TRADIERUNGS- UND TRANSFORMATIONSPROZESSE VON WERTBINDUNGEN IM KONTEXT RUSSLANDDEUTSCHER FAMILIEN UND GEMEINDEN: BIOGRAPHIEANALYTISCHE PERSPEKTIVEN
Rebekka Hahn und Christine Demmer
1. Einleitung
Mit Blick auf sich ausdifferenzierende soziale Zugehörigkeiten wird der Adoleszenz eine hervorgehobene Bedeutung für die Umstrukturierung familialer Generationenbeziehungen sowie für die Prüfung und Aktualisierung von in der Familie erworbenen ersten Wertbindungen beigemessen. Den damit verbundenen biographischen Aushandlungen gehen wir anhand der narrativen Selbstentwürfe junger Frauen mit russlanddeutscher Familiengeschichte nach, die in Anbindung an eine russlanddeutsche Freikirche aufgewachsen sind.
Seit der fortschreitenden Öffnung des Ostblocks Ende der 1980er-Jahre reisten rund 2,4 Millionen russlanddeutsche (Spät-)Aussiedlerinnen und (Spät-)Aussiedler mit ihren Familien aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten nach Deutschland aus (Panagiotidis 2021). In ihren kommunistisch regierten Herkunftsländern galten sie und sahen sie sich in der Regel auch selbst als Deutsche. Tradierte Vorstellungen des „Deutschseins“ und oftmals auch des „Christseins“ beförderten bei vielen Russlanddeutschen den Wunsch nach einer „Rückkehr in die Heimat“ (Worbs et al. 2013, 192). Deutschland verband ihre Aufnahme mit der sofortigen Zuerkennung der deutschen Staatsbürgerschaft und umfänglichen Integrationshilfen.
Im Zentrum des vorliegenden Beitrags steht folgende Frage: Inwiefern werden vor dem Hintergrund eines spezifischen Sozialisations- und Migrationskontextes, in dem Generationenbeziehungen nicht nur in der Familie, sondern auch in der Freikirche bedeutsam sind, primärsozialisatorische Wertbindungen von jungen russlanddeutschen Frauen der zweiten Generation als Vorstellungen des Wünschenswerten (Joas 2006) übernommen, variiert oder verworfen? Dabei interessiert uns zum einen, inwiefern eine wert- und lebensstilbezogene Kontinuität oder Kontingenz von den Erzählerinnen als fraglos oder als reflexions- und begründungspflichtig wahrgenommen wird, und zum anderen, welche Bezüge als Referenzen für etwaige Legitimationen aufgerufen werden.
Für die Bearbeitung dieser Fragen stellen wir ausgehend von adoleszenten Wertbindungsprozessen die spezifische soziale Lage der von uns betrachteten jungen Frauen im Kontext der familialen Migrations- und Glaubensgeschichte dar (Kap. 2). Darauf aufbauend skizzieren wir entwicklungs- und werttheoretische Überlegungen zur Verschränkung der adoleszenten Reorganisation von Generationenbeziehungen und Wertbindungen (Kap. 3) und relationieren die darin angelegte Verbindung von Sozialisation und Individuation mit einem biographieanalytischen Zugriff auf Wertbindungsnarrationen (Kap. 4). Anhand eines Ankerfalles und kontrastiv ausgewählter fallübergreifender Erzählperspektiven legen wir dar, wie in der Familie angelegte Wertbindungen im Zusammenspiel mit weiteren Bezügen sowie prospektiven Selbst- und Lebensentwürfen biographisch verhandelt werden (Kap. 5 und 6). Dabei deutet sich an, dass die Weiterführung oder Veränderung früher Wertbindungen mit Bezug auf bestimmte Vorstellungen eines modernen Individuums vollzogen und begründet wird (Kap. 7).
2. Adoleszente Wertbindungen im Kontext von Familie, Migration und Religion
Individualisierung und Entstandardisierung, die Pluralisierung familialer Lebensformen sowie die Demokratisierung pädagogischer Beziehungen gelten aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive als Kennzeichen der Moderne (Ecarius 2007, 144 f.). Unter jenen Bedingungen gesellschaftlicher Modernisierung wurde mit Blick auf den Wandel und die Persistenz von handlungsorientierenden Werten die These entwickelt, dass die ältere Generation für die Selbst- und Lebensentwürfe der jüngeren Generation zunehmend an Bedeutung verliere (Hummrich 2011, 70). Davon abweichend kennzeichnen Erhebungen wie die Shell-Jugendstudie oder der DJI-Jugend- und Migrationsreport für Jugendliche in Deutschland die intergenerationale Beziehungseinheit der Familie neben Freunden und weiteren Beziehungen als höchste Werte, die vor Eigenständigkeit und Unabhängigkeit rangieren (Shell 2019, 20). Insgesamt weisen die Befunde auf eine starke Familienorientierung von Jugendlichen und ein anhaltendes familiales Tradierungspotenzial hin (ebd., 25). Vor allem für die Weitergabe religiöser Werthaltungen wird der Familie ein hoher Stellenwert beigemessen (Radicke 2014, 45; Faix et al. 2018; Shell 2019).
Für die zweite Generation russlanddeutscher (Spät-)Aussiedlerinnen und (Spät-)Aussiedler lassen sich nur sehr bedingt Einsichten in (glaubensbezogene) Wertbindungen und deren familiale Einbettung aus den entsprechenden großen Studien der letzten Jahre herauslesen (Lochner/Jähnert 2020, 16; Panagiotidis 2021, 58 f.). Dabei kann aus kulturhistorischer Perspektive eine spezifische Lage jener jungen Menschen angenommen werden. Bis in die Gegenwart gelten die Familien-, die Migrations- und die Glaubensgeschichte der Russlanddeutschen als eng miteinander verknüpft, was die Literatur besonders für den Kontext evangelikaler russlanddeutscher Freikirchen konstatiert (z. B. Theis 2006; Weiß 2013). Aufgrund von Kettenmigration in Familienverbünden, die sich nach der Aussiedlung häufig in räumlicher Nähe zueinander niederließen, prägen familiale Strukturen anhaltend jene freikirchlichen Gemeinden. In der (Groß‑)Familie wie in der Gemeinde lassen sich Ausrichtungen an kollektivistischen Werten bei ausgeprägter intergenerationaler Verbundenheit, Solidarität und Verpflichtung sowie teils exklusive Bindungsansprüche feststellen (Römhild 1998, 289; Vogel 2012, 309; Elwert 2015, 129).
Für die älteren Generationen in jenen Freikirchen fungieren geteilte (Glaubens-)Werte als Begründungsmuster für Vorstellungen wünschenswerter Verhaltenspraktiken und Lebensentwürfe, die wesentlich geschlechtsspezifisch formiert sind und bis heute wirksam für das kollektive Selbst- und Zugehörigkeitsverständnis bleiben (z. B. Löneke 2000; Schäfer 2010; Elwert 2015). In ihren lebenspraktischen Ausdrucksformen, die etwa Kleidungsstile, Bildungs- und Berufswege sowie Familienbilder und Geschlechterrollen betreffen, heben sich freikirchliche Russlanddeutsche nicht selten von mehrheitlichen Wertorientierungen und Praktiken ab. Zugleich gehören sie als Christinnen und Christen der Mehrheitsreligion an, was sie zumindest strukturell einer Minderheitenposition enthebt.
Neben den mit den älteren Generationen geteilten Erfahrungsräumen verfügt die jüngere Generation über differente historische und kulturelle Sozialisationsräume. Für die Entwicklung ihrer Selbst- und Weltentwürfe ist die bereits in Deutschland geborene und aufgewachsene zweite Generation folglich herausgefordert, sich sowohl zu dem sozialen Erbe (Ziegler 2000) der ethnokonfessionellen Vergemeinschaftung als auch zu den Prämissen, Optionen und Erwartungen einer vorrangig säkularisierten (Migrations-)Gesellschaft (Taylor 1994; Rosa 1998) zu verhalten. Wie und unter welchen Bezügen stellen also in dem spezifischen Sozialisationskontext freikirchlich gebundener Russlanddeutscher die von uns befragten jungen Frauen mit Blick auf ihre Herkunftsfamilien wertbezogene Tradierungs- und Transformationsprozesse narrativ her?
Für eine zunächst theoretische Annäherung an diese Frage möchten wir im folgenden Kapitel auf die entwicklungspsychologischen Ausführungen von George Herbert Mead (1973) und die werttheoretischen Überlegungen von Hans Joas (1999, 2006) zurückgreifen und anhand der darin angelegten Verbindung von Sozialisation und Individuation die Entstehung und lebenszeitliche Fortentwicklung von Wertbindungen im Kontext von familialen Generationenbeziehungen und weiteren „sozialen und biographischen Zeitstrukturen“ (Ecarius 2001, 559) nachvollziehen.
3. Theoretische Rahmung: Reorganisation von Generationenbeziehungen und Wertbindungen in der Adoleszenz
Joas (2006, 3) versteht Werte als hochgradig emotional besetzte und nicht rational wählbare Vorstellungen dessen, was der Mensch jenseits seiner oft unsteten oder gar konfligierenden Wünsche für das wahrhaft Wünschenswerte im Leben hält. Mit Mead geht er davon aus, dass Kleinkinder sich über die Identifikation mit ihren primärsozialisierenden Bezugspersonen deren grundlegende Wertbindungen aneignen (ebd., 4). Diese vermitteln sich durch absichtsvolles Erziehungshandeln wie auch durch die Teilhabe an der familialen Praxis mit den darin habitualisierten Sinn- und Handlungsstrukturen. Dabei sieht Vera King jene Sozialisations- und Entwicklungsprozesse von Anfang an eingebettet in eine „niemals vollständig aufhebbare Spannung von Heteronomie und Autonomie“ (2017a, 14), von Geprägtwerden einerseits und eigensinniger Ausgestaltung andererseits.
Neu ausgerichtet werden Generationenbeziehungen und Wertbindungen in der Adoleszenz. In besonderer Weise wird hier die Frage nach dem „wahren Selbst“ aufgeworfen, das sich Charles Taylor zufolge konstituiert durch „die Bindungen und Identifikationen, die den Rahmen und Horizont abgeben, innerhalb dessen ich von Fall zu Fall zu bestimmen versuchen kann, was gut oder wertvoll ist oder was getan werden sollte bzw. was ich billige oder ablehne“ (1994, 55). Im Kontext der Reorganisation von Selbst- und Weltverhältnissen eröffnet die Adoleszenz einen „Erfahrungs- und Möglichkeitsraum der ‚individuierenden‘ Verhältnissetzungen“ (Mecheril/Hoffarth 2009, 240), wobei Individuation als Freisetzung und Anforderung zugleich verstanden werden kann (Hummrich 2011, 71).
Gesellschaftliche und familiale Bedingungen können dabei als Ressourcen, aber auch als Hindernisse der adoleszenten Selbstvergewisserung und Umgestaltungen wirksam werden (Böker et al. 2019, 63). So ist anzunehmen, dass sich „Migration als soziales Erbe“ (Lutz 2000) durch die Vermittlung von Normen und Werten in den Generationenbeziehungen niederschlägt (Hamburger/Hummrich 2007, 113 f.) und auf diese Weise ermöglichend oder begrenzend auf die Lebensentwürfe und -verläufe der Folgegenerationen fortwirkt (Böker et al. 2019, 82). Das Einholen der Erlebensperspektive junger Menschen mit familialer Migrationsgeschichte erscheint daher umso wichtiger, „weil sie sich in besonderer Weise mit ihrer Herkunftsfamilie, der mit ihr verbundenen Migrationserfahrung, den Zuschreibungen an ihre Familie und den gesellschaftlichen Ansprüchen an Integration und eigenständige Gestaltung auseinandersetzen müssen“ (Hamburger/Hummrich 2007, 113 f.).
So, wie inter- und intragenerationale Beziehungen in und außerhalb der Familie neu verhandelt und relationiert werden (King 2017b), werden ab dem Jugendalter und während des gesamten weiteren Lebens vormals unhinterfragte primärsozialisatorische Wertbindungen geprüft, ergänzt, korrigiert und in den Eigenbestand integriert oder aber verworfen (Joas 2006, 4; Köbel 2018, 252). Dabei betonen phänomenologische Überlegungen und empirische Studien die anhaltende Sozialität von Wertbindungsprozessen über die Phase der Adoleszenz hinaus und bestätigen zudem den hohen Stellenwert von in der Familie erworbenen ersten Wertbindungen auch für das weitere Leben (Joas 1999; Nunner-Winkler 2009; Radicke 2014; Fuchs 2016, 2017; Köbel 2018).
Dies unterstreicht die Erkenntnis von Daniel Berteaux und Isabelle Berteaux-Wiame (1991, 38), dass Tradierungsinhalte in der Regel weder unverändert übernommen noch völlig zurückgewiesen werden. Wertbezogene Denk- und Handlungsmuster werden von jeder Generation individuell wie kollektiv „anverwandelt“, situativ ausgedeutet, inhaltlich neu befüllt und mit eigenen Schwerpunktsetzungen versehen (Radicke 2014, 274; Fuchs 2017), sodass über die biographische und kulturelle Fortentwicklung „in einem übergreifenden Sinne ‚Geschichte‘ möglich wird“ (King 2017a, 16). Jenes Verständnis, dass Neues und Bestehendes wechselseitig aufeinander bezogen sind, sowie die Annahme, dass sich Wertbindungen nicht rational abfragbar zeigen (Fuchs 2016, 202 f.), verweist die Erforschung lebenszeitlicher Wertbindungsprozesse auf die biographische Narration (Köbel 2018, 8), die eine prozesshafte Perspektive auf Lebensereignisse und deren werthafte Deutung erlaubt (ebd., 129).
4. Methodologische Überlegungen und methodisches Vorgehen: Biographische Narrationen als empirischer Zugriff auf adoleszente Wertbindungsprozesse
Biographie lässt sich begreifen als ein kulturelles Format der Selbstkonstruktion und Selbst(re)präsentation eines modernen Individuums, welches sich zwar „nicht mehr durch die Zugehörigkeit zu einem sozialen Kollektiv, sondern vielmehr durch eigenes Handeln und ‚individuelle Lebenserfahrungen‘“ (Schwendowius 2015, 76) konstituiert, für dessen Selbstverständnis soziale Beziehungen aber über die gesamte Lebensspanne wirkmächtige Erfahrungs- und Gestaltungsräume bleiben.
Der französische Soziologe Maurice Halbwachs (1985a, 1985b) spricht von sozialen Bezugsrahmen, innerhalb derer sich kollektive Gedächtnisse formieren. Halbwachs‘ Begriff des kollektiven Gedächtnisses verweist zum einen auf die soziale Bedingtheit und Strukturiertheit individueller Erinnerungen und zum anderen darauf, dass auch soziale Gruppen über ein Gedächtnis verfügen oder ein solches konstruieren (Halbwachs 1985b; Leonhard 2018, 512). Das kollektive Gedächtnis von sozialen Gruppen, etwa einer Familie oder religiösen Gemeinschaft, begreift Halbwachs als geteilte und damit identitätsstiftende Deutungs- und Denkstrukturen. Darin eingelagert finden sich werthafte Vorstellungen darüber, welche Lebensentwürfe als erstrebenswert, angemessen oder überhaupt denkbar gelten (Schwendowius 2015, 82).
Individuen haben in ihren jeweiligen Lebenszusammenhängen Anteil an mehreren, einander überlappenden, widerstreitenden oder ablösenden kollektiven Gedächtnissen und verfügen über je eigene Konstellationen sozialer Bezugsrahmen (Halbwachs 1985b, 64 f.; Radicke 2014, 51). Um Einheit und Kontinuität bemüht, streben die jeweiligen Gruppen danach, „ihre ‚sozialen Rahmen‘ an ihre Mitglieder weiterzugeben, womit die Verbindung zur Tradierung hergestellt ist“ (Radicke 2014, 50). Besonders angezeigt erscheint die Frage nach der Tradierungskraft kollektiver Gedächtnisanteile mit den darin eingelagerten Werten und Normen im Kontext von Migration, die sich mit Kathrin Böker et al. (2019, 63) als ein intergenerationales Hoffnungs- und Erwartungsprojekt fassen lässt, das mehrere Generationen überspannt und überdauert. Die Teilhabe an verschiedenen Gruppen bestimmt jedoch nicht lediglich und unwiderruflich die Verortung und Orientierung der Individuen, sondern kann auch auf die Deutungs- und Bezugsrahmen der Gruppen selbst zurückwirken, sie verändern, erweitern oder auflösen. Soziale Bezugsrahmen lassen sich somit als dynamische, relationale und wandelbare Größen verstehen, mit denen sich über die Zeit auch biographische Selbstkonstruktionen wandeln können (Radicke 2014, 51; Leonhard 2018, 512). Die gegenwärtigen Selbstkonstruktionen und „bestehenden Erinnerungen des Einzelnen mit ihren Bezugsrahmen wiederum geben Aufschluss über sein Relevanzsystem, seine Wertvorstellungen und Orientierungen“ (Radicke 2014, 51).
Was lässt sich daraus folgern für das Erkenntnispotenzial biographischer Narrationen im Hinblick auf die Frage nach wertbezogenen Tradierungs- und Transformationsprozessen in der Adoleszenz? Biographie ist individuell und sozial, kommunikativ und interaktiv. Sie bleibt im Sinne einer Weiterführung, Abgrenzung oder Variation in besonderer Weise verbunden mit der Familienbiographie (Böker/Zölch 2017, 1). In lebensgeschichtlichen Erzählungen tritt sowohl das aktuelle als auch das gewordene Subjekt hervor; sie lassen Rückschlüsse zu auf die historischen, kulturellen und sozialen Entstehungskontexte biographischer Erfahrungen (Schwendowius 2015, 132). Insbesondere für die Frage nach den Entwicklungs- und Wandlungsprozessen von Wertbindungen lässt sich mit Joas (2011, 259) und Thorsten Fuchs (2016, 202 f.) argumentieren, dass biographische Erzählungen neben bewussten Erfahrungsschichten auch in der sozialen Praxis erworbene, Karl Mannheim folgend, „atheoretische“ Wissensbestände transportieren, sodass in ihnen nicht nur die reflexive Auseinandersetzung mit Werten, sondern auch deren präreflexive Dimension zugänglich wird.
Im Folgenden greifen wir auf ein solches lebensgeschichtliches Interviewmaterial zurück, das im Kontext eines Dissertationsvorhabens entstanden ist.[1] Nach dem Prinzip des „theoretical sampling“ (Glaser/Strauss 1967) wurden im Zeitraum Herbst 2018 bis Winter 2020 insgesamt zehn autobiographisch-narrative Interviews (Schütze 1983) erhoben. Die Befragten wurden als junge Frauen mit russlanddeutscher Familiengeschichte ausgewählt und angesprochen.[2] Die herkunftsfamiliale Verbindung zu einer russlanddeutschen Freikirche wurde bei der Rekrutierung berücksichtigt, bei der Adressierung aber ausgespart. Die befragten Frauen sind zum Erhebungszeitpunkt zwischen 19 und 30 Jahre alt und selbst in Deutschland geboren, während mindestens einer der beiden Elternteile aus der Sowjetunion oder einem ihrer Nachfolgestaaten eingewandert ist. In der Regel sind beide Elternteile Russlanddeutsche mit eigener Migrationserfahrung, in zwei Fällen sind entweder die Mutter oder der Vater Deutsche ohne Migrationsgeschichte. Zwei der Interviewpartnerinnen leben bei den Eltern, fünf in relativer räumlicher Nähe zur Herkunftsfamilie und drei haben sich aufgrund von Studium, Berufstätigkeit oder Heirat räumlich entfernt. Fünf Interviewpartnerinnen sind verheiratet und drei davon haben bereits eigene Kinder.
Die erhobenen Interviews wurden nach den erweiterten TIQ-Transkriptionsregeln (Dresing/Pehl 2018) vollständig transkribiert und in Anlehnung an das integrative Basisverfahren (Kruse 2015) rekonstruktiv ausgewertet. Dabei handelt es sich um ein sequenzielles, texthermeneutisches Verfahren, das unter Bezugnahme auf die Mannheim’sche Wissenssoziologie sprachliches Handeln als Ausdruck eines kulturell geteilten Symbolsystems versteht (ebd., 465). Den Ausgangspunkt bildet die offene mikrosprachliche Analyse auf den drei sprachlich-kommunikativen Aufmerksamkeitsebenen der Pragmatik, Syntax und Semantik (ebd., 466). Um die Aufmerksamkeit zu orientieren, werden im Verlauf der mikrosprachlichen Analyse forschungsgegenständliche und methodische Analyseheuristiken an das Material herangetragen (ebd., 381). Sie dienen als theoretisch-sensibilisierende Konzepte, mit denen sich sukzessive und in einem immer höheren Abstraktionsgrad fallinterne und fallübergreifende Motive als Ausdrucksformen eines symbolischen Bedeutungssinns erarbeiten lassen.
Die Auseinandersetzung mit primärsozialisatorisch erworbenen Wertbindungen und dazu relationierten Selbstentwürfen werden in allen erhobenen Interviews relevant. Anhand eines Ankerfalles und kontrastiv ausgewählter fallübergreifender Erzählperspektiven wird im folgenden Kapitel aufgezeigt, wie die Erzählerinnen werthafte Vorstellungen eines angemessenen Selbst- und Lebensentwurfs narrativ aushandeln und welche Konzepte des Selbstverständlichen und Normalen bzw. des Erläuterungsbedürftigen und Begründungspflichtigen sie dabei aufrufen.
5. Rekonstruktion des Falles Lea: Modernes Familienleben in der Tradition
Zum Zeitpunkt des Interviews ist Lea Anfang zwanzig. Sie ist verheiratet und erwartet ihr zweites Kind. Ihre biographische Erzählung lässt sich in Anlehnung an Nils Köbel (2018) als Kontinuitätserzählung beschreiben. Sie verortet sich darin klar in der Tradition ihrer Eltern und vor allem ihrer Mutter, die sie explizit als Vorbild benennt und mehrfach als Referenz für ihre Wertüberzeugungen und ihr Handeln heranzieht. Im Zentrum ihrer Erzählung steht ihr Selbstentwurf als „Ehefrau, Hausfrau und Mutter“ (Z. 1595), den sie eng an ineinandergreifende Familien- und Glaubenswerte knüpft.
Als weichenstellend für ihren Selbstentwurf markiert sie eine Heiratsanfrage, die sie noch vor dem Abitur bekommt und die ihre eigentlichen „Pläne durchkreuzte“ (Z. 1200), nämlich die Aufnahme eines Lehramtsstudiums. Den anschließenden Erwägungsprozess schildert sie als „besonders schwer“ (Z. 1198), zumal sie den jungen Mann, der aus einer anderen russlanddeutschen Gemeinde stammt, bis zum Zeitpunkt seiner Anfrage kaum kennt. Den erwachsenden Konflikt thematisiert sie als persönliche Aufgabe, ihre Beziehung zu Gott auf eine neue Entwicklungsstufe zu heben und „sein[en] Pla:n für mein Leben zu akzeptieren, seinen Willen zu tun, ähm ihm zu vertrauen? ähm auch mal Dinge zu wagen ohne zu wissen (.) wie=s enden wird“ (Z. 1260 ff.). Als Ratgeberin in dieser Situation, die sie als persönlichen Lernanlass zur freiwilligen Unterordnung unter den angenommenen Willen Gottes kennzeichnet, zieht sie ihre Mutter heran: „[D]a musst=ich lernen, (2) ähm meine Mama hat das so gesagt, äh, vielleicht ist es (.) Zeit, dass das Ich sti:rbt. also dieses ähm (.) d- das Ich das: seine eigenen Wünsche hat“ (Z. 1201 f.).
Mit ihrer Zustimmung zu dem Heiratsgesuch „beerdigt“ (Z. 1304) sie das Vorhaben eines Studiums und setzt stattdessen den ganz auf die Familie ausgerichteten Lebensentwurf ihrer Mutter fort, der in verschiedene Richtungen abgegrenzt und darüber indirekt begründet wird. Dies geschieht erstens gegenüber den als „schlicht“ gekennzeichneten „plattdeutschen“ Russlanddeutschen der älteren Generation, die Lea als herzlich und arbeitsam, aber ohne emotional gestaltete Eltern-Kind-Beziehung schildert (Z. 1424 ff.). Sie distanziert sich zweitens von den stärker russisch geprägten freikirchlichen Russlanddeutschen, bei denen sie übersteigerte elterliche Bildungsaspirationen für die zweite Generation beobachtet (Z. 458 ff.). Eine dritte Abgrenzung erfolgt von der nicht weiter bestimmten Umgebung, die sie unter Bezug auf eine Begegnung mit Jugendlichen an der Bushaltestelle vor einer weiterführenden Schule thematisiert:
[A]lso da wird einem beinah fast schlecht, wenn man an gewiss-, ähm wie die miteinander umgehen, wie die reden, und (.) was die sagen, wo ich so denke, (1) also ich denk dann sofort, was hamm‘ die für Eltern, oder wo sind da die Eltern, ähm wo ich‑, wo die Kinder mir auch leid tun. (Z. 1501 ff.)
In Abgrenzung zu ihrer Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Krisensituation, in der „alles unsicher“ ist, möchte sie ihren Kindern einen familialen „Zufluchtsort“ gestalten (Z. 1511). Zugleich entwirft sie ihr Dasein als gläubige Mutter als weitergefasste Mission: In einer Gesellschaft, in der sie viele Ehen und Familien auseinandergehen sieht, möchte sie „zeigen, dass es (.) mit Gott möglich ist, eine glückliche, gesunde Familie zu haben“ (Z. 1597 f.). Vor diesem Hintergrund legt Lea ihre Erzählung als Entwicklungsnarration an, jedoch nicht nur als ihre eigene, sondern wesentlich als die ihrer Eltern. Zentral gemacht wird dabei die Ausgestaltung des Wertes der Familie. Ihre Mutter habe entgegen ihrer eigenen Kindheitserfahrung zweier arbeitender Elternteile dauerhaft auf eine Erwerbsarbeit verzichtet und bewusst die Kinder an erste Stelle gestellt, „das hat sie auch immer sehr gern gemacht“ (Z. 23 f.). Für die Mutter führt Lea also bereits eine Transformation herkunftsfamilialer Wertprägungen an und insgesamt charakterisiert sie ihre Eltern in ihrer Ausrichtung an der Kernfamilie auch als besonders fortschrittlich gegenüber den Gemeindegepflogenheiten:
[W]ir sind auch gern als Familie in Urlaub gefahr‘n [nicht ausschließlich auf Sommerfreizeiten im erweiterten Kreis der Gemeinde; Anm. d. Verf.]. ähm, das machen nicht alle (.) ähm Russlandsdeutsche, weiß ich, also (.) // mhm // bei vielen kommt das erst jetzt, ähm (1) so unsre Generation, die damit anfängt. (Z. 214 ff.)
Leas Fortführung des elterlichen Lebensentwurfs ist somit aufgehoben in einer bereits vollzogenen Transformation des familiengeschichtlich und gemeindlich Hergebrachten, die den Eltern zugerechnet wird. Dass Leas Lebensentwurf dennoch explizit begründungspflichtig ist, zeigt ihre mehrfache Betonung, dass sie „selber (.) nicht nur einfach nachmache, sondern ähm auch den Sinn dahinter sehe, und das für wichtig sehe“ (Z. 106). Und an anderer Stelle:
Meine Eltern haben mir das auch mhm f:freige-s-tellt, mich anders zu entscheiden; also ich hätt=auch anders machen dürfen. Auch wenn das vielleicht so aussieht, äh dass ich nur: das mache, was meine Eltern machen, ähm aber ich mach=es auch (.) aus Überzeugung. (Z. 1651 ff.)
Die hier von Lea eingenommene Außenperspektive unterstellt ein simples „Nachmachen“, das es zugunsten eines freiheitlich gewählten Lebensentwurfs zu negieren gilt. Lea kennzeichnet die Weiterführung des elterlichen Lebensmodells als eine bewusste und sinnerfüllende Entscheidung, in der auch ihr Gehorsamsschritt gegenüber dem so verstandenen göttlichen Willen als bewährtes Handlungsprinzip aufgehoben ist. So wird die Übernahme des elterlichen Vorbilds von ihr verknüpft mit und legitimiert durch den als reflexiv gekennzeichneten Entwurf eines von emotionalen und verbindlichen Beziehungen geprägten Familienlebens. Vor dem Hintergrund der übergreifenden Zustimmung zum Wert der Familie unter Jugendlichen (vgl. Kap. 2) stellt sich Lea hiermit in einen geteilten und anerkannten Wertekontext, der eine Fortführung des elterlichen Modells problemlos erscheinen lässt. Zugleich lässt sich der äußere Zuspruch für die konkrete Ausgestaltung ihres Lebensentwurfes, bei dem individuelle Wünsche gemäß einem so verstandenen Willen Gottes dem Kollektiv der Familie unterstellt werden, offenbar nicht uneingeschränkt annehmen, sodass narrativ eine Absicherung über die Abgrenzung von anderen Lebens- und Familienmodellen erfolgt. Im Rückblick ist Lea auf ihre ehemaligen Klassenkameradinnen und -kameraden „überhaupt nicht neidisch, sondern dachte, huh, zum Glück muss ich jetzt nicht (.) studieren, sondern darf schon Familie haben, weil ich wirklich (.) glücklich und froh bin mit-, (1) mit dem, wie=s jetzt ist. ja“ (Z. 1312).
6. Fallübergreifende Analyse: Biographische Auseinandersetzung mit familial erworbenen Werten in der Adoleszenz
Drei thematische Schwerpunkte aus Leas Erzählung möchten wir mit Blick auf unsere Eingangsfrage nach wertbezogenen Tradierungs- und Transformationsprozessen herausgreifen und unter Berücksichtigung der dabei sichtbar werdenden Begründungsmuster und wirksam werdenden Bezugsrahmen mit anders gelagerten Fällen kontrastieren.
6.1 „[A]ber ich mach es auch aus Überzeugung“ – Begründungspflicht von Kontinuität
Genauer beleuchtet werden soll zunächst die Frage, inwiefern eine Weiterführung familialer Werte als fraglos oder begründungspflichtig wahrgenommen wird. Lea erachtet es als notwendig, ihren Lebensentwurf als „Ehefrau, Hausfrau und Mutter“ (Z. 1595), mit dem sie sich in die Tradition ihrer eigenen Mutter stellt, als Resultat einer autonomen und wertgeleiteten Entscheidung zu markieren und zu legitimieren.[3] Vor einem gesellschaftlichen Anspruch von „Individualisierung und Einzigartigkeit“ (Gärtner 2013, 214) sind grundsätzlich alle Selbst- und Lebensentwürfe denkbar, zugleich aber auch zu begründen. Joas‘ Feststellung (2006, 4), dass das reflexiv-autonome Individuum in der Gegenwartsgesellschaft seine Wertbindungen nicht mehr allein aus Tradition und Erziehung herleiten kann, wirkt dann besonders stark, wenn an traditionelle Wertüberzeugungen angeknüpft wird, die von dem neuzeitlichen Ideal freiheitlicher Selbstverwirklichung abweichen.
Diese anhand von Leas Fall entwickelte These lässt sich durch Julias Erzählung ausschärfen, die ein modernes Leben eher neben als in der Tradition entwirft (Demmer/Hahn 2020). Traditionskritisch positioniert auch sie sich nicht gegenüber ihrer Herkunftsfamilie, wohl aber gegenüber den wertgebundenen Verhaltens- und Zugehörigkeitspraktiken der russlanddeutschen Freikirche. Die dort geltenden Kleidungsvorschriften untersagen und sanktionieren etwa das Tragen von Schmuck, Make-up und figurbetonter Kleidung. Eben jene Dinge gewinnen für Julias expressiven Selbstausdruck in der Adoleszenz jedoch stark an Bedeutung. Auch einer traditionalen endogamen Heiratsanbahnung, wie Lea sie mitvollzieht, erteilt Julia in ihrem Lebensentwurf eine Absage. In ihrer Abgrenzung von den als repressiv empfundenen Gemeindevorgaben orientiert Julia sich am liberaleren Erziehungsstil und Wertekonzept ihrer Eltern, die zwar am Gemeindeleben teilnehmen, aber Julias Aussage nach „total anders denken als die Gemeinde“ (Z. 195) und ihre Kinder ein „bisschen freier erzogen“ (Z. 273) haben. In ihren außergemeindlichen Bezügen sind ihr darum „Kinobesuche oder so was nicht unbekannt. Oder ich durfte mich ja auch schminken und Schmuck anziehen und Hosen anziehen“ (Z. 274 f.).
Folgt man der Annahme Taylors, dass Autonomie und Authentizität unverhandelbare Maximalwerte der Neuzeit darstellen (Taylor 1995, 10; Rosa 1998, 370), so überrascht es nicht, dass Julia sich mit ihrer Abgrenzung von der Gemeinde weitestgehend in die Tradition ihrer Eltern stellt, deren Lebensstil sie als deutlich freiheitlicher charakterisiert, als es den Gemeinderegeln entspricht. Auch als sie sich in einem als krisenhaft geschilderten Prozess dazu entscheidet, aus der Gemeinde auszutreten, um ihren Glauben an einen „Gott der Freiheit“ (Z. 1520) leben zu können, bleibt die Beziehung zu den Eltern stabil. Anders aber als in Leas Narration erscheint die Herstellung von Elementen der Kontinuität familialer Orientierung keinesfalls begründungspflichtig. Julia beschreibt ihre Eltern und ihren älteren Bruder als Impulsgeber und Mentoren für die reflexive Aneignung eines individuierten Glaubens, der „am Maßstab subjektiver Authentizität“ (Gärtner 2013, 230) ausgerichtet ist. Die daran geknüpften Werte der Freiheit und des persönlichen Wohlergehens, die vor allem über das Ausleben – in ihrem normativen Anspruch unhinterfragter – weiblicher Schönheitsideale thematisiert werden, müssen dabei nicht weiter begründet werden, weil sie umgebungskulturell abgesichert sind. Religiöses wird von Julia eher transformiert als tradiert. Hingegen scheint Leas Fortführung bewährter familialer und religiös verankerter Werte, mit der sie von einer bestimmten Vorstellung eines autonomen Selbstentwurfs abweicht, besonderer Rechtfertigung zu bedürfen, etwa über die Betonung von Freiwilligkeit, Sinnhaftigkeit und innerer Überzeugung (Taylor 1995, 24).
6.2 „[D]as machen nicht alle Russlandsdeutsche“ – Tradierung von Fortschrittlichkeit
Sowohl in Leas als auch in Julias Fall steht die Weiterführung familialer Werte in Zusammenhang mit dem Zugehörigkeits- und Wertekontext der Freikirche sowie weiteren sozialen Bezügen. Daraus erwächst die Frage, inwiefern die narrative Verortung der Herkunftsfamilie in den jeweiligen Bezugsrahmen auf adoleszente Wertbindungsprozesse Einfluss nimmt. Lea stellt die Fokussierung ihrer Eltern auf die Kernfamilie als fortschrittlich gegenüber der Gemeinde dar. Gleichermaßen verortet Julia den Erziehungsstil ihrer Eltern näher bei umgebungskulturellen Orientierungen als bei den Gemeindenormen. Während die Gemeinden den Interviews nach auf die Fortführung eher traditioneller Glaubenswerte und Lebensentwürfe hinwirken, scheint es den Erzählerinnen wichtig, zu zeigen, dass ihre Herkunftsfamilien nicht (nur) in dieser Tradition leben, sondern sich bereits weiterentwickelt haben. So beschreiben neben Lea und Julia auch andere junge Frauen ihre Herkunftsfamilien als mehr oder minder verbunden mit der russlanddeutschen Freikirche, grenzen sie jedoch gemessen am Grad der Liberalität von anderen „typisch russlanddeutschen“ Familien ab.
Zugleich stellt Lea ihre Familie als vorbildhaft konservativer in Abgrenzung zu einer als von Werteverfall bedrohten Umgebungskultur dar. Etwas weniger scharf schätzen auch andere Erzählerinnen den Zusammenhalt und das Vertrauensverhältnis in ihren Herkunftsfamilien ausgeprägter ein als in „deutschen“ Familien. Während sie sich also explizit wie implizit von Vorstellungen eines großenteils religiös begriffenen „russlanddeutschen“ Lebensstils abgrenzen, wird jener Wert der Familie von allen Erzählerinnen als typisch russlanddeutsch markiert und von den meisten für die eigene Biographie bejaht und als tradierungswürdig gesehen. Vor dem Hintergrund der mehrheitlich hohen Zustimmungswerte zu Familie unter Jugendlichen in Deutschland erscheint der Wert der Familie einerseits umgebungskulturell bestätigt und andererseits in seiner spezifischen Ausdeutung von der Umgebungskultur abgehoben.
6.3 „[W]eil es hat mich irgendwie auch nicht glücklich gemacht“ – Pioniere der Transformation
Während Lea und Julia mit Blick auf ihre Familie vor allem fortführende Elemente stark machen und ihre eigene Auffassung eines angemessenen Lebens- und Glaubensstils in die jeweilige elterliche Tradition stellen, finden sich auch Erzählerinnen, die sich stärker von elterlichen Werthaltungen abgrenzen. In diesen Fällen werden die elterlichen Orientierungen im Einklang mit den als überholt oder restriktiv wahrgenommenen Haltungen der Gemeinde gesehen. Jene stehen vor allem konträr zu den persönlichen Bildungsaspirationen, welche die Erzählerinnen für ihre Selbst- und Lebensentwürfe proklamieren und als Begründung für eine Ablösung nicht nur von der Gemeinde, sondern in unterschiedlicher Ausprägung auch von den Eltern und vom Glauben anführen.
Eine solche zeitweise Abkehr lässt sich an der Erzählung von Melissa nachvollziehen, deren Bildungsstreben als Heranwachsende mit den Normalitätserwartungen ihrer Gemeinde und Eltern gleichermaßen konfligiert. So überweisen Melissas Eltern sie entgegen ihrer schulischen Gymnasialempfehlung zunächst auf die Realschule, denn „bei denen in der Gemeinde war irgendwie so die Meinung, dass (.) Gymnasium jetzt °nicht so° toll @ist@“ (Z. 34 ff.). Dass Melissa dennoch das Abitur absolviert und als erste in ihrer Familie ein Studium beginnt, beschreibt sie als Irritation der spezifischen geschlechter- und wertgebundenen Lebensverlaufslogik ihrer Eltern: „[W]arum willst du studieren; (.) du br- wozu brauchst; du das, wenn du eh heiratest und nachher zuhause bist“ (Z. 1015 ff.)? Dennoch geht Melissa ihren Bildungsaspirationen nach und löst sich so aus einem entgegenstehenden Bezugsrahmen, in dem sie die Gemeinde und ihre Eltern einmütig verortet sieht. Den Wegzug an den Studienort nutzt sie, um „einfach mal komplett weg davon“ (Z. 706 f.) zu kommen. Gleichzeitig hadert sie mit Gott und ihrem Glauben, „weil es hat mich irgendwie auch nicht glücklich gemacht“ (Z. 728 f.). Von dieser Lebensphase aus rekapituliert Melissa im Interview, aus der Position einer mittlerweile berufstätigen Ehefrau und Mutter, jedoch auch eine erste Wiederannäherung an die Eltern und den Glauben.
Während Lea und Julia eine wert- und lebensstilbezogene Transformation gegenüber den Gemeindenormen bereits bei den Eltern angelegt finden, beschreibt Melissa sich diesbezüglich als Pionierin. Wie Julia muss auch Melissa ihre Distanzierung von Begrenzungen ihrer persönlichen Freiheit und Entfaltung im Interview nicht begründen; ihr Streben nach individuellem Glück ist umgebungskulturell anschlussfähig. Leas Ausrichtung an kollektiv-familialen Werten dagegen erfordert eine reflexive Begründung. Julia und Melissa beschreiben dementsprechend eher eine individuelle Entwicklungsgeschichte hin zur Verwirklichung persönlicher Bestrebungen nach Autonomie, Authentizität und Glück. Während Julia damit an Vorleistungen ihrer Eltern und ihres älteren Bruders anknüpfen kann, stellt sich Melissa als Pionierin für eine Transformation traditionaler Werte und Lebensformen innerhalb ihrer Familie dar. Lea hingegen beschreibt weniger eine individuelle als vielmehr eine von ihren Eltern initiierte familiale Entwicklungsgeschichte, die auf ein starkes Familiengefüge zielt, in dem auch ihre Wertüberzeugungen aufgehoben sind.
7. Schluss
Im vorliegenden Beitrag haben wir danach gefragt, inwiefern familial erworbene Wertbindungen von den befragten Frauen aufrechterhalten, abgewandelt oder abgelegt werden und inwiefern wert- und lebensstilbezogene Kontinuität oder Kontingenz als fraglos oder als reflexions- und begründungspflichtig wahrgenommen wird. Insgesamt lässt sich ein „Nebeneinander von Bewahrung und Transformation“ (Berteaux/Berteaux-Wiame 1991, 38) bestätigen, wobei unterschiedliche Bezugsrahmen (Halbwachs 1985a, 1985b) relevant werden. Die Analyse der biographischen Erzählungen zeigt neben der Familie auch die religiöse Gemeinschaft als bedeutenden Sozialisations- und Wertekontext, der von den jungen Frauen stärker mit Tradierungs- als mit Transformationsabsichten verbunden wird. Einerseits besteht insbesondere über darin institutionalisierte Beziehungen zu religiösen Gleichaltrigen sowie weiteren Familienangehörigen eine starke Verbundenheit zur Gemeinde, andererseits werden wertgebundene Verhaltens- und Zugehörigkeitspraktiken von der jungen Generation nicht mehr unhinterfragt geteilt und fortgeführt.
Einen Referenzpunkt für diesbezügliche (Um-)Orientierungen stellen neuzeitliche Ideale von Individualisierung, Selbstverwirklichung und Authentizität dar, die von allen Erzählerinnen implizit oder explizit für eigene Positionierungen herangezogen werden, sei es zur Legitimation oder zur Abgrenzung des eigenen Handelns. Wo bereits die Wertorientierungen und Lebensentwürfe der Eltern sich an jenen Idealen orientieren, scheint eine Fortführung familialer Vorlagen den Erzählerinnen nicht begründungspflichtig. Hingegen zeigen sich vielfältige Legitimationsstrategien der Tradierung, wenn dies in Zweifel steht. Hierzu zählen die Betonung des Werts der Familie angesichts der Diagnose gesellschaftlicher Unsicherheit, die starke Abgrenzung von anderen Wert- und Lebensausrichtungen und die Hervorhebung bereits familial fundierter Fortschrittlichkeit. Die biographische Narration reagiert damit annehmbar auf erlebte oder antizipierte kritische Außenperspektiven, die in der spezifischen Interviewsituation mit einer nicht-russlanddeutschen und nicht-gemeindezugehörigen Interviewerin aufgerufen werden.
Werden elterliche Vorstellungen des Wünschenswerten hingegen stärker transformiert als tradiert, wird dies in unseren Interviews von den Erzählerinnen stark mit Bildungsaspirationen verknüpft, was jene als gesellschaftlich hochwirksame Wertausrichtung hervortreten lässt. Die Bezugnahme auf offenbar übergreifend gültige gesellschaftliche Aufforderungen – neben der Umsetzung des persönlichen Bildungskapitals auch die Reflexion geschlechtsspezifischer Lebensentwürfe – wird in den Interviews allerdings kaum mit konkreten sozialen Kontexten wie Schule oder Gleichaltrigen verknüpft. Vielmehr scheinen sich jene umgebungskulturell präsenten Werte über gesamtgesellschaftliche Zugehörigkeit und darin eingelagerte Erwartungen zu vermitteln.
Während das Potenzial einer biographischen Erforschung von Wertbindungen bisher unter anderem darin gesehen wird, dass sich diese aufgrund ihrer prä-reflexiven Anteile und ihrer Nähe zu gemeinschaftlicher Praxis insbesondere in narrativen Passagen aufspüren lassen (Fuchs 2016, 211), weisen unsere Ergebnisse darauf hin, dass gerade auch argumentative Passagen auf Wertbindungen schließen lassen, nämlich auf solche, die im Verdacht stehen, ultimativen gesellschaftlichen Werten (Taylor 1994) entgegenzustehen. Dies gilt es künftig empirisch auszuschärfen, etwa mit Blick auf biographische Erzählungen von jungen Männern, für die insbesondere in dem von uns betrachteten Kontext eine andere Form der Vergesellschaftung angenommen werden kann.
Die verschiedenen Sozialisationskontexte haben wir mit Halbwachs (1985a, 1985b) als soziale Bezugsrahmen und Träger kollektiver Gedächtnisse gefasst, die für die biographischen Selbstkonstruktionen relevant werden, sich umgekehrt aber auch durch die Zugehörigkeiten der Einzelnen wandeln können. Während von uns die Perspektive der jungen Frauen der zweiten Generation betrachtet wurde, gilt es weiterführend die intergenerationalen Rückwirkungen der Tradierung und Transformation von Werten mehrperspektivisch zu eruieren, z. B. in Form von Familiengesprächen (Fuchs 2016, 212; Böker/Zölch 2017).
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