Ökosystem Heim als entkoppelte Welt: Perspektiven von Care Leavern auf den Sozialisationskontext Heim

Sarina Ahmed, Angela Rein, Dorothee Schaffner


1. Einleitung 

Im Beitrag geht es um den Sozialisationskontext Heim aus der Perspektive von jungen Menschen, die aus Kontexten der stationären Erziehungshilfe austreten und sich im Übergang ins Erwachsenenalter befinden. Diese Personen, um deren Erfahrungen und Sichtweisen es hier geht, werden im internationalen Forschungs- und Fachdiskurs als Care Leaver bezeichnet und wir gehen der Frage nach, welche Konsequenzen aus ihrer Perspektive auf den Sozialisationskontext Heim in fachlicher und fachpolitischer Hinsicht gezogen werden können. Forschungen im Feld der stationären Erziehungshilfe und zum sozialpädagogisch gestalteten Ort (Winkler 1988) des Aufwachsens ausserhalb der Familie liegen zahlreich vor (Pluto et al. 2020). Als sozialpädagogischer Ort gerät dabei die Bedeutung von Sorge, Erziehung und Bildung in den Blick und die Frage, wie im Heim Prozesse der Vergesellschaftung und damit der Sozialisation gestaltet werden. Mit einer Perspektive auf Sozialisation in der Heimerziehung stellt sich die Frage, wie das Heim als Lebensraum gestaltet wird und welche gesellschaftlichen Ordnungen dort für Kinder und Jugendliche erfahrbar und relevant werden. Die Begriffe „Heim“ und „Heimerziehung“ werden dabei zunehmend kritisch diskutiert aufgrund der stigmatisierenden Wirkungen, die unter anderem auch mit der Geschichte der Heimerziehung zusammenhängen (Lengwiler et al. 2013).[1] Gleichzeitig dienen die Begriffe in der Fachöffentlichkeit nach wie vor als Sammelbegriffe für vielfältige Formen der ausserfamiliären Unterbringung von Kindern und Jugendlichen und umfassen unterschiedliche Wohn- und Platzierungsformen (Pluto et al. 2020). 

Übergangsprozesse aus stationären erzieherischen Hilfen ins Erwachsenenalter („Leaving Care“) haben als Thema in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum an Beachtung gewonnen (Göbel et al. 2020; Köngeter et al. 2012). Prozesse des Leaving Care sind dabei eng verwoben mit Prozessen der Entstandardisierung und Biographisierung von Lebensläufen (Wanka et al. 2020). Hier zeigt die Übergansforschung auf, dass sich Übergansverläufe pluralisiert und verlängert und eher in Yo-Yo-Bewegungen als linear verlaufen (Stauber/Walther 2002). Institutionelle Vorstellungen in bspw. der Schule oder in Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe halten dabei aber stark an erwerbsarbeitszentrierten und linearen Vorstellungen des Übergangs ins Erwachsenenalter fest (Walther et al. 2020).

Dies bringt für Care Leaver Bewältigungsanforderungen mit sich, auf die im Folgenden eingegangen wird. Im Zentrum steht die Sozialisationsinstanz Heim, die jene der Familie vorübergehend ersetzt oder ergänzt. Daraus entsteht die Herausforderung sich in wechselnden und meist sehr unterschiedlichen Aufwachskontexten zurechtzufinden und diese biographisch anzueignen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, was das Heim als Sozialisationskontext aus der Perspektive von Care Leavern auszeichnet und wie diese Erfahrungen im Heim mit ihrem Übergang ins Erwachsenenalter und ihrem selbstverantworteten Leben verbunden sind. Diese Frage stand bislang wenig im Zentrum einschlägiger Forschung.

2. Perspektiven auf Sozialisation in der Forschung zu Heimerziehung und Leaving Care

In der Schweiz und international wird in Forschungen sehr stark auf die Benachteiligungen von Care Leavern im Vergleich zur Gruppe der jungen Erwachsenen hingewiesen, die im familiären Kontext aufgewachsen sind (Stein 2006; Ward 2009). Hier werden zunächst grosse Differenzen in Bezug auf das Auszugsalter sichtbar. Im Vergleich zu Jugendlichen, die im familiäre Kontext aufwachsen, müssen Care Leaver das Heim in der Regel früher verlassen (Rein 2018; Schaffner/Rein 2014) und sie tun dies dann meist nicht freiwillig und aufgrund eigener lebensweltlicher Aspirationen, sondern aufgrund politisch-rechtlicher Regularien.

Ähnlich wie die Gruppe ihrer Peers sind Care Leaver dazu angehalten, Übergänge in unterschiedlichen Lebensbereichen parallel zu gestalten. Im Unterschied zur Gruppe der Gleichaltrigen erfolgen die Übergänge i. d. R. aber mit weniger sozialer, finanzieller und materieller Unterstützung (vgl. Hiles et al. 2013).

Andere Forschungen weisen auf Benachteiligungen (Rein 2018; Schaffner/Rein 2014) von Care Leavern in den Lebensbereichen Gesundheit, Bildung oder in Bezug auf Ressourcen hin (Atkinson/Hyde 2019; Peters/Zeller 2020; Pinkerton/Rooney 2014; Refaeli 2019). Mit dem frühen Ende der Unterstützung durch die Kinder- und Jugendhilfe, die ein Verbleib über die Volljährigkeit hinaus nur begründet zulässt, sind die jungen Erwachsenen bei der Gestaltung ihrer Übergänge ins Erwachsenenalter häufig auf sich gestellt. Angebotslücken, fehlende Koordination der Hilfen und Abbrüche von wichtigen Beziehungen erschweren Leaving-Care-Prozesse zusätzlich (Stein 2006).

Forschungen weisen einerseits also auf die Vulnerabilität von Care Leavern hin und andererseits werden Zugänge deutlich, die auf die Handlungsfähigkeit und Agency von Care Leavern im Kontext struktureller Herausforderungen fokussieren (Peters/Zeller 2020). In der Betrachtung der Diskussionen zum Thema Leaving Care und der Frage, welche Anforderungen für junge Erwachsene im Übergang ins Erwachsenenalter entstehen, fällt auf, wie eng gesellschaftliche Normalvorstellungen mit der Gestaltung der Hilfe und in diesem Fall dem Ende der Hilfe verbunden sind (Rein 2020).

Gleichzeitig wird in sozialisationstheoretischen Diskursen Familie als die zentrale Sozialisationsinstanz von Kindern und Jugendlichen beim Aufwachsen betrachtet, die auch darüber entscheidet, inwiefern Kinder oder Jugendliche in anderen Sozialisationsinstanzen wie der Schule anschlussfähig sein können (Uhlendorff et al. 2013). In jugendhilfetheoretischen Diskursen zu „Hilfen zur Erziehung“ ist die Frage virulent, welche Funktionen stationäre Erziehungshilfen als Sozialisationsinstanz haben. Richter beobachtet eine zunehmende Auseinandersetzung in der Kinder- und Jugendhilfe in Bezug auf deren Positionierung „neben Familie und Schule als allgemeine und selbständige Sozialisationsinstanz mit professionellen Strukturen und Methoden“ (2018, S. 830). Wenn stationäre Angebote die Familie als Ort des Aufwachsens (vorübergehend oder teilweise) ablösen, kommt ihnen eine bedeutende Funktion als Sozialisationsinstanz zu. Treptow weist hier auf die Aufgabe von Heimerziehung hin, gelingende Aufwachsbedingungen in der Gegenwart zu installieren, die Bildung ermöglichen und die Kinder und Jugendlichen befähigen, mit Ungewissheit umzugehen (Treptow 2009). Die Bedeutsamkeit ganzheitlicher Bildungsprozesse als Ressource für die Gestaltung des eigenen Lebens und die gesellschaftliche Teilhabe wird in verschiedenen Studien zu Heimerziehung und Leaving Care herausgestellt (Köngeter et al. 2016; Zeller 2012; Zeller/Gharabaghi 2016).

Sozialisationsforschung und Theorien zu Sozialisation beschäftigen sich mit der Frage, wie Individuen und Gesellschaft miteinander verbunden sind. Wie diese Verhältnisbestimmung von Subjekt und gesellschaftlichen Verhältnissen theoretisch vorgenommen wird, ist dabei Gegenstand kontroverser Diskussionen. Vielfach zitiert wird folgendes Verständnis von Sozialisation:

Im Kern bezeichnet Sozialisation also die Persönlichkeitsentwicklung als eine ständige Interaktion zwischen individueller Entwicklung und den umgebenden sozialen Strukturen, wobei diese Interaktionserfahrungen aktiv und produktiv verarbeitet und sowohl mit den inneren körperlichen und psychischen als auch mit den äußeren sozialen und physischen Gegebenheiten permanent austariert werden. (Hurrelmann/Bauer 2018, S. 15)

In diesem eher programmatischen Verständnis bleibt die Verhältnisbestimmung des Prozesses der Sozialisation selbst offen und es bleibt unklar, wie sich dieses „zwischen Individuum und Gesellschaft“ näher konzeptualisieren lässt (Ricken 2020). Grundmann und Höppner sehen Bedarf für eine theoretische Neubestimmung – eine „Sozialisationstheorie reloaded“ –, um meist kausale Modelle der Verhältnisbestimmungen von Subjekten und Strukturen zu hinterfragen (vgl. Grundmann/Höppner 2020).

Diesem sozialisationstheoretischen Zugang folgend wird hier nicht von einfachen Wirkungszusammenhängen zwischen dem institutionellen Rahmen und den Folgen für die Subjekte ausgegangen. Vielmehr geht es darum zu fragen, wie die Erfahrungen der Care Leaver mit den institutionellen Rahmungen im Heim verwoben sind und was dies für ihre biographischen Verläufe bedeutet. Aus einer biographietheoretischen Perspektive ist das Leben vielfach eingebunden in institutionelle Kontexte, die Biographien institutionell vermittelt hervorbringen (Hanses 2018). Biographische Erzählungen von Care Leavern können so als institutionell vermittelte Konstruktionen verstanden werden. Neben den Hilfen zur Erziehung spielen noch andere den Lebenslauf rahmende Institutionen und darin eingelagerte Vorstellungen des Normallebenslaufs eine Rolle. Und schliesslich kommen mit einem biographietheoretisch inspirierten Sozialisationsparadigma auch Erfahrungen und Orientierungen der Befragten in den Blick (Dausien 2002, S. 69). Gleichzeitig bieten Erzählungen aus Subjektperspektive Einblicke in Geschichten des eigenen Geworden-Seins in zum Teil widersprüchlichen Verhältnissen und vor dem Hintergrund unterschiedlicher Erfahrungen. So kann empirisch rekonstruiert werden, wie Care Leaver das eigene Geworden-Sein reflektieren und in Verbindung mit ihren Heimerfahrungen setzen. So geraten neben dem Sozialisationskontext Heim auch andere Übergänge und das Zusammenspiel mit anderen Lebenslaufinstitutionen jeweils aus Subjektperspektive in den Blick. 

3. Empirische Daten: Sozialisationskontext Heim aus biographischer Perspektive

Zur Diskussion der Frage, wie Care Leaver retrospektiv den Sozialisationskontext Heim beschreiben und erleben, beziehen wir uns auf Ergebnisse aus dem partizipativen Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Care Leaver erforschen Leaving Care“ (Ahmed et al. 2020). Im Rahmen der Studie untersuchten 15 ehemalige Adressat*innen der Heimerziehung gemeinsam mit drei Fachpersonen aus dem Heimkontext sowie drei Forscherinnen den Leaving-Care-Prozess (Laufzeit Januar 2017–April 2020). Als Expert*innen zum Thema Leaving Care wurden die Beteiligten umfassend in allen Prozessen der Datenerhebung (Samplegenerierung sowie Entwicklung des Interviewleitfadens) und der Auswertung sowie bei der Kommunikation der Ergebnisse gegenüber der Fachpraxis einbezogen. Die Untersuchung fokussierte auf drei zentrale Aspekte: die Erfahrungen nach dem Auszug aus dem Heim, den Bedarf an Unterstützung sowie zugängliche informelle und formale Unterstützungsangebote sowie auf die Frage, nach Optimierungsbedarfen für die Unterstützung von (künftigen) Leaving-Care-Prozessen in der Region Basel. Die Ergebnisse stützen sich auf die Analyse von 39 leitfadengestützten Interviews, die die forschenden Care Leaver mit anderen Care Leavern durchführten, sowie auf die Analyse vielfältig protokollierter Einzelgespräche, Workshops und Protokollen teilnehmender Beobachtung von Gruppengesprächen (Ahmed et al. 2019, 2020). [2] 

Die Tatsache, dass im oben vorgestellten Projekt so viele Daten zum Sozialisationskontext Heim generiert wurden, wurde so zunächst weder intendiert noch erwartet. Insbesondere der partizipativen Anlage des Projekts und der so bedingten intensiven Mitarbeit von Care Leavern ist es zuzuschreiben, dass der inhaltliche Fokus im Projekt breiter wurde als geplant. Wir Wissenschaftlerinnen mit einem Interesse an Leaving-Care-Prozessen waren zunächst an Erfahrungen nach dem Auszug aus dem Heim interessiert. Die beteiligten Care Leaver richteten den Blick aber umfassender auch auf die Phase des Eintritts und das Leben im Heim. Insofern stand das Heim als Sozialisationskontext im Zentrum der Interviews und Diskussionen zum Thema Leaving Care. Aus Sicht von Care Leavern sind Prozesse des Leaving Care eng verknüpft mit Erfahrungen des Eintritts und mit dem Erleben der erzieherischen Hilfen: Was im Heim erlebt und gelernt oder wie der Austritt gestaltet wird, bestimmt mit, wie der Übergang ins eigenverantwortliche Leben gelingt. Dieser Befund zeigt sich übergreifend trotz aller Heterogenität der Lebenssituationen von Care Leavern. Deutlich wurde: Der spezifische Erfahrungsraum Heim stellt einen relevanten Parameter dar, wenn es darum geht, Leaving-Care-Prozesse umfassend zu begreifen und fachlich abzusichern bzw. zu begleiten.

So wie Erfahrungen im Heim in biographischer Hinsicht eng verknüpft sind mit den spezifischen Erfahrungen des Eintritts in die stationäre Erziehungshilfe, lässt sich also eine enge Verbindung zwischen dem Heimaufenthalt und dem Übergang in die Selbstverantwortung erkennen. Relevant ist, wie sie im Heim auf den Übergang vorbereitet wurden und welche Lernerfahrungen sie dort machen konnten bzw. welche Erfahrungen ihnen verwehrt wurden. Leaving-Care-Prozesse sind biographietheoretisch nur angemessen zu verstehen, wenn sie in Relation gesehen werden mit Prozessen des „going into care“ und „living in care“. Aus sozialisationstheoretischer Perspektive wird deutlich, wie zentral die wechselnden Sozialisationskontexte sind. Trotz der unterschiedlichen Erfahrungen, die Care Leaver dabei jeweils machen, ist ein weiterer Befund zentral: Aus Perspektive der befragten Care Leaver wurde das Heim als Sozialisationskontext als vereinnahmend und als eigener und entkoppelter Kosmos erlebt und als solcher differenziert beschrieben.

Im Folgenden werden diese zentralen Ergebnisse näher ausgeführt, wobei die Logik der Darstellung mit der Chronologie der biographischen Erfahrung der Care Leaver korrespondiert. 

3.1 Leben im „Ökosystem“ Heim

Obwohl die befragten Care Leaver in unterschiedlichen Betreuungs- und Wohnformen der Heimerziehung (bspw. Schulheime, dezentrale Wohngruppen, grössere Institutionen, betreute Wohnformen) gelebt hatten und in sozialer Hinsicht unterschiedlich positioniert sind, verweisen die Interviews auf geteilte Erfahrungen. Sowohl in den gemeinsamen Auswertungssitzungen mit den ko-forschenden Care Leavern als auch im empirischen Material zeigten sich hohe Resonanzen zu dem, was ein damals 18-jähriger Ko-Forscher mit dem Bild des Heims als „eigenes Ökosystem“ auf den Punkt brachte. So verbinden Care Leaver mit dem Begriff des „Ökosystems“ Erfahrungen in einem als eng und fremdbestimmt erlebten Sozialgefüge, das strukturiert ist durch rhythmisierte, teilweise auch als rigide empfundenen Zeit-, Raum- und Regelstrukturen. In ihrem Erleben ist der Kontext „Heim“ ein spezifisches System, das sich von anderen Systemen wie Familie, Freundeskreise, oder Schule abgrenzt. Neben der erlebten starken Reglementierung und Strukturierung bestand aus Sicht vieler Care Leaver auch kaum Raum für Partizipation im Heim – vielmehr mussten sie sich in die vorgegebenen Strukturen integrieren. Der Lebensraum Heim wurde auch nach aussen hin als begrenzt erlebt. Viele berichten davon, dass sie während ihres Lebens im Heim kaum Freundschaften und Kontakte ausserhalb pflegen konnten, obwohl sie dies an und für sich gerne getan hätten und obwohl ihnen solche Beziehungsstrukturen im Übergang aus dem Heim als Ressourcen dienen können: „Also im Heim wurde so der Freundeskreis, welchen man hatte, schon kleiner, weil man halt weniger Kontakt mit diesen Menschen hatte, weil man ja die ganze Zeit im Heim war und einfach dort immer Leute um sich herum hatte“ (Jonathan, 16, Z. 86–88).[3] Zugleich wurden von einigen auch positive Aspekte des Heims diskutiert. Im Vergleich zur Herkunftsfamilie wurde das Heim als sicherer Ort wahrgenommen, an dem Zuwendung erfahrbar war und emotionale und fachliche Unterstützung bei unterschiedlichen Themen ermöglicht wurde: „Und zu Hause gibt es das halt nicht. Zu Hause gibt es keine Zuwendung, zu Hause gibt es kein ‚Man kann reden‘. Ja, das hat mir schon geholfen, doch. Ich bin eigentlich froh, dass ich dort war (Harry, 18, Z. 419–421). Erkennbar wird ein spezifischer Lebensraum, der das alltägliche Leben von Jugendlichen und Fachpersonen in spezifischer Weise strukturiert und sich im Erleben der Befragten stark von anderen biographisch vor- bzw. nachgelagerten Lebensräumen unterscheidet. Diese Differenzen scheinen unabhängig von den individuellen Heimerfahrungen so wahrgenommen zu werden. 

Erfahrbar werden diese Differenzen zwischen den Sozialisationskontexten für die Jugendlichen insbesondere beim Eintritt und in der Vorbereitung für den Austritt aus dem Heim. Im Zusammenhang mit dem Eintritt ins Heim wurde die Eingewöhnung in die spezifische Agenda des Lebens dort als grosse Anforderung gesehen. Einige thematisieren, dass die Eingewöhnung im Heim mit Herausforderungen verbunden war, und zugleich sahen sie darin rückblickend auch Chancen: 

Ja, sich dort in das Ganze… Eben sich dort anzupassen und das Ganze zu befolgen. Eben auch jeden Tag Ämtli zu machen und so weiter, was natürlich eigentlich gut ist, weil später im Leben braucht man das Zeug ja. Aber es ist natürlich sehr schwer gewesen und auch eine Herausforderung, ja das Ganze durchzustehen. (Roberto, 22, Z. 144–148)

Sie berichten von vielen Aufgaben – sog. „Ämtlis“ – wie Putzen, Kochdienst u. a., mittels deren sie auf die Alltagsgestaltung nach ihrem Auszug vorbereitet werden sollten. Angesichts der tatsächlichen Herausforderungen, die Care Leaver im Übergang in die eigenständige Lebensführung bewältigen müssen, werden die Möglichkeit der Vorbereitung auf das Leben nach dem Heim als sehr begrenzt beurteilt. Viele Care Leaver sehen sich dann in ihrem Alltag mit Anforderungen und Aufgaben konfrontiert, auf die sie sich wenig vorbereitet fühlen. Nach dem Austritt würden andere Regeln gelten als im Heim und auch die Kompetenzen, die zur Alltagsbewältigung relevant sind, seien andere als die im Heim geforderten. Bspw. wurden sie aus ihrer Sicht zu wenig auf administrative Prozesse und Belange vorbereitet, die aber für eine gelingende Alltagsbewältigung zentral sind (bspw. zu Themen wie Versicherung, Budgetplanung, Steuererklärung ausfüllen). 

Eine Deutung für diese Diskrepanz ist, dass sich das Heim als eigenes Ökosystem so stark von der realen Welt unterscheidet. Der 26-jährige José bringt das für sich so auf den Punkt: „Das echte Leben kann man im Heim nicht simulieren. Das ist eben das Problem“ (vgl. Beobachtungsprotokoll Projektsitzung Basel-Land _24.09.2018). Aus der Perspektive von Lisa liegt die Nichtpassung zwischen dem, was im Heim vermittelt wird, und dem, was dann im Übergang in die Selbstständigkeit von den Care Leavern verlangt wird, am Lebensalter. Sie sagt, sie sei

zu jung gewesen, dort um irgendwelche Sachen mitzunehmen und besser zu machen. Ich bin viel zu jung gewesen, um irgendwie etwas Positives daraus ziehen zu können. Nein, ich bin dort hin, habe meine Zeit abgesessen und bin nach dem Heim noch in ein Time Out gekommen. (Lisa, 29, Z. 104–107)

Diese Reflexion zeigt auf, dass es aus Sicht von Care Leavern um die Frage geht, in welchem Alter welche Erfahrungen gemacht werden. Aus der Perspektive der Care Leaver scheinen manche Erfahrungen im Heim also nicht nur schwer übertragbar zu sein, weil die Welt im Heim als anders erlebt wird, sondern auch weil das Alter mitbestimme, welche Lernerfahrungen gemacht werden können. Und weiter ist aus der Sicht von Care Leavern die Übernahme von „Ämtlis“ immer auch stark mit dem institutionellen Rahmen des Heims verbunden, der dies aus ihrer Sicht einfordert und bei Nicht-Erfüllung sanktioniert. Zwar wird diese Erfahrung – regelmässige Aufgaben zu erfüllen – als hilfreich für den beruflichen Kontext erlebt, allerdings fehlt ohne Vorhandensein eines institutionellen Kontextes (wie Heimerziehung, Schule oder Ausbildung) bei vielen die Motivation dazu, diese Aufgaben über den Heimaufenthalt hinaus für sich selbst weiter zu praktizieren. Dies macht sichtbar, dass viele Lernerfahrungen im Sozialisationskontext Heim sehr stark mit den institutionellen Praktiken und den Erwartungen der Sozialarbeitenden verbunden sind, die Regeln und deren Einhaltung einfordern. Ohne diese Strukturierung fehlt zum Teil die eigene Motivation und Einsicht dazu.

3.1.1 Soziale Beziehungen und Peers im Heim

Eine weitere Dimension, die den Sozialisationskontext Heim für Care Leaver als „eigenes Ökosystem“ charakterisiert, bezieht sich auf soziale Beziehungen und Kontakte zu den Peers im Heim. So bestimmt der Lebensraum Heim auch die Anzahl und die Wahl der Beziehungen. Das heisst, Beziehungen können nur begrenzt ausgesucht werden und zugleich sind diese relevant, da andere Beziehungen weniger verfügbar sind. So pointiert es Jonathan: „Auch wenn man gehen konnte, man hatte einfach… Man hatte sein soziales Umfeld halt im Heim und deshalb war man eigentlich mehrheitlich dort“ (Jonathan 16, Z. 212–213). Dies führte auch dazu, dass diese Beziehungen zu Peers im Heim wichtig werden, weil sie das gemeinschaftliche Leben und den Alltag prägen: „Also ich freute mich, wieder zu Hause zu sein, das eigene Bett, nicht mehr ständig wieder umziehen, hin und her, hin und her. Aber auf die andere Seite irgendwie habe ich es mir so angewöhnt im Blauberg zu sein, nach drei Jahren und das waren meine Kollegen“ (Harry, 18, Z. 49–52).

Auch in den Auswertungstreffen mit den ko-forschenden Care Leavern wird dieser Aspekt immer wieder diskutiert: Im Heim ist immer jemand da; es ist nicht so schwer Kontakt zu halten zu Gleichaltrigen, sofern man eingebunden ist in die Gruppe der Jugendlichen im Heim. Das soziale Miteinander, bspw. gemeinsam Sport zu machen oder auch abzuhängen, ist durch die Enge im Heim quasi ein automatischer Nebeneffekt. So müssen bspw. keine Kontakte per Smartphone gepflegt werden oder auch Verabredungen getroffen werden, sondern das ergibt sich automatisch und ohne Anstrengungen. Im Kontrast dazu erleben sich viele nach dem Auszug aus dem Heim einsam und alleine. Denn der Auszug aus dem Heim ist nicht nur mit dem Verlust an pädagogischer Begleitung verbunden, sondern auch mit dem Verlust von informellen Beziehungen und Freundschaften zu Peers. Damit ist die Erfahrung verbunden, den Alltag ohne vertraute Personen bewältigen zu müssen. So formuliert Tanja in Bezug auf ihre Zeit im Heim: „Es war halt mega lustig, du lerntest die ganze Zeit neue Leute kennen. Du hattest beste Kollegen, welche auf einmal einfach keinen Kontakt mehr mit dir hatten. […] Ausgetreten, eine Woche später habe ich nie mehr etwas von ihm gehört“ (Tanja, 19, Z. 846–849).

Rückblickend zeigt sich, dass gerade Wohnübergänge (von der Familie ins Heim und aus dem Heim zurück zur Familie oder in eigeständige Wohnformen) und die damit verbundenen Übergänge auf der Beziehungsebene herausfordernd sind. So erleben Care Leaver hier immer wieder Abbrüche von Beziehungen mit erwachsenen Bezugspersonen und Peers. Nach dem Auszug aus dem Heim entstehen bei vielen Care Leavern Gefühle von Einsamkeit. Sie nehmen hohe Verantwortung bei sich selbst wahr für die Gestaltung des Alltags und den Aufbau sozialer Kontakte. Gleichzeitig fühlen sie sich unsicher und sie können nur auf wenige Ressourcen zurückgreifen. Dies wird von den befragten Care Leavern teils als krisenhaft erlebt. 

Deutlich wird, dass auch in sozialer Hinsicht der Sozialisationskontext Heim einen Erfahrungsraum bietet, der sich stark vom sozialen Leben in anderen gesellschaftlichen Kontexten unterscheidet. Gleichzeitig führen die Übergänge in das Heim und aus dem Heim in sozialer Hinsicht zu Abbrüchen. So sind auch Erfahrungen mit und Beziehungen zu Peers und Sozialarbeitenden nicht leicht transferierbar in die Lebensphase Leaving Care.

3.1.2 Übergang in „die grosse freie Welt“ ohne Rückhalt

Dass der Sozialisationskontext Heim von vielen Care Leavern so stark als eigener Kosmos erlebt wurde, wird in Interviews auch dann deutlich, wenn sie die Zeit nach ihrem Auszug aus dem Heim thematisieren. Der eigentliche Übergang aus dem Heim wird häufig sehr ambivalent beschrieben: Zum einen freuen sie sich auf die neue Gestaltungsfreiheit, die eigene, private Umgebung, zum anderen müssen sie Abschied nehmen von einem für sie vertraut gewordenen Ort und von Beziehungen. Nach Austritt aus dem „Ökosystem Heim“ fühlen sich Care Leaver mit einer komplett anderen Welt – der Aussenwelt – konfrontiert. In diesem Zusammenhang formuliert Linus, er sei mit dem Austritt „halt komplett in eine andere Welt gekommen. [...] Aus der durchstrukturierten Heimsituation in die grosse freie Welt“ (Linus, 19, Z. 75–76). Dies bringt aus einer Prozessperspektive die Herausforderung auf den Punkt, die mit einem Heimaufenthalt in einem spezifischen Sozialisationskontext verbunden sind. Dieser Sozialisationskontext wird als entkoppelt von der (anderen, „richtigen“) Welt wahrgenommen. 

Diese Differenzen zwischen den unterschiedlichen Sozialisationskontexten – in Bezug auf Gestaltung des Alltagslebens, die sozialen Beziehungen, die Gewohnheiten und Erwartungen u. a. – tragen dazu bei, dass die erlangten handlungsleitenden Orientierungen und Kompetenzen von den jungen Akteur*innen nur schwer in die jeweils anderen Kontexte integriert werden können. So können im Heim als wichtig erachtete Ressourcen und Kompetenzen im jeweiligen Transfer teilweise kaum als Ressourcen genutzt werden.

3.2 Herausforderungen nach dem Austritt aus dem „Ökosystem Heim“

Nach dem Ende der Hilfe, sprich nach dem Austritt aus dem „Ökosystem Heim“ erleben viele Care Leaver eine neue Freiheit. Nicht alle bewerten diese aber als positiv. Einzelne berichten von einer grossen Überforderung damit, den eigenen Lebensentwurf selbst zu planen und im Alltag zu organisieren. Es gelingt nicht allen, die Regeln und Strukturierung, die sie im Heim erfahren haben, in ihren „neuen“ Alltag zu transferieren. Sichtbar wird jetzt, dass die meistens als fremdbestimmt erlebten Strukturen des Heims ihnen nach ihrem Austritt „zum Verhängnis“ werden. Sie werden aus vertrauten Beziehungsnetzen gerissen, während tragende Aussenbeziehungen fehlen. Sie werden mit einer Freiheit konfrontiert, ihren Alltag bzw. ihr Leben zu gestalten, die ihnen zuvor nicht gewährt wurde. Sie müssen mit prekären finanziellen Lagen umgehen lernen und sich Hilfe organisieren und koordinieren. Erforderlich sind plötzlich Kompetenzen, für die es im Heim wenige Lerngelegenheiten gab (bspw. Kompetenzen, um für sich zu sorgen und eigene Entscheidungen zu treffen). So wird der Austritt teilweise als biographischer Bruch erlebt, was die eigene Bildungsbiographie und das eigene Kompetenzprofil betrifft. Die Möglichkeiten fallen weg, bestehende gute Beziehungen aus dem Heim weiter zu pflegen oder den sozialpädagogischen Ort als Rückhalt und Unterstützung zu nutzen – wie dies Gleichaltrige in familiären Kontexten können. Auch Jugendliche, die nach dem Heimaustritt zuerst wieder in die Herkunftsfamilie zurückkehren, erleben das familiäre „Ökosystem“ oft als problematisch und sie stellen fest: „Es hat sich nichts geändert“ (Hermine, 18, Z. 53). So sehen sie sich erneut mit ähnlichen Problemen konfrontiert, die zu ihrem Heimaufenthalt beigetragen haben. Auch hier zeigt sich, die beiden „Ökosysteme“ Familie und Heim scheinen gegenseitig jeweils wenig Anschlussmöglichkeiten zu bieten und erlernte Verhaltensmuster und Orientierungen aus dem einen Kontext lassen sich nicht auf den anderen übertragen. 

Weiterhin berichten die Care Leaver von fehlender Hilfe im Umgang mit Finanzen, Verschuldung und administrativen Angelegenheiten (wie Formulare für den Antrag von Krankenkassenvergünstigungen, den Sozialhilfebezug, das Kindergeld oder Stipendien). Ihre finanzielle Lage ist oft prekär. Mit den Lehrlingslöhnen ist ihr Spielraum zum Teil sehr eng, wie Giuseppe berichtet:

Ja, ein bisschen Geldschwierigkeiten habe ich gehabt. Aber das hat, glaube ich, jeder in der Lehre. Vor allem habe ich halt in meiner ersten Lehre 400 Franken verdient, also. 400 Franken hat man schnell ausgegeben. Von dem her, das war eigentlich das grösste Problem, sonst bin ich eigentlich recht gut zu Schlag gekommen. (Giuseppe, 21, Z. 158–162)

Einige berichten von Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Wohnen (Wohnungen finden, halten) und der Alltagsbewältigung, von Herausforderungen im Zusammenhang mit Freundschaften oder Elternschaft. Und wieder andere berichteten von Herausforderungen bei der Ausbildung oder der Arbeit. Und schliesslich berichten auffällig viele Care Leaver von Schicksalsschlägen, mit denen sie konfrontiert wurden (Tod eines Elternteils, Krankheit, Verlust von Beziehungen u. a.).

Der Austritt – egal wohin – führt daher zu spezifischen Bewältigungsanforderungen für Care Leaver und zum Wunsch nach weiterer bedarfsorientierter Unterstützung nach dem Austritt. So formuliert Romana: 

Ich hätte mir auf jeden Fall gewünscht, dass immer noch jemand da gewesen wäre als Kontaktperson und dass nicht nur ich den Kontakt hätte suchen müssen, sondern dass sie mich auch kontaktiert hätten. Dass sie einmal geschaut hätten, habe ich meinen Weg überhaupt eingeschlagen. (Romana, 29, Z. 80–83)

Angesichts der vielfältigen Anforderungen hinsichtlich der Alltagsbewältigung – nicht zuletzt auch bedingt durch die oft prekäre Lebenslage und fehlende Unterstützung – überrascht es nicht, dass in vielen Interviews das Bedürfnis nach psychosozialer, emotionaler Begleitung und vertrauensvollen Beziehungen nach dem Austritt angesprochen wurde. Zugleich besteht Bedarf nach konkreten Informationen und Unterstützung in alltagspraktischen Fragen und Belangen sowie nach Zugängen zu anderen professionellen Angeboten.

4. Schlussfolgerungen auf der Basis einer biographischen Betrachtung des Sozialisationskontextes Heim

Mit Blick auf die skizzierten Ergebnisse wird die Bedeutung einer biographischen Betrachtung des Sozialisationskontexts Heim deutlich. Aus dieser Perspektive treten die besonderen Bewältigungsanforderungen, die sich für junge Menschen durch das Leben im Heim und durch die spezifische Strukturierung dieses Sozialisationskontextes ergeben, in den Fokus. Besonders deutlich werden diese Anforderungen im Vergleich zu und im Wechsel zwischen den vor- und nachgelagerten Sozialisationskontexten. Ebenso zeigt sich in der biografischen Perspektive, dass sich die Erfahrungen aus den verschiedenen Sozialisationskontexten beschränkt aufeinander beziehen lassen, was zu weiteren Bewältigungsanforderungen beiträgt. Auch im Hinblick auf die Vorbereitung auf die Prozesse des Leaving Care zeigen sich deutliche Grenzen.

Für die Gestaltung der pädagogischen Arbeit stellen sich auf der Basis der Ergebnisse vielfältige Fragen und Ansatzpunkte: Wie können junge Menschen stärker bei der Gestaltung des Sozialisationskontextes Heim partizipieren? Wie gelingt es die Sozialisationskontexte stärker miteinander zu verbinden? Wie können Jugendliche bei der Bewältigung des Lebens in unterschiedlichen Lebenskontexten besser unterstützt werden? Worauf sind die Jugendlichen vorzubereiten und wie gelingt dies? 

Konzeptionelle Leitideen für die Weiterentwicklung der pädagogischen Arbeit im Heim bietet bspw. der theoretische Ansatz der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit bzw. Kinder- und Jugendhilfe (Thiersch 2005) und eine damit in Verbindung stehende adressat*innenorientierte Soziale Arbeit (Bitzan/Bolay 2016). Hier stehen die eigensinnigen Deutungs- und Handlungsmuster der Adressat*innen im Zentrum professionellen Handelns. Leitend ist eine ganzheitliche Sicht auf den Menschen innerhalb seiner Verhältnisse. Die Verbindung unterschiedlicher Lebenskontexte wird durch einen starken Sozialraumbezug angestrebt. Die Adressat*innen sollen bei Entscheidungen und der Gestaltung ihres Lebensraums partizipieren können. Ziel ist es, die Adressat*innen durch unterschiedlichste Formen von Hilfearrangements nach Möglichkeit in ihrer autonomen Lebenspraxis zu unterstützen. Der adressat*innenorientierte Ansatz propagiert eine kritische Distanz zu professionellen Problemdeutungsmustern, zu Pathologisierungen, Hierarchisierungen und Defizitorientierungen. Diese theoretischen Prinzipien können aus unserer Sicht einen Beitrag dazu leisten, den Sozialisationskontext Heim stärker lebensweltlich und in diesem Sinne auch sozialräumlich zu gestalten.

In der Studie wird im biographischen Erleben eine Entkopplung des Heimes vom Leben der Adressat*innen jenseits der Institutionen sichtbar. Für die Gestaltung des Ortes Heim scheint es daher unabdingbar, den Sozialisationskontext Heim stärker an den Lebenswelten der Adressat*innen und ihren Biographien auszurichten. Für die pädagogische Gestaltung und Organisation des Sozialisationskontextes Heim heisst dies konkret, stärker als bisher anzuerkennen, dass die Jugendlichen in unterschiedlichen Sozialisationskontexten aufwachsen und zwischen diesen wechseln müssen. Die Gestaltung der eigenen Biographie braucht Raum und pädagogische Begleitung. 

Zentral für die Gestaltung der eigenen Biographie ist die Erfahrung, sich als handlungsfähig erleben zu können in den Institutionen der Heimerziehung. Danach müssen Jugendliche im Heim noch stärker mitbestimmen können mit Bezug auf ihr Leben sowie bei Fragen zum Übergang ins eigenverantwortliche Leben. Dazu gehört auch, dass die Kinder und Jugendlichen vermehrt aus ihren eigenen Erfahrungen und (Fehl-)Entscheidungen lernen können – dies ist zentral, um eigenverantwortliches Handeln zu lernen. Wichtig ist eine stärkere biographische Passung zwischen den Erfahrungen der Jugendlichen und den Hilfeangeboten anzustreben. Dazu orientiert sich Unterstützung an den Bedarfslagen der Adressat*innen mit ihren individuellen Geschichten und Erfahrungen. Diese Art von Unterstützung wurde von den Befragten positiv erlebt, während die wahrgenommene starke Fremdbestimmung, der geringe Raum für Partizipation und der hohe Regulierungsgrad von Raum, Zeit und Beziehungen kritisiert werden. 

Partizipation ist auch im Hinblick auf die Vorbereitung auf den Übergang zentral. An diesem Punkt schliessen die Ergebnisse an zahlreiche Befunde an, die auf die Verbindung von Partizipation in der stationären Erziehungshilfe und dem subjektiven Gelingen von Übergängen ins Erwachsenenalter verweisen (Pluto 2007). Der Einbezug von Care Leavern und die Zusammenarbeit mit Care-Leaver-Initiativen bei der fachlichen Weiterentwicklung der stationären Hilfen zur Erziehung wird international forciert (Arns et al. 2018; Sievers et al. 2015). Wir sehen darin auch Potential für die Weiterentwicklung des Sozialisationskontextes Heim.

Die Ergebnisse zeigen weiter, dass Jugendliche und junge Erwachsenen im Heim Möglichkeiten brauchen, lebensweltliche Kontakte und Netze ausserhalb des Heimkontextes zu pflegen. Kontinuierliche Beziehung und Kontaktmöglichkeiten zu familiären ebenso wie zu nicht-familiären Bezugspersonen ausserhalb des Heims sind also konzeptionell sehr relevant für die Gestaltung der Heimerziehung. Auch im Hinblick auf Leaving-Care-Prozesse ist es wichtig, auf Beziehungen zurückgreifen zu können, die über die Jugendhilfephase hinweg bestehen – auch wenn die Jugendlichen wieder in die Herkunftsfamilie zurückkehren. Für die Begleitung der Übergänge aus der stationären Erziehungshilfe ins Erwachsenenalter bedeutet dies, dass nicht nur die Beziehungen zu Fachpersonen, sondern auch zu Peers aus dem Heim als Ressource niederschwellig zugänglich bleiben sollten. Wenn es um die Frage der Unterstützung und Begleitung von Jugendlichen im Heim und für Care Leaver danach geht, könnten die Peers noch stärker als bedeutsamer Sozialisationskontext für die pädagogische Gestaltung des Alltages berücksichtigt werden. 

Auch die hier gewählte biographietheoretische Perspektive auf das Heim bietet wichtige Anregungen. Dazu gehört auch, dass gesellschaftliche Veränderungen, wie bspw. die Pluralisierung, Verlängerung von Übergängen ins Erwachsenenalter und damit verbundene Ungleichheitsprozesse (Rein 2020), einbezogen werden bei den Überlegungen zur Gestaltung des Sozialisationskontextes Heim. Einseitig normative arbeitsmarktzentrierte Vorstellungen vom Leben als Erwachsene sind kritisch zu prüfen. Die Ergebnisse der Studie zeigen deutlich: Die Wege ins Erwachsenenleben sind kompliziert, vielfältig und anspruchsvoll in der Bewältigung. Die empirischen Realitäten von Jugendlichen im Übergang ins Erwachsenenalter sollten also insgesamt stärker in den institutionellen Normalitätskonstruktionen der Hilfen zur Erziehung Eingang finden. Dazu ist die Diskrepanz zwischen den biographischen Übergangsrealitäten und den institutionellen Konstruktionen des Lebenslaufs zu verringern. Hier wird deutlich, dass insbesondere die Vorbereitung auf den Umgang mit Unsicherheit und auf Yo-Yo-Bewegungen im Übergang ins Erwachsenenalter (Stauber/Walther 2002) entlastend sein können für Care Leaver. 

Literatur 

Ahmed, Sarina/Rein, Angela/Schaffner, Dorothee (2019): „Care Leaver erforschen Leaving Care“ – Möglichkeiten und Grenzen partizipativer Forschung. In: jugendhilfe, 57 (4), S. 435-440.

Ahmed, Sarina/Rein, Angela/Schaffner, Dorothee (2020): „Care Leaver erforschen Leaving Care“: Projektergebnisse und fachliche Empfehlungen. Muttenz: Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW. 

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[1] Wir nutzen die Begriffe, um an Diskurse anschlussfähig zu sein, und wollen gleichzeitig auf die damit verbundenen potenziell stigmatisierenden Implikationen hinweisen.

[2] Leitende Forschungsfragen waren: Wie erleben junge Menschen ihren Übergang aus der stationären Erziehungshilfe? Wie erleben sie nach ihrem Auszug aus dem Heim das formale Unterstützungssystem und welche Relevanz kommt ihren informellen Netzwerken in puncto Unterstützung zu? Wo sehen Care Leaver Optimierungsbedarfe für die Unterstützung von (künftigen) Leaving-Care-Prozessen in der Region Basel?

[3] In der Klammer angegeben sind der anonymisierte Name, das Lebensalter und die Zeilennummer des Interviewtranskripts.