Editorial zu „Sozialisationskontexte im Fokus der Kinder- und Jugendhilfe: Fachliche Bestrebungen und Herausforderungen“ 

Simone Brauchli und Selin Kilic

In der Kinder- und Jugendhilfe werden verschiedene Angebote bereitgestellt, mit denen angestrebt wird, Sozialisationskontexte Minderjähriger zu schaffen oder zu verändern bzw. zu gestalten. Niederschwellige Angebote, etwa der offenen Kinder- und Jugendarbeit, bringen Sozialisationskontexte mit Entwicklungs-, Bildungs-, Teilhabe- und Vernetzungsmöglichkeiten hervor, um soziale Ungleichheiten zu reduzieren, Sozialintegration zu fördern und eingriffsintensive Massnahmen zu verhindern. Auch in der Familienpflege und in anderen Formen stationärer Erziehungshilfen spiegelt sich die Intention, das Sozialisationsumfeld als Ansatzpunkt für sozialpädagogisch erwünschte Entwicklungen zu nutzen, deutlich wider. Vermittelt über Eltern und das erweiterte familiale Umfeld wird schliesslich durch Elternbildungs- oder -beratungsangebote, stationäre Eltern-Kind-Einrichtungen oder Sozialpädagogische Familienbegleitung bzw. -hilfe – teils präventiv, teils akut in Krisensituationen – gestaltend auf die Sozialisationsbedingungen von Minderjährigen Einfluss genommen. 

In der Praxis erweisen sich die fachlichen Möglichkeiten, über Sozialisationskontexte bestimmte Entwicklungen bei den Adressat:innen der Kinder- und Jugendhilfe anzustossen – oder umgekehrt bestimmte Entwicklungen zu verhindern – jedoch in verschiedener Weise als herausforderungsreich. 

Zum einen mag es zwar erforderlich erscheinen, verschiedene Sozialisationskontexte voneinander abzugrenzen, um Ansatzpunkte für fachliche Interventionen zu bestimmen. Die sozialen Beziehungen von Menschen verlaufen jedoch zumeist quer zu diesen Grenzziehungen und durch verschiedene räumlich oder sozial eingrenzbare Bereiche hindurch. Selbst wenn die Adressat:innen von Interventionen der Kinder- und Jugendhilfe für eine bestimmte Zeit ausschliesslich in einem sozialen ‚Mikrokosmos‘ leben, sind die damit verbundenen Erfahrungen für sie in lebensgeschichtlicher Perspektive auf andere Sozialisationskontexte bezogen und erlangen individuell erst in diesem Zusammenhang ihre spezifische Bedeutung und Relevanz. 

Zum anderen haben Sozialisationsprozesse, da sie in sozial verfassten Kontexten stattfinden, den Charakter eines interdependenten Geschehens. Die involvierten Akteur:innen – die Adressat:innen sozialpädagogischer Intervention, ihr soziales Umfeld und auch Fachkräfte aus anderen Disziplinen – können sich fachlichen Gestaltungsbestrebungen entziehen, sich ihnen widersetzen, sie unterlaufen, umdeuten, verändern und auf diese Weise mitgestalten; bisweilen stehen den fachlichen Absichten auch gegenläufige gesellschaftliche Veränderungen und Ereignisse im Weg. All die genannten Aspekte können Spannungsfelder und Störungen erzeugen und verleihen dem Bestreben, Individuation und Sozialintegration durch Sozialisationsangebote der Kinder- und Jugendhilfe in eine fachlich erwünschte Richtung zu lenken, eine gewisse Unvorhersehbarkeit und Unplanbarkeit. 

Vor dem Hintergrund der obigen Überlegungen wird zudem deutlich, dass Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe immer auch normative Vorstellungen über ‚erwünschte‘ Sozialisationsbedingungen und ‚gelingende‘ Entwicklungsprozesse zugrunde gelegt werden. Jüngere Untersuchungen haben diese – oftmals implizit bleibenden – normativen Orientierungen von Fachkräften – insbesondere gegenüber Eltern – aufgezeigt und die Implikationen für den Verlauf von Hilfeprozessen im Allgemeinen sowie für Arbeitsbeziehungen in der Kinder- und Jugendhilfe im Speziellen expliziert (vgl. exemplarisch Brauchli 2021; Ott/Hontschik/Albracht 2015). In diesem Zusammenhang erscheint es unerlässlich, nicht nur die Perspektive und Erfahrung von Fachkräften, sondern auch diejenige der Adressat:innen der Kinder- und Jugendhilfe mit in Rechnung zu stellen.

 

In der aktuellen Ausgabe sind Beiträge versammelt, in denen die sozialisatorische Relevanz von sozialpädagogischen Angeboten, namentlich der Kinder- und Jugendhilfe, aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick genommen wird. Dabei werden deren fachliche Ausgestaltung sowie damit verbundene Herausforderungen, Schwierigkeiten und Konsequenzen aufgezeigt. 

In den ersten beiden Beiträgen des Themenschwerpunkts steht die stationäre Erziehungshilfe im Fokus. Auf der Grundlage von Erzählungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die diese Wohnformen verlassen haben, wird die sozialisatorische Bedeutung dieser Einrichtungen herausgearbeitet. Beiden Beiträgen ist ihre Orientierung an und Miteinbeziehung der Sichtweise der Adressat:innen gemeinsam.

Den Auftakt machen Sarina Ahmed, Angela Rein und Dorothee Schaffner. Anhand von Ergebnissen eines partizipativen Forschungsprojektes, in dessen Rahmen Care Leaver Interviews mit Care Leavern durchführten, untersuchen sie die biographische Bedeutung des Sozialisationskontextes Heim. Die Autorinnen zeigen auf, wie diese Einrichtungen von den Befragten als ein von der Aussenwelt separierter Kontext – als «eigenes Ökosystem» – wahrgenommen und gedeutet werden. Sie leiten ausgehend von der Adressat:innensperspektive konzeptionelle Ideen für die Weiterentwicklung der sozialpädagogischen Praxis im Kontext stationärer Unterbringungsformen ab.

Auch im darauffolgenden Beitrag von Alexander Parchow und Tim Middendorf stehen junge Menschen im Zentrum, die einen Teil ihres Lebens in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung verbracht haben. Anhand eines Fallbeispiels gehen die Autoren der Frage nach, wie sich sozialisatorische Effekte im Lebensverlauf der Adressat:innen manifestieren. Ihre Ergebnisse diskutieren sie anhand der Analysedimensionen Wohnen, soziale Beziehungen und beruflicher Werdegang. Durch die längsschnittliche Betrachtung wird deutlich, dass das Handeln von Fachkräften für die Betroffenen weit über die Zeit der stationären Unterbringung hinaus bedeutsam sein kann.

Im Zentrum der beiden nachfolgenden Beiträge stehen Unterstützungsangebote, mit denen durch die fachliche Arbeit mit Eltern auf günstigere Aufwachsensbedingungen von Kindern und Jugendlichen in ihren Familien hingewirkt werden soll. 

Cornelia Rüegger, Joel Gautschi, Roland Becker-Lenz und Fabienne Rotzetter untersuchen in ihrem Beitrag zur Sozialpädagogischen Familienbegleitung, wie Vertrauen zwischen Sozialpädagogischen Familienbegleiter:innen und ihren Klient:innen aufgebaut wird. Anhand von Interviews mit Klient:innen Sozialpädagogischer Familienbegleitung arbeiten sie vertrauensrelevante Ausgangsbedingungen heraus. Dabei tritt das Phänomen sowohl in generalisierter Form als Vertrauen in abstrakte Institutionen wie auch als Vertrauen in die Fachpersonen als Rollenträger:innen und als konkrete Personen in Erscheinung. Resümierend loten die Autor:innen aus, wie Vertrauensbildung als relevante Grösse bei der Institutionalisierung und Ausgestaltung von Massnahmen im Kindesschutzsystem mit in Rechnung gestellt werden könnte. 

Maya Halatcheva-Trapp nimmt das Handlungsfeld der Trennungs- und Scheidungsberatung in den Blick. Ausgehend von Gesprächen mit Fachkräften geht sie der Frage nach, mit welchen Sinn- und Sozialisationsangeboten Eltern von Berater:innen adressiert werden. Sie arbeitet eine ambivalente Verschränkung von Gleichberechtigung und Geschlechterungleichheit in der beraterischen Auslegung von gemeinsamer Sorge heraus. Anhand der Deutungsmuster im Diskurs wird erkennbar, dass auch die fachlichen Bestrebungen zur Sozialisierung von Eltern in Trennung oder Scheidung am bürgerlichen Familien- und Geschlechterideal orientiert sind. 

Sally Hohnstein, Frank Greuel und Carmen Figlestahler fokussieren in ihrem Beitrag die Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Kontext von Rechtsextremismus. Die Autor:innen begreifen Hinwendungen zu rechtsextremen Strukturen als grundsätzlich offenen und somit auch als umkehrbaren Prozess politischer Sozialisation und fokussieren in ihrem Beitrag auf die Abkehr von solchen extremistischen Haltungen. Auf Basis zweier qualitativer Studien, in denen Fachpersonen aus der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit zu Praxiserfahrungen befragt wurden, gehen sie der Frage nach, auf welche sozialisatorischen Aspekte in der Arbeit Bezug genommen wird und wie dadurch die individuelle Sozialisation der Adressat:innen bearbeitet wird. Die Autor:innen zeichnen zudem nach, wie Prozesse der Desozialisierung und Resozialisierung angestossen werden. 

 

Der Themenschwerpunkt wird durch einen freien Beitrag von Julia Becher, Janina Schulmeister und Mirja Silkenbeumer ergänzt. Die Autorinnen nehmen die Triade Familie, Adoleszente und Psychiatrie in den Blick. Dabei untersuchen sie, wie die jugendpsychiatrische Klinik, Repräsentantin des medizinisch-therapeutischen Handlungssystems, als institutioneller Dritter in der Dyade zwischen Adoleszenten und Familie strukturell Konflikt auslösend in Erscheinung tritt. Ausgehend von zwei kontrastierenden Fällen zeigen die Autorinnen in ihrem Beitrag aus einer sozialisationstheoretischen Perspektive auf, inwiefern die Jugendpsychiatrie eine Umgestaltung von familialen Beziehungsdynamiken anstösst. Zum Schluss werfen sie die Frage auf, welche Rolle und Bedeutung der Figur des institutionellen Dritten zugeschrieben werden kann und welches erkenntnistheoretische Potenzial diese Konzeption für die rekonstruktive Sozialisations- und Adoleszenzforschung beinhaltet. 

Wir hoffen, mit dieser Ausgabe interessante Einblicke in aktuelle Forschungsarbeiten rund um Fragestellungen zur Bedeutung des Sozialisationskontextes im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe zu geben und wünschen eine anregende Lektüre!

 

Literatur

Brauchli, Simone (2021): Das Wohl der Kinder und die Selbstbestimmung der Eltern. Eine qualitative Untersuchung zur Sozialpädagogischen Familienbegleitung in der Schweiz. Weinheim und Basel: Beltz Juventa.

Ott, Marion/Hontschik, Anna/Albracht, Jan (2015): (Gute) Mutterschaft und Kinderschutz in stationären Mutter-Kind-Einrichtungen. Zur Konzeption von Erziehungsfähigkeit im Spannungsfeld von Stärkung und Abklärung. In: Neue Praxis, Sonderheft 12 „Neue Aufmerksamkeit für Familie. Diskurse, Bilder und Adressierungen in der Sozialen Arbeit“, hrsg. von Fegter, Susann/Heite, Catrin/Mierendorff, Johanna/Richter, Martina, 162–173.