EDITORIAL: PEER- UND FREUNDSCHAFTSBEZIEHUNGEN IM JUGENDALTER

Giovanna Hartmann Schaelli, Fränzi Buser und Anna Schnitzer

Peer- und Freundschaftsbeziehungen gelten im Jugendalter als wichtiger Sozialisationskontext (Krinninger 2009; Ecarius et al. 2011; Köhler 2016). Peers und Freund*innen unterstützen beispielsweise die Identitätsbildung, indem sie sich gegenseitig Entwicklungsimpulse geben, Orientierungen bieten, Unterstützungen leisten, den Selbstwert stärken und emotionalen Rückhalt geben (Youniss 1980; Nötzoldt-Linden 1994; Wehner 2006). Peers- und Freundschaftsbeziehungen helfen Jugendlichen, Autonomie und soziale Kompetenzen weiter zu entwickeln, soziale Interaktionen zu gestalten, Konflikte auszuhandeln und eigene Kommunikationsmodi auszubilden (Krappmann 1991; Krappmann/Oswald 1995; Oswald 2008). Als sozialer Experimentierraum ermöglichen sie unter anderem das Bilden, Infragestellen und Negieren von Werten und Normen, wobei sich Jugendliche über diese Identifikations- und Abgrenzungsprozesse in der Gesellschaft positionieren (Böhm-Kasper 2006; Pfaff 2009).

Den Jugendlichen wird bei der Herstellung und Gestaltung ihrer Peer- und Freundschaftsbeziehungen eine aktive Rolle zugesprochen, wobei ein Wechselverhältnis von strukturellen Gegebenheiten sowie individuellen wie auch kollektiven Gestaltungsmöglichkeiten hervorgehoben wird (Adler/Adler 1998). Die Dynamik dieses Wechselverhältnisses geht mit unterschiedlichen sozialen Praktiken einher und kann für Jugendliche von unterschiedlicher Bedeutung sein. Sowohl die soziale Praxis der Beziehungsherstellung und -gestaltung als auch die den Peer- und Freundschaftsbeziehungen zugeschriebenen subjektiven Bedeutungen können sich in der Jugendphase im Verlaufe der Zeit (immer wieder) verändern und von den Jugendlichen auf individuelle Weise reflektiert werden.

Obwohl Peer- und Freundschaftsbeziehungen zunehmend in den Fokus sozialwissenschaftlicher Forschung gerückt sind, wird vermehrt eine fehlende differenzierte begriffliche, theoretische sowie method(olog)ische Auseinandersetzung bezüglich der Konzepte Peers und Freund*innen kritisiert (vgl. Oswald 2008; Köhler et al. 2016; Schobin et al. 2016) – insbesondere in ausserschulischen Kontexten (Grunert 2016). Vor diesem Hintergrund nehmen die Autor*innen im vorliegenden Heft Peer- und Freundschaftsbeziehungen im Jugendalter aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick. Dabei stehen einerseits verschiedene Praktiken im Fokus, mit denen Jugendliche ihre Peer- und Freundschaftsbeziehungen gestalten. Andererseits werden subjektive Bedeutungsdimensionen, die Jugendliche diesen Beziehungen zuordnen, untersucht. Auf diese Weise versammelt das Heft vier Beiträge, die unterschiedlich methodisch und methodologisch gerahmte empirische Ergebnisse präsentieren, die für die Bearbeitung des Forschungsdesiderats von Bedeutung sind. Die ersten beiden Beiträge fokussieren hierbei auf Peerbeziehungen, die beiden darauffolgenden richten ihren Fokus auf Freundschaften als eine spezifische Form von Peerbeziehungen.

Im ersten Beitrag richten Yağmur Mengilli und Sina-Mareen Köhler den Blick auf die Umgangsweisen von Jugendlichen mit gesellschaftlich gesetzten „Zeiträumen und -anforderungen“ im durchgetakteten Alltag. Hierbei gehen sie der Frage nach, wie junge Menschen im Kreise ihrer Peers mit Zeit umgehen und wie sie dies mit spezifischen Raumnutzungen verbinden. Auf der Grundlage von empirischem Material aus zwei Forschungsprojekten wird anhand kontrastierender Fälle die Bedeutsamkeit der Peers für die Auseinandersetzung und Bewältigung von Zeit-Raum-Verhältnissen auf dem Weg ins Erwachsenenalter nachgezeichnet. Die Autorinnen rekonstruieren, wie junge Menschen mit einem extensiven Zeitmanagement belastet sind, sich in diesem Zusammenhang aber auch Auszeiten nehmen.

André Weßel widmet sich in seinem Beitrag einem bisher eher vernachlässigten Forschungsfeld innerhalb der Peerforschung, indem er die Relevanz digitaler Medien für den Aufbau und die Ausgestaltung von Peerbeziehungen von Jugendlichen in stationären Einrichtungen der Erziehungshilfe in den Fokus der Analyse stellt. Der Autor zeigt anhand von kontrastiven Fallbeispielen auf, dass digitale Medien nicht nur ein wichtiger Bestandteil, sondern eine konstitutive Bedingung von Peerbeziehungen sind. Digitale Medien nehmen in hohem Maße Einfluss darauf, wie die jungen Menschen ihre Peerbeziehungen inner- wie auch außerhalb der Einrichtungen leben können. Wie „medial konstituierte Peerbeziehungen“ dabei hergestellt und gepflegt werden, steht in engem Zusammenhang damit, wie digitale Medien im Kontext der Lebenssituation in der stationären Kinder- und Jugendhilfe genutzt werden (können).

Simon Christoph widmet sich in seinem Beitrag der Begriffsunterscheidung zwischen „Peers“ und „FreundInnen“ sowie der Amorphität des Freundschaftsbegriffes und der Unterschiedlichkeit von Freundschaftsbeziehungen. In kritischer Betrachtung der häufig diffusen sprachlichen und konzeptionellen Verwendung der Begrifflichkeiten setzt sich der Beitrag sowohl theoretisch als auch empirisch mit Freundschaftsbeziehungen in der Adoleszenz auseinander. Über eine inhaltsanalytische Analyse qualitativer Interviews mit jungen Erwachsenen geht der Autor u. a. den Fragen nach, durch welche Dimensionen sich das Freundschaftskonzept auszeichnet und welche Bedeutung die Befragten (engen) Freundschaften beimessen. Dabei wird Freundschaft als multidimensionales Konzept herausgearbeitet und der Stellenwert von Freundschaften in der späten Phase der Adoleszenz diskutiert.

Kevin Leja und Iris Schwarzenbacher fokussieren in ihrem Beitrag Freundschaften von männlichen Jugendlichen, wobei sie insbesondere Fürsorglichkeit genauer in den Blick nehmen. Sie bearbeiten damit das Desiderat, dass Freundschaften unter männlichen Jugendlichen bisher vor allem in Bezug auf eine im Vergleich zu „Mädchenfreundschaften“ „fehlende Intimität“ untersucht wurden. Unter Bezugnahme auf Konzepte der feministischen Care-Ethik und auf der Basis einer tiefenhermeneutischen Einzelfallanalyse rekonstruieren die Autor*innen verschiedene Fürsorgepraktiken in Freundschaften zwischen männlichen Jugendlichen. Gleichzeitig verweisen sie auf das Spannungsverhältnis zwischen freundschaftlicher Fürsorglichkeit und gesellschaftlichen Männlichkeitsanforderungen und plädieren für einen reflektierten Blick auf die Wechselbeziehungen von Geschlecht und Freundschaft.

Diese vier Beiträge zum Themenschwerpunkt werden durch einen freien Beitrag von Helena Deiß ergänzt. Sie stellt die Bildungserfahrungen junger Geflüchteter sowie ihre Perspektiven auf Lebens- und Bildungsbedingungen in der Migrationsgesellschaft in den Mittelpunkt. Der Beitrag beruht auf der Masterarbeit der Autorin, in deren Rahmen Gruppendiskussionen mit jungen Erwachsenen geführt wurden. Auf der Basis dieses Materials können aus biographieanalytischer Perspektive unterschiedliche Dimensionen der Handlungsfähigkeit der jungen Erwachsenen rekonstruiert werden, wobei insbesondere die zeitliche Dimension bedeutsam ist. Die Autorin kann zeigen, dass sich im Verlaufe des „Ankommens“ bei ihren Forschungsteilnehmenden eine Verschiebung von einer „handlungsaktiven“ hin zu einer „resignierenden“ Haltung ergibt, die mit den Erfahrungen von Handlungsunfähigkeit der jungen Menschen einhergeht.

Abschliessend nimmt Peter Rieker in seiner Rezension das kürzlich erschienene Buch von Arnd-Michael Nohl „Politische Sozialisation, Protest und Populismus. Erkundungen am Rande der repräsentativen Demokratie“ in den Blick. Er empfiehlt die Lektüre all denjenigen, die sich einen Überblick zu Fragen politischer Sozialisation verschaffen und Einblicke in aktuelle Untersuchungen gewinnen wollen oder sich für die Weiterentwicklung der politischen Sozialisationstheorie interessieren.

Die Realisierung dieses Heftes ist erst durch die Unterstützung und Mitarbeit vieler Kolleg*innen möglich geworden. Wir möchten allen Gutachter*innen für ihre wertvolle Arbeit und den Autor*innen dieses Heftes für die gute Kooperation danken. Zudem danken wir dem ganzen GISo-Team für die kontinuierliche Unterstützung und Beratung. Daniel Werner hat alle Beiträge dieses Heftes aufmerksam gelesen und mit viel sprachlichem Feingefühl lektoriert. Antonia Huber hat uns tatkräftig bei der Formatierung und den letzten Korrekturschleifen unterstützt. Michael Bieri von „speckdrum communication“ hat die professionellen Vorlagen für die Online-Veröffentlichung dieses Heftes erstellt. Dafür danken wir allen herzlich.

Wir hoffen, Ihnen mit diesem Heft Einblicke in aktuelle Forschungsarbeiten zu Fragen der Peer- und Freundschaftsforschung im Jugendalter zu geben und wünschen eine anregende Lektüre!

Literatur

Adler, Patricia A./Adler, Peter (1998): Peer Power. Preadolescent Culture and Identity. New Brunswick/New Jersey/London: Rutgers University Press.

Böhm-Kasper, Oliver (2006): Schulische und politische Partizipation von Jugendlichen. Welchen Einfluss haben Schule, Familie und Gleichaltrige auf die politische Teilhabe Heranwachsender? In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 1 (3), 353–368.

Ecarius, Jutta/Eulenbach, Marcel/Fuchs, Thorsten/Walgenbach, Katharina (2011): Jugend und Sozialisation. Wiesbaden: VS.

Grunert, Cathleen (2016): Informelles Lernen im Jugendalter. In: Harring, Marius/Witte, Matthias D./Burger, Timo (Hrsg.): Handbuch informelles Lernen. Interdisziplinäre und internationale Perspektiven. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, 331–343.

Köhler, Sina-Mareen (2016): Die sozialisations-theoretische Perspektive: Der Wandel der Peer- und Freundschaftsbeziehungen im Lebensver-lauf. In: Köhler, Sina-Mareen/Krüger, Heinz-Hermann/Pfaff, Nicolle (Hrsg.): Handbuch Peer-forschung. Opladen: Barbara Budrich, 89–119.

Köhler, Sina-Mareen/Krüger, Heinz-Hermann/Pfaff, Nicolle (2016): Peergroups als Forschungsgegenstand – Einleitung. In: Köhler, Sina-Mareen/Krüger, Heinz-Hermann/Pfaff, Nicolle (Hrsg.): Handbuch Peerforschung. Opla-den/Berlin/Toronto: Barbara Budrich, 11–36.

Krappmann, Lothar (1991): Sozialisation in der Gruppe der Gleichaltrigen. In: Neues Handbuch der Sozialisationsforschung. Weinheim/Basel: Beltz, 355–375.

Krappmann, Lothar/Oswald, Hans (1995): Alltag der Schulkinder. Beobachtungen und Analysen von Interaktionen und Sozialbeziehungen. Weinheim/München: Juventa.

Krinninger, Dominik (2009): Freundschaft, Intersubjektivität und Erfahrung. Empirische und begriffliche Untersuchungen zu einer sozialen Theorie der Bildung. Bielefeld: transcript.

Nötzoldt-Linden, Ursula (1994): Freundschaft. Zur Thematisierung einer vernachlässigten soziologischen Kategorie. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Oswald, Hans (2008): Sozialisation in Netzwerken Gleichaltriger. In: Hurrelmann, Klaus/Grundmann, Matthias/Walper, Sabine (Hrsg.): Handbuch Sozialisationsforschung. 7. Auflage, Weinheim: Beltz, 321–332.

Pfaff, Nicolle (2009): Informelles Lernen in der Peergroup – Kinder- und Jugendkultur als Bildungsraum. Online verfügbar unter: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-56689 (20.11.22).

Schobin, Janosch/Leuschner, Vincenz/Flick, Sabine/Alleweldt, Erika/Heuser, Eric Anton/Brandt, Agnes (2016): Freundschaft heute. Eine Einführung in die Freundschaftssoziologie. Bielefeld: transcript.

Wehner, Karin (2006): Freundschaftsbeziehungen von Kindern und Jugendlichen und soziale Unterstützung. In: Aliesch, Lutz-Michael/Wagner, Jürgen W.L. (Hrsg.): Freundschaften unter Kindern und Jugendlichen. Interdisziplinäre Perspektiven und Befunde. Weinheim/München: Juventa, 119–135.

Youniss, James (1980): Parents and Peers in Social Development. A Sullivan-Piaget Perspective. Chicago: University of Chicago Press.