REZENSION ZU: ARND-MICHAEL NOHL (2022): POLITISCHE SOZIALISATION, PROTEST UND POPULISMUS. ERKUNDUNGEN AM RANDE DER REPRÄSENTATIVEN DEMOKRATIE. WEINHEIM/BASEL: BELTZ JUVENTA

276 Seiten, ISBN 978-3-7799-6997-6, 24,95 €

Peter Rieker

Untersuchungen zur politischen Sozialisation sind, zumindest im deutschen Sprachraum, seltener geworden und auch Theorieentwürfe zur politischen Sozialisation sind inzwischen etwas in die Jahre gekommen. Vor diesem Hintergrund möchte Arnd-Michael Nohl durch theoretische Reflexionen und empirische Analysen eine Theorie politischer Sozialisation entwickeln, die sowohl Sozialisationsprozessen innerhalb und jenseits des politischen Systems gerecht wird als auch solchen, die gegen dieses System gerichtet sind (S. 13). Dafür wird sich auf vorliegende Untersuchungen zur Sozialisation in verschiedenen politischen Kontexten und auf empirische Daten bezogen, die nicht eigens für diesen Zweck erhoben wurden, sondern aus anderen Kontexten stammen und reanalysiert wurden.

Die auf diese Weise entworfene und im dritten Kapitel des Buches skizzierte Sozialisationstheorie knüpft an interaktionistische Konzepte von George Herbert Mead an, die durch Karl Mannheims Überlegungen zum konjunktiven Erfahrungsraum und durch Rollentheoretische Konzepte ergänzt werden. Poltische Sozialisation wird dabei folgendermaßen definiert: „Als politisch sollen all jene Komponenten von Sozialisation verstanden werden, bei denen Interaktionen, konjunktive Erfahrungsräume und Rollenorientierungen einen Bezug zu ein Kollektiv bindenden, durch Macht durchsetzbaren Entscheidungen haben“ (S. 47). Entstehen soll so eine Theorie, die breit angelegt ist, sich nicht auf ein staatsbezogenes Politikverständnis beschränkt, sondern auch solche Lebensbereiche einbezieht, die oft nicht als politisch verstanden werden, die jedoch aufgegriffen und politisiert werden können, wie dies z. B. in Hinblick auf Geschlechterfragen, Verkehrsmittelnutzung oder Ernährung beobachtet werden kann. Sehr schön wird so die Fluidität zwischen Politischem und Unpolitischem berücksichtigt, wobei es gemäß Nohl die Diskrepanzen zwischen symbolischer Ordnung und konjunktivem Erfahrungsraum seien, die zur Politisierung des zuvor Unpolitischen beitrügen (S. 54). Grundlegend für diesen Entwurf ist die Frage, inwieweit dem Kollektiv, das mittels der durch Macht durchsetzbaren Entscheidungen gebunden ist, über die unmittelbar Beteiligten hinaus weitere Personen angehören: Erst wenn diese Entscheidungen auch für andere folgenreich seien bzw. andere betroffen seien, spricht Nohl von „politischen“ Entscheidungen; wenn lediglich die unmittelbar Beteiligten betroffen seien, handle es sich um „protopolitische“ Entscheidungen (S. 47).

In den folgenden Kapiteln werden empirische Befunde zur Politisierung in verschiedenen Kontexten präsentiert – auf einige von ihnen wird im Folgenden eingegangen. In einem ersten Schritt (Kap. 4) widmet sich die Untersuchung der Sozialisation in Bezug auf links-alternative Protestbewegungen, wobei Prozesse der Sozialisation vor allem für die Zeit vor dem politischen Engagement untersucht werden. Anhand dreier Fälle (geboren 1943, 1968 und 1988) werden Einblicke in relevante Aspekte politischer Sozialisation gegeben. So wird z. B. deutlich, dass Zusammenhänge zwischen Erfahrungen in der Kindheit und späterem politischem Engagement relevant sein können. Einerseits können dies z. B. Differenz- oder Ungerechtigkeitserfahrungen sein, die als Motivation für Engagement wirken können, andererseits schulische bzw. familiale Anregungen durch signifikante Andere. Unterschieden wird dabei zwischen familialer Sozialisation, politischer Sozialisation sowie einem vermittelnden transformativen Bildungsprozess, wobei sich dem Rezensenten die Frage stellt, inwieweit es sinnvoll und möglich ist, diese Unterscheidung in der empirischen Analyse aufrecht zu erhalten – letztlich ist dies auch die (ungeklärte) Frage nach der Abgrenzung zwischen dem Protopolitischen und dem Politischen.

Im sechsten Kapitel geht es um die populistischen Bewegungen der „Tea Party“ in den USA und der AKP, die in der Türkei inzwischen die Regierung stellt. Für die Analyse bezieht sich der Autor in beiden Fällen nicht auf ihm vorliegendes empirisches Material, sondern auf bereits veröffentliche Studien, die interessante und wichtige Einblicke in diese politischen Bewegungen geben. Auf diese Weise werden zwei Kontexte für die hiesige Diskussion fruchtbar gemacht, die hier sonst eher am Rande stehen – und im Fall der AKP auch nur schwer zugänglich sind, da diese Studien bisher nur in türkischer Sprache vorliegen. Allerdings hat der Verzicht auf die Analyse empirischen Materials seinen Preis: Man erfährt kaum etwas über Bedingungen, Prozesse oder Instanzen der politischen Sozialisation. Die Analyse fokussiert sich in diesem Kapitel auf politische Rollenorientierungen und Weltanschauungen, wobei z. B. herausgearbeitet wird, dass durch die Aktivisten der AKP die Grenze zwischen Politik und alltäglicher Lebensführung eingeebnet wird und die Abgrenzung zwischen islamischer und säkularer Lebensweise zentralen Stellenwert hat (S. 193 ff.).

Mit der Protestbewegung „Pegida“, die seit 2014 v. a. in Dresden Demonstrationen „gegen eine Islamisierung des Abendlandes“ durchführt, wird eine in Deutschland präsente Variante des Engagements in populistischen Bewegungen in den Blick genommen (Kap. 7). Nohl bezieht sich hierfür auf Gruppendiskussionen mit Anhängern dieser Bewegungen, die in Hinblick auf Fragen politischer Sozialisation reanalysiert werden. Gemäß dieser Analyse hat die Sozialisation in der DDR bei den Beteiligten zu einem idealisierten Bild der Demokratie beigetragen, da sie in die reale Demokratie (mit all ihren Unzulänglichkeiten) nicht einsozialisiert worden seien – zumal die Zeit nach dem Zusammenbruch der DDR als politisches Moratorium erlebt wurde, in dem Fragen der Existenzsicherung im Vordergrund standen (S. 242 ff.). Dies habe zu enttäuschtem Vertrauen in die Demokratie geführt und im Unterschied zu den im vorherigen Kapitel untersuchten Populismus-Varianten, bei denen eine Rollenorientierung innerhalb des politischen Systems zum Ausdruck komme, hätten die Pegida-Anhänger gegen-institutionelle Handlungsmuster ausgeprägt (S. 218).

Im Abschlusskapitel werden die vielfältigen Ergebnisse der in diesem Buch präsentierten „Erkundungen“ resümiert – sie können hier nur sehr selektiv dargestellt werden. Dabei zeigen sich Differenzen zwischen den untersuchten Varianten der Politisierung. Im links-alternativen Protestmilieu haben Politisierungserfahrungen jenseits von politischen Institutionen während der Adoleszenz großen Stellenwert, wobei es darum geht, gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse zu thematisieren und eine Perspektivenübernahme gegenüber Andersdenkenden anzuregen (S. 258 f.). Demgegenüber ist die Politisierung in populistischen Milieus im Erwachsenenalter erfolgt, sie richtet sich gegen politische Institutionen und strebt eine Re-Souveränisierung derjenigen an, die Marginalisierungserfahrungen gemacht haben, wobei dies nur auf das „eigentliche“ Volk bezogen werde und z. B. nicht auf Andersdenkende (S. 252 ff.). Zur Genese dieser Positionen wird ausgeführt, dass lebensgeschichtlich bereits früh (z. B. in der Familie) (proto-)politische Erfahrungen damit gesammelt wurden, wie kollektiv bindende Erfahrungen herbeigeführt werden, auf die dann später bei der Übernahme politischer Rollen zurückgegriffen werden könne (S. 264). Abschließend plädiert der Autor dafür, dass sich die politische Sozialisationsforschung nicht auf die Passung von politischen Orientierungen, Habitus und Weltanschauung zum politischen System beziehen soll, sondern besser ohne solch ein Bias arbeitet (S. 267 f.), um so auch Politikfelder jenseits der etablierten, institutionalisierten Politik sichtbar zu machen.

Zusammengenommen präsentiert das Buch eine Fülle interessanter und wichtiger Überlegungen und Ergebnisse. Entwickelt wird eine konsistente und innovative Theorie politischer Sozialisation, bei der vorliegende Ansätze durch interessante Aspekte ergänzt werden. Durch den vergleichenden Ansatz, der verschiedene politische Milieus und Politisierungsvarianten „am Rande der repräsentativen Demokratie“ einbezieht und auf diese Weise überzeugend für ein breites Verständnis politischer Sozialisation plädiert, kann die Begrenzung auf staatliche, institutionelle Politik vermieden werden. Allerdings führt der Rückgriff auf empirisches Material aus Untersuchungen, die sich nur zum Teil auf politische Sozialisation beziehen, dazu, dass die Leser*innen mitunter mehr über die Ausprägungen politischer Orientierungen bzw. Handlungsweisen als über Bedingungen, Verläufe und Ergebnisse politscher Sozialisation erfahren. Auf jeden Fall lohnt sich die Lektüre für all diejenigen, die sich einen Überblick zu Fragen politischer Sozialisation verschaffen und Einblicke in aktuelle Untersuchungen gewinnen wollen – ein Muss ist das Buch für diejenigen, die sich für die Weiterentwicklung politischer Sozialisationstheorie interessieren.