesellschaft rein“ (E1_Int.5:63) kommen deshalb de- und resozialisatorische Prozesse zugleich mit wechselnden Gewichtungen zum Tragen.

Die Angebote versuchen, anknüpfend an die jeweilige Biografie und entlang der individuellen Bedürfnisse, soziale Bezüge herzustellen und beim Aufbau bzw. der Reaktivierung alternativer Netzwerke zu helfen. Wenn es noch Bindungen zum sozialen Umfeld außerhalb des Rechtsextremismus gibt, beispielsweise zu Angehörigen (die selbst keine rechtsextremen Einstellungen vertreten), werden diese teilweise als Unterstützungsressourcen miteinbezogen. Sie können als „stabilisierender Anker beim Neuanfang“ (E1_Int.2:162) fungieren, wenngleich hier auch Beziehungsdynamiken und eventuelle zurückliegende Ablehnungen berücksichtigt werden müssen. Zum Teil unterstützen die Angebote ihre Klient:innen außerdem beim aktiven Erschließen neuer Kontakte, z. B. im Rahmen von Sportvereinen.

Die Idee hinter diesem Vorgehen ist, dass durch die Einbindung in verschiedene soziale Bezüge eine Stabilität und nachhaltige Loslösung aus rechten Strukturen gelingen kann. Diese Grundidee wird von einer Fachkraft im sechsten Interview in der zweiten Erhebung folgendermaßen formuliert:

Stabilisierung und Nachhaltigkeit, […] da geht es dann darum, dass die Personen irgendwo andocken können, außerszenisch, dass die einen Job haben, dass die gefestigt sind, dass sie nicht irgendwie in einer Krise direkt wieder Kontakt zu alten Szene-Bekannten aufnehmen müssen, dass wir sozusagen gemeinsam mit ihnen ein Helfer-Netzwerk aufbauen. (E2_Int.6:193-197)

Im Vordergrund der Resozialisierung steht somit hier die gesellschaftliche Integration. Was das aber konkret bedeutet, zu welchen Instanzen und Gruppen die Klient:innen Zugehörigkeitsgefühle entwickeln sollen, welche Auffassung von Integration (zwischen Anpassung und Individualität) dem zugrunde liegt, lässt sich den Daten nicht pauschal entnehmen.

Sichtbar wird aber, dass die Fachkräfte zum Teil selbst eine Rolle als neue soziale Bezugspersonen übernehmen. Manche Angebote sprechen davon, dass sie für eine gewisse Zeit „Ersatzmama, Ersatzpapa“ (E1_Int.6:163) werden. Dabei wird auch unter Bezugnahme auf die Professionalität des eigenen Handelns betont, dass dies nur temporär funktionieren kann, was auch entsprechend kommuniziert wird. In den meisten Interviews wird eine solche, wenn auch nur temporäre, einseitige Auflösung des Spannungsfelds zwischen Nähe und Distanz in der Beratungsbeziehung hingegen nicht sichtbar. Hier ist es eher so, dass die Angebote sich zwar selbst als wertschätzendes Gegenüber verstehen, das ein Interesse an der Person der Adressierten zeigt, nicht jedoch selbst die Rolle alternativer Sozialbeziehungen zu erfüllen versucht, sondern die Adressierten bei der Erschließung neuer bzw. der Reaktivierung alter sozialer Kontakte unterstützt.

4.2.2 Biografische Aufarbeitung und Persönlichkeitsstärkung

Die zweite Zieldimension in der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit bezieht sich stärker auf die biografische Entwicklung, die Persönlichkeitsstruktur und das Verhalten von Klient:innen und verfolgt das Ziel, durch die Bearbeitung von aus der Außenperspektive problematischen Verhaltensmustern, Bedürfnisstrukturen, sozioemotionalen Belastungen oder therapeutischen Problemlagen Distanzierungsprozesse zu ermöglichen und zu fördern. Dahinter steht erstens die Annahme, dass sowohl psychosoziale Belastungen sowie psychische Erkrankungen eine längerfristige Fallarbeit erschweren oder gar verunmöglichen können. Zweitens werden ungünstige biografische Erfahrungen und Aufwachsensbedingungen aufgrund ihrer sozialisatorischen Bedeutung als mitursächlich für die spätere Hinwendung junger Menschen zum Rechtsextremismus erachtet. Drittens kommt der Bearbeitung entsprechender Belastungen eine unmittelbar ausstiegsabsichernde Funktion zu, da die Abkehr vom Rechtsextremismus als krisenhafter, langwieriger Übergang mit vielen Unsicherheiten, Brüchen, Verlusten und Konfrontationen mit der eigenen Lebensgeschichte verbunden ist und die Betroffenen auch auf Dauer stark fordern und bisweilen überfordern kann (Hohnstein/Greuel 2015, 128 ff.).

Desozialisierung bedeutet vor diesem Hintergrund zunächst einmal, die biografische Vergangenheit der Klientel professionell unterstützt zu reflektieren und die darin eingelagerten sozialisatorischen Muster, Bedürfnisse, Erfahrungen und Bewältigungsstrategien sichtbar zu machen, die für die Hinwendung und den Verbleib in rechtsextremen Szenen (mit)ursächlich sein könnten. Dies geschieht in der Regel mittels Biografiearbeit, mitunter werden bei Bedarf, z. B. wenn der Verdacht auf tiefer liegende Traumata besteht, auch externe therapeutische Hilfen einbezogen. Ziel ist auch hier, die Klientel dabei zu unterstützen, mit problematischen Mustern wie festverankertem Rollenhandeln, Routinen (wie exzessivem Alkoholkonsum) oder aggressiven, gewaltorientierten oder Verantwortung externalisierenden Verhaltensweisen zu brechen.

Eine wichtige Funktion dieses Vorgehens ist die Verantwortungsübernahme für eigene Entscheidungen. Aus Sicht der Fachkräfte ist dieses Bewusstmachen der eigenen Handlungsmacht ein wichtiger Punkt für die Veränderung: „Nur wenn du selber die Verantwortung dafür übernimmst, kannst du auch selbst dein Leben ändern, weil du hast es in der Hand. Das kann auch niemand für dich machen“ (E2_Int.2:596-598).

Durch das Aufbrechen gängiger Narrative des Reinrutschens bzw. der Schuldzuweisung an „falsche Freunde“ sollen die eigenen Entscheidungen herausgearbeitet werden sowie die Bedürfnisse, auf deren Grundlage diese Entscheidungen getroffen worden sind. Im nächsten Schritt wird dann geschaut, ob diese Bedürfnisse noch vorhanden sind. Falls ja, gilt es, sie vom Rechtsextremismus als Kompensationspraxis abzutrennen und nach unproblematischen Alternativen für ihre Befriedigung zu suchen. Im folgenden Interviewauszug wird plastisch, wie mit der Klientel in den Angeboten hierzu gearbeitet wird und welche Zielsetzung dabei transparent wird:

Sind diese Bedürfnisse noch da? Brauchst Du immer noch die, die Du damals gesucht hast, weil dann steigst Du auf und suchst Dir die nächste selbstschädigende, fremdschädigende Gruppe und machst bei denen mit – das ist ja auch, dann bist Du kein Aussteiger, sondern ein Umsteiger. Dann bist Du morgen bei den Hooligans unterwegs oder übermorgen bei den Drogenmilieu-Rockern oder was auch immer. Diese Bedürfnisse müssen irgendwo auf friedfertige, gewaltfreie, hassfreie Art und Weise befriedigt werden. (E2_Int.3:417-423)

Die hierbei in Gang gesetzten individuellen Auseinandersetzungsprozesse sind eng verbunden mit resozialisatorischen Praxen, die die Ausstiegswilligen dabei unterstützen sollen, ihre Bedürfnisse und Verhaltensweisen nicht nur zu ergründen und zu verstehen, sondern konkret in „sozial verträglichere“ Formen zu lenken: „Adäquate Selbstverwirklichungsmöglichkeiten sollen in der Normalität des individuellen Alltags gefunden werden und Desintegrationsprozesse ablösen“ (E1_Int.2:461). Derweil unterstützen die Fachkräfte dabei, „passendere“ neue Beschäftigungsmöglichkeiten zu finden, und helfen beim Erlernen alternativer Handlungsroutinen und Bewältigungsstrategien.

Die Fachkräfte begreifen sich bei dieser persönlichkeitsbezogenen Arbeit selbst als positive Orientierungs- und Vergleichspunkte, präsentieren alternative Rollenbilder, machen gewaltfreie Formen der Konfliktaushandlung erlebbar und bieten sich mitunter bei akuten Problemen und Lebenskrisen während des Ausstiegsprozesses als Bezugspersonen an.

Bei denjenigen Klient:innen, deren Persönlichkeit durch die Fachkräfte als eher passiv und fremdbestimmt gedeutet wird und die daher eher als rechtsextreme Mitläufer:innen kategorisiert werden, bemühen sich Fachkräfte außerdem um individuelle Stärkung, z. B. hinsichtlich grundlegender Kompetenzen wie Empathiefähigkeit, Beziehungsbereitschaft, Kommunikationsfähigkeit oder Eigenverantwortlichkeit. Wie der folgende Interviewauszug illustriert, ist dabei das Ziel eine

Selbstständigkeit, die sie vorher nicht hatten. […] Und auch mit dieser Selbstständigkeit dann besser entscheiden können und auch verifizieren können, was sie in ihrer Zukunft machen wollen. Und sich auch nicht so leicht von was überzeugen lassen. Sondern selber ihre Gedanken einschalten. (E1_Int.6:252)

Dabei wird implizit vorausgesetzt, dass mit diesem Prozess der Persönlichkeitsstärkung eine „positive“ Entwicklung im Sinne einer bewussten Übernahme demokratischer Normen und gewaltfreier Handlungsformen einhergeht. Ausgeblendet bleibt dabei die Möglichkeit, dass mit zunehmender Selbstwahrnehmung und „Mündigkeit“ auch der Rechtsextremismus wieder als Bezugswelt an Plausibilität gewinnen kann und die eigentlich angestrebte Distanzierung in Frage gestellt wird.

4.2.3 Ideologische Distanzierung und Orientierungshilfen

Die Distanzierung der Klient:innen von rechtsextremer Ideologie ist ein zentrales Ziel in der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit. Sie gilt als essentiell, um dauerhaft einen Ausstieg aus rechtsextremen Gruppen abzusichern und ideologisch motivierten Verhaltensweisen für die Zukunft vorzubeugen. Entsprechend wird eine zielgerichtete Beeinflussung der Weltbilder von Klient:innen von den Fachkräften als höchst relevant erachtet. 

Die Fachkräfte streben danach, eine Desozialisierung in Form der Distanzierung von rechtsextremen Haltungen bei den Klient:innen zu erreichen. Im Kern geht es aus ihrer Sicht um die „Abwendung von rechtsextremer Ideologie“ (E1_Int.2:72), „das Verlernen von Hass und Gewaltbereitschaft“ (E1_Int.2:74), den „Abschied von rechtsextremen Neigungen“ (E1_Int.2:74). Als Schwierigkeit lässt sich dabei ausmachen, dass die angesprochenen rechtsextremen Haltungen bei den meisten Klient:innen tief verinnerlicht sind. Sie sind als Orientierungsmuster subjektiv funktional, weil sie die Welt ordnen und strukturieren und dem Subjekt hierin einen Platz zuweisen. Die gewünschte Desozialisierung ist entsprechend schwierig herzustellen, weil Struktur, Ordnung und Sinn für das Subjekt potentiell verloren gehen. Entsprechend müssen die Fachkräfte häufig gegen Widerstände arbeiten. In einem Interview wird davon gesprochen, dass es darum gehe, „rechtsextremistische Orientierungen aufzubrechen“ (E1_Int.2:4). Die Metapher des „Aufbrechens“ verdeutlicht, dass hier viel Energie und Geduld vonnöten sind.

Von den Interviewten wird die Distanzierung von rechtsextremen Orientierungen auf verschiedene Weise forciert. Wenn die ideologischen Positionen bei den Adressierten (noch) nicht verfestigt sind, versucht ein Teil der Fachkräfte, die rechtsextremen Argumente und Deutungen der Klient:innen zu widerlegen, mit ihnen zu diskutieren, Fakten darzulegen, „Lügen [zu] entlarven“ (E1_Int.2:167), „Widersprüche […] offen[zu]legen“ (E1_Int.2:167) und zu „entzaubern“ (E1_Int.2:167). Daneben werden in einigen Angeboten Ausstellungen oder Gedenkstätten mit Bezug zu Rechtsextremismus oder dem historischen Nationalsozialismus besucht oder persönliche Begegnungen mit „politischen Opponenten“ (E1_Int.2:128) oder Minderheitenangehörigen, die unter Rechtsextremen den Status von Feindbildern haben, organisiert. Die genannten Strategien beschreiben die Fachkräfte als geeignet, um die nicht verfestigten rechtsextremen Weltbilder der Klient:innen zu irritieren und letztlich dazu beizutragen, dass sie sich hiervon abwenden.

Gleichzeitig berichten die Interviewten, dass es in mehrfacher Hinsicht schwierig sei, diese Zweifel von außen zu fördern, insbesondere, wenn verfestigte Positionen vorliegen. In diesem Sinne wird in einem Interview von einer deutlichen Grenze der Beeinflussbarkeit berichtet: „[G]rad was diese Rassentrennung und […] Rassismus betrifft, da sind wir bei ihm an einem Punkt, wo wir jetzt momentan die Frage haben: Können wir da jemals was ändern oder bleibt ihm das bis zum Schluss?“ (E1_Int. 6:218). Darüber hinaus werden häufig auch ethische Probleme benannt, die entstehen, wenn erwartet wird, dass bestehende rechtsextreme Weltbilder sich durch die Einflussnahme der Fachkräfte stark verändern. Eine solche Veränderung wird als zu stark und tendenziell manipulativ abgelehnt und als „Gehirnwäsche“ (E1_Int.6:110) aufgefasst, die weder legitim noch realistisch sei. Immer wieder verweisen die Fachkräfte auch darauf, dass bereits die Herauslösung aus der rechtsextremen Gruppierungen bzw. die Etablierung alternativer sozialer Kontakte und die Distanzierung von rechtsextremen Verhaltensweisen (z. B. nicht mehr praktiziertes Gewalthandeln oder eine Teilnahme an einschlägigen Demonstrationen) immense Erfolge in der Ausstiegsbegleitung darstellen. Eine Beeinflussung der Einstellungen ist zwar der prinzipielle Anspruch der Arbeit, der jedoch mit den genannten Herausforderungen verbunden ist und deswegen in manchen Fällen eher nachrangigen Status hat: „Ähm, aber sie sind alle [Klopfen auf den Tisch] von rechter Szene weg. So, es gibt natürlich auch immer noch Einstellungen, diffus mal, mal weniger diffus“ [E1_Int.4:274].

Wird die inhaltlich-ideologische Auseinandersetzung im Rahmen von Ausstiegsbegleitung unter der Perspektive von Resozialisierung betrachtet, wirft dies die Frage danach auf, welche Haltungen bei den Klient:innen eigentlich idealerweise an Stelle der rechtsextremen Ideologie treten sollen bzw. auch als nötig erachtet werden, um eine Fallbegleitung als erfolgreich einzustufen. Als Mindestanforderung wird dabei eine Grundrechtsorientierung betrachtet, die z. B. Gewaltakte gegen andere Menschen ausschließt. So sei es für die Klient:innen erforderlich, „im Umgang mit anderen das Recht auf Menschenwürde und Unversehrtheit der Person zu akzeptieren“ (E1_Int.2:74). Über diese Mindestanforderung hinaus stellt sich für die Praktiker:innen die Frage, was wünschenswerte Einstellungsänderungen bei den Klient:innen wären. Auch hier lässt sich eine gewisse Zurückhaltung beobachten, die sich aus den bereits benannten Grenzen der Beeinflussbarkeit und ethischen Grenzen der Beeinflussung des Gegenübers ergeben: „Ich kann keine Gehirnwäsche betreiben, wenn jemand national denkt, will ich ihm das auch nicht nehmen, na. Aber ich will, dass er seine Vorurteile ablegt, dass er vom rechten Rand wieder eher ein stückweit in die Mitte rutscht“ [E1 Int.6:167]. Beabsichtigt wird hier, dass Abwertungskonstruktionen aufgegeben werden oder sie zumindest differenzierter und weniger pauschal erfolgen. Nicht beabsichtigt ist hingegen die Transformation von rechtsextremen Weltbildern zu liberalen oder politisch linken Ansichten.

Um die gewünschte weltanschauliche Resozialisierung zu erreichen, greifen die Fachkräfte auf verschiedene Strategien zurück. Häufig praktiziert wird die gemeinsame Suche mit den Klient:innen nach funktionalen Äquivalenten. Im Mittelpunkt steht hier zunächst die Frage, welche tieferen Bedürfnisse hinter der Ideologie des Rechtsextremismus steht. Hieran anschließend werden Möglichkeiten eruiert, diese Bedürfnisse jenseits dieser Ideologie und auf sozialverträglichere Weise zu stillen. Zusätzlich unterstützt wird die weltanschauliche Resozialisierung durch neue (alte) Sozialkontakte, die nicht rechtsextrem sind und die Klient:innen quasi „automatisch“ mit anderen Weltsichten konfrontieren bzw. Alternativen zu rechtsextremen Weltdeutungen aufzeigen (s. o.).

Die Beziehung zwischen Fachkräften und Klient:innen wird von vielen Angeboten als wichtige Basis und Instrument für die inhaltliche Auseinandersetzung hervorgehoben. Gerade junge Erwachsene und Jugendliche bräuchten ein „robustes, interessiertes, entwicklungsförderndes Gegenüber. Also eine Person, die auch für etwas steht, die als Reibungsfläche da ist, die so das andere auch anbietet, ohne ihnen das aufzudrängen, aufzuzwingen“ (E2_Int.4:204-207). In den Interviews wird häufig betont, dass den Fachkräften und ihren eigenen Werten und Haltungen, die sie in der Beratung deutlich kommunizieren, eine wichtige Rolle zukommt:

Wir bieten sowas wie eine Fläche, bei der man solche Konflikte austragen kann mit Menschen, die offensichtlich anderer politischer Überzeugung sind als das Gegenüber, das aber gleichzeitig auf einer persönlichen Ebene wertschätzend tun. Das ist eben eine Erfahrung, die viele noch nicht gemacht haben, diese Konflikte eben auch austragen zu können unter bestimmten Voraussetzungen und das auch mit Menschen, die nicht der gleichen Meinung sind. (E2_Int.5:226-231)

Insofern hat diese Form der Auseinandersetzung, die inhaltlich geführt wird und gegensätzliche Positionen sichtbar macht, aber immer wertschätzend gegenüber der anderen Person geführt wird, Vorbildcharakter. Sie macht einen „demokratischen Umgang“ (E1_Int.2:79) erfahrbar: Trotz gegensätzlicher inhaltlicher Positionen begegnen sich Personen respektvoll und achten einander. Hier sehen die Fachkräfte sich selbst in einer Vorbildfunktion und sehen positive Effekte auf Seiten der Klient:innen.

5. Fazit

Ausgehend von unseren theoretischen Ausgangsüberlegungen und vor dem Hintergrund der empirischen Analysen kann Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit als (nach)sozialisatorisches Beratungs- und Unterstützungsangebot beschrieben werden, das die Unterstützung rechtsextrem orientierter und assoziierter Menschen bei deren Abkehr vom Rechtsextremismus mittels einer doppelten Strategie von de- und resozialisatorischen Praktiken verfolgt. Im Fokus stehen sowohl die Ver- und Bearbeitung der Vergangenheit als auch Weichenstellungen für eine Zukunft ausstiegswilliger Menschen außerhalb rechtsextremer Lebenswelten. Da Gruppenbezüge und -mechanismen im Rechtsextremismus eine bedeutende Rolle spielen und der Wegfall dieser sozialen Bezüge im Sinne einer ausschließlichen Desozialisierung Identitätskrisen verursachen kann, kann eine langfristige und nachhaltige Distanzierung nicht allein durch eine Herauslösung aus bzw. Abkehr von rechtsextremen Gruppen und Deutungsangeboten erreicht werden, sondern erfordert immer auch sozial-, verhaltens- und sinnbezogene Alternativen mit individuell funktionaler Plausibilität. Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit agiert dabei ganzheitlich, indem sie versucht, alle relevanten sozialen, individuellen und ideologisch-weltanschaulichen Dimensionen rechtsextremer Zugehörigkeit in den Blick zu nehmen. In der Praxis vollzieht sich dies im intensiven Wechselspiel zwischen Klient:innen, den für sie relevanten sozialisatorischen Kontexten und den Berater:innen, was Beziehungsarbeit zu einem zentralen Element in allen drei genannten inhaltlichen Bereichen von Distanzierungs- und Ausstiegsarbeit macht.

Dabei können desozialisatorische Prozesse nur als reflektierte Distanzierung und Abgrenzung erfolgen, zumal die rechtsextreme Lebensphase selbstredend nicht „gelöscht“ werden kann und daher Teil der Biografie bleibt. Zwar definieren Distanzierungs- und Ausstiegsangebote aus normativer Sicht nichtakzeptable Orientierungen, Beziehungen, Freizeitaktivitäten und Verhaltensweisen, jedoch kann eine dauerhafte Abkehr von diesen nur dann erreicht werden, wenn die Klient:innen, unterstützt durch gemeinsame Aufarbeitung und angeleitete Reflexion, ein Verständnis für die Erfordernisse einer Abkehr von der bisherigen Lebensweise und einer Neuorientierung aufweisen bzw. entwickeln. Distanzierungs- und Ausstiegsarbeit kann demnach nur von außen Veränderungen anstoßen bzw. Impulse geben, die Veränderungsleistung selbst kann nur die ausstiegswillige Person erbringen. Kritisch zu diskutieren sind dabei verschiedene Normativitätsaspekte, die den de- und resozialisatorischen Praxen der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit eingeschrieben sind. So ist im Arbeitsprozess individuell zu klären, welche Bedürfnisse und Muster im Ausstiegsprozess als illegitim oder hinderlich zu erachten sind oder welche funktionalen Äquivalente, d. h. Möglichkeiten, um Bedürfnisse auf „unproblematische“ und „sozialverträgliche“ Weise zu befriedigen, alternativ förderwürdig sind – welche Formen von politischem Engagement oder Freizeitbeschäftigung beispielsweise geeignet sind. Hier kommt insbesondere den Ausstiegsangeboten die vornehmliche Definitionsmacht zu.

Zugleich ist das jeweils erreichbare Arbeitsergebnis, also die Definition dessen, was von Fall zu Fall als gelungener Ausstieg und erfolgreiche Resozialisierung begriffen wird, trotz aller Normativität, die den Zielsetzungen der Arbeit zu Grunde liegt und diese als soziale Interventionspraxis legitimiert, individuell verschieden, Gegenstand von Auslegung und Aushandlung und immer auch aus dem Arbeitsprozess und -fortschritt heraus definiert. Immerhin können Fachkräfte ihren Klient:innen kaum die ihrer Arbeit zugrunde liegenden Normen „überstülpen“. Desozialisierung und die mit dem (Re-)Integrationsgedanken eng verbundene Resozialisierung bleibt damit ein nicht vollends standardisierbarer und zu einem gewissen Maße immer noch ergebnisoffener Prozess, der Ausdeutungsspielraum dahingehend zulässt, wieviel Anpassung und „Normalisierung“ auf welchen Ebenen von den Einzelnen abverlangt bzw. von diesen eingelöst werden kann. Insbesondere mit Blick auf ideologische Distanzierungen ist unmittelbar einsichtig, dass Zielhorizonte und Bearbeitungsweisen im Wesentlichen davon abhängen, wie sehr rechtsextreme Weltbilder verinnerlicht sind. Ist dies der Fall, dann ist eine tiefgreifende Distanzierung nur schwer zu erreichen. Insbesondere Mittel wie Widerspruch, Gegenargumentationen oder auch Konfrontationen erweisen sich hier als ungeeignet.

Hinsichtlich des Stellenwertes der verschiedenen Arbeitsschwerpunkte zeigt die Analyse, dass defizitäre Sozialisationsbedingungen aus Sicht der Fachpraxis als zentrale Bedingungen für Hinwendungen zum Rechtsextremismus erachtet werden und ein wichtiger Arbeitsauftrag der Ausstiegsarbeit in der Kompensation dieser Bedingungen gesehen wird. Diese Perspektive der Fachkräfte dürfte nicht zuletzt auch auf das eigene, v. a. sozialarbeiterisch geprägte Handlungsrepertoire zurückzuführen sein. Kritisch reflektiert werden muss in diesem Zusammenhang, dass hier die Gefahr von Risikokonstruktionen besteht, die eine starke Kausalität von ungünstigen Sozialisationsbedingungen und rechtsextremen Haltungen und/oder Gruppenzugehörigkeiten konstruiert. Problematisch wäre dies auch, weil Rechtsextremismus damit v. a. als Reaktion auf defizitäre Sozialisationsbedingungen verstanden wird und der politische Gehalt ausgeblendet bleibt.

Darüber hinaus lässt sich kritisieren, dass der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit wie auch dem Konzept der Resozialisierung im Allgemeinen die Idee eingelagert ist, es existiere „die“ eine Gesellschaft als holistisches Konstrukt mit von allen geteilten Normen, die für Aussteiger:innen bei einem erfolgreichen Ausstieg als Maßstab und Orientierungsrahmen zu gelten haben. Gerade mit Blick auf die ideologisch-weltanschauliche Dimension von Ausstiegsprozessen muss jedoch konstatiert werden, dass das, was innerhalb der demokratisch und rechtsstaatlich verfassten Gesellschaft normativ erwünscht oder aber zu akzeptieren ist, selbst eher als Werte- und Einstellungsspektrum denn als ein feststehendes Muster zu begreifen ist. Dies zeigen etwa der öffentliche Diskurs um fremdenfeindliche, rassistische, sexistische und anderweitig gruppenabwertende Haltungen in der bundesdeutschen Bevölkerung (Zick et al. 2019a; Decker/Brähler 2020) oder Debatten um die in einer „wehrhaften Demokratie“ zulässigen Aktivitäten, z. B. des Verfassungsschutzes. Trotz der allgemeinen Zieldefinition von Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit, ihre Klient:innen im Übergang zu einer „nicht-extremistischen“ und „im Sinne der Demokratie legitimen“ Lebensweise zu unterstützen, bleibt ein Spielraum, bis zu welchem Grad problematische Einstellungen und Positionen (die sich nicht in strafrechtlich relevantem Verhalten äußern) keine „Abweichung von der gesellschaftlichen Norm“ mehr darstellen und damit als legitimes Ausstiegsergebnis zu werten sind.

Anders herum muss schließlich auch gefragt werden, wie offen sich die Mehrheitsgesellschaft gegenüber Austeiger:innen aus dem Rechtsextremismus zeigt, zumal Resozialisierung überhaupt erst voraussetzt, dass Reintegration erwünscht und zulässig ist. Zwar können de- und resozialisiatorische Maßnahmen versuchen, möglichst proaktiv potenziellen Stigmatisierungen seitens der Öffentlichkeit entgegenzuwirken, doch zeigt sich empirisch, dass öffentliche Outings und Druck auf signifikante soziale Unterstützungskontexte wie Arbeitgeber, neue Freund:innen o. Ä. Ausstiegs- und Reintegrationsprozesse bisweilen deutlich erschweren oder gar verunmöglichen. So navigiert Ausstiegs- und Distanzierungsbegleitung im Wechselspiel zwischen ausstiegswilligen Individuen und Gesellschaft und deren rechtsextremer Vergangenheit und Zukunft außerhalb des Rechtsextremismus und bleibt ein bis zuletzt ergebnisoffener Prozess, der sowohl vom Willen der Aussteiger:innen, als auch von deren Umwelt abhängt.

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[1] Dieser Beitrag ist im Rahmen einer Kooperation der Projekte „Programmevaluation Demokratie leben!“ und „Arbeits- und Forschungsstelle Demokratieförderung und Radikalisierungsprävention“ am Deutschen Jugendinstitut Halle (Saale) entstanden. Beide Projekte werden vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) von 2020–2024 gefördert. Für inhaltliche Aussagen tragen die Autor:innen die Verantwortung.

[2] In Wissenschaft und Praxis gibt es keine einheitliche Verwendung bzw. Differenzierung der Begriffe Ausstieg und Distanzierung (Tepper 2020, 54 ff.; Figlestahler/Schau i. E., 20 ff.). Da in der Praxis beide Begriffe gebräuchlich sind, verwenden wir sie im Folgenden synonym für Prozesse der Abwendung von rechtsextremen Strukturen und Ideologien.

[3] Entgegen des in der Fachdebatte etablierten Begriffs „Desozialisation“ nutzen wir in diesem Artikel den weniger statischen Begriff der Desozialisierung, um der Prozesshaftigkeit und Ergebnisoffenheit von Distanzierungsprozessen Rechnung zu tragen.

[4] Das Projekt wurde gefördert im Bundesprogramm „TOLERANZ FÖRDERN – KOMPETENZ STÄRKEN“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. An der Studie wirkten Michaela Glaser, Frank Greuel und Sally Hohnstein mit. Untersucht wurden in einer Vollerhebung staatliche und zivilgesellschaftliche Angebote der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit im Kontext Rechtsextremismus.

[5] Das beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend angesiedelte Bundesprogramm „Demokratie leben!“ fördert seit 2015 zivilgesellschaftliche Projekte zur Demokratieförderung, Vielfaltgestaltung und Extremismusprävention. Im Handlungsbereich Land werden auf föderaler Ebene neben Landes-Demokratiezentren auch Beratungsangebote gegen Extremismus gefördert, hierzu zählen u. a. Angebote der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit im Kontext Rechtsextremismus.

[6] Zitate aus den Interviews werden im Folgenden mit E1 für die erste und E2 für die zweite Erhebung gekennzeichnet.

[7] Dabei wurden folgende Kategorien verwendet: Sozialisationskontexte, sozialisationsbezogene Vorgehensweisen, normative Annahmen, Zielsetzungen/Ergebnisreflexion, Grenzen/Scheitern.