DAS SICH-NICHT-EINLASSEN (IN) DER JUGENDHILFE – WIE „SYSTEMSPRENGER*INNEN“ UND ABBRÜCHE DURCH INSTITUTIONEN (MIT-)PRODUZIERT WERDEN

Nadine Sarfert

1. Einleitung

Abbrüche sind in der stationären Jugendhilfe keine Seltenheit. Schätzungen zufolge werden zwischen 40 und 50 % aller stationärer Hilfen vorzeitig – also abweichend vom Hilfeplan – beendet (Tornow/Ziegler 2012, 105). Insbesondere Jugendliche, die Schwierigkeiten haben, in einer Einrichtung stabil anzukommen, und von einer Maßnahme in die nächste wechseln, sind dem Risiko ausgesetzt, mit dem Label „Systemsprenger*in“ versehen zu werden. Es wurde bereits vielfach darauf hingewiesen, wie problematisch dieser Begriff ist (Kieslinger et al. 2021). Er fokussiert das Kind oder die*den Jugendliche*n, anstatt das System infrage zu stellen (Baumann 2010); zudem ist er stigmatisierend und kann wie ein Label wirken, das jungen Menschen angeheftet wird. Wenngleich natürlich nicht alle Jugendlichen in den Erziehungshilfen als Systemsprenger*innen gelten, so verführt die breite und vielfache Verwendung dieses Terminus dazu, sämtliche Adressat*innen im System der stationären Jugendhilfe darunter zu subsumieren, wodurch wiederum die Wahrscheinlichkeit steigt, dass diese in ihrem Umfeld, in Schule, Nachbarschaft oder Stadtbezirk, von vorneherein als Problem gesehen werden.

Allerdings ist bei der Frage von Abbrüchen dieser Begriff, der auf das Kind oder die*den Jugendliche*n fokussiert, auch symptomatisch – insofern, als dass die Ursache für Abbrüche tatsächlich oftmals ausschließlich oder vorschnell bei bzw. in den Jugendlichen gesehen wird (Schmid et al. 2014). Diese würden sich – etwa aufgrund ihrer psychopathologischen Konstellationen, ihrer sozialisationsbedingten Bindungsstörungen oder anderer Dispositionen – nicht oder nicht ausreichend auf die stationären Angebote einlassen können und auf diese Weise ein Gelingen der Hilfen verhindern (siehe Kap. 2) – Systemsprenger*innen eben.[1] Wenngleich psychologisierende Erklärungsansätze in der Praxis durchaus notwendig sind, um bestimmte Verhaltensweisen auch nachvollziehbar werden zu lassen und Hinweise für spezifische Bedürfnisse und für passgenaue professionelle Interventionen oder Hilfeleistungen zu bieten, so besteht dabei jedoch zugleich auch die Gefahr, aus dem Blick zu verlieren, dass Konflikte, Krisen und darauffolgende Abbrüche nicht lediglich in und durch die Jugendlichen hervorgerufen werden, sondern auch die Einrichtung selbst oder die Beziehung zwischen Betreuten und Betreuenden zentrale Wirkungsfaktoren sein können, ob die Hilfe gelingt oder nicht. In diesem Sinne ist es immer auch notwendig, dass sich Sozialarbeiter*innen fragen, wie sie selbst an Konflikten und Eskalationen, die zu sanktionierenden Entlassungen führen, beteiligt sind oder inwiefern sie selbst dazu beitragen, wenn junge Menschen nicht in den Einrichtungen ankommen bzw. sich immer wieder den Angeboten entziehen.

Darum soll es in diesem Artikel gehen. Wenngleich auch institutionelle Rahmenbedingungen und der konkrete Kontext (wie z. B. die Räumlichkeiten, der Aufnahmezeitpunkt, die Gruppenzusammensetzung usw.) bedeutsame Einflussfaktoren für Abbrüche sein könnten, was mit der Situationsanalyse nach Clarke (2012) spannend zu untersuchen wäre, so wird im Folgenden die Frage behandelt, was eigentlich professionell Tätige dazu beitragen, ob Jugendliche in der Einrichtung gut ankommen können oder nicht – inwiefern ein „Sich-aufeinander-Einlassen“ auch seitens der Sozialarbeiter*innen stattfindet oder eben nicht. Dabei richtet sich das Interesse auch auf die verborgenen Emotionen, die auf Seiten der Professionellen aufkommen und in der Beziehung zu den Jugendlichen wirkmächtig werden können. Um dieser Thematik nachzugehen, werde ich einzelne Sequenzen aus einem Beobachtungsprotokoll aus einer stationären Einrichtung analysieren, welches ich im Rahmen meiner Dissertation erhoben und mit der Methode der Tiefenhermeneutik interpretiert habe.

Dafür werde ich einen groben Überblick über den Forschungsstand und einen Einblick in die Psychoanalytische Pädagogik als theoretische Rahmung bieten (2), das Forschungsdesign und meine Methoden umreißen (3), die psychosozialen Dynamiken in der pädagogischen Beziehung anhand des empirischen Datenmaterials (4) wie auch an den Affekten in der Interpretationsgruppe (5) rekonstruieren, diese Ergebnisse gesellschaftstheoretisch diskutieren (6) und schließlich resümierend zusammenfassen (7).

2. Forschungsstand und theoretische Fundierung

Es gibt nur wenig Forschung über Abbrüche in den stationären Erziehungshilfen und deren Ursachen. Zudem sind es meist quantitative Studien, die sich mit Hilfeverläufen befassen und Aussagen zu Gründen treffen oder Erklärungsmodelle und -ansätze bieten (Freigang 2020, 262). Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – ist es besonders auffällig, dass hinsichtlich der Frage nach den Gründen für vorzeitige, ungeplante oder einseitige Beendigungen der Hilfen vor allem die Jugendlichen im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. So beispielsweise weisen Schmid et al. (2014) in ihrer großangelegten Studie zu Einflussfaktoren von Abbrüchen in der Jugendhilfe darauf hin, dass insbesondere etwa psychische Belastungen, Traumata, Delinquenz und psychopathische Persönlichkeitszüge als Risikofaktoren für einen negativen Jugendhilfeverlauf gelten, weshalb auch diese Faktoren in der Studie gezielt erfasst wurden. Es wird also ein signifikanter Zusammenhang zwischen psychopathologischen Dispositionen der Jugendlichen und den Abbruchraten in stationären Jugendhilfeeinrichtungen gesehen und fokussiert. Tornow und Ziegler, die den Ursachen von Abbrüchen in den stationären Erziehungshilfen im bundesdeutschen Kontext nachgehen, kommen u. a. ebenfalls zu dem Ergebnis, dass das Abbruchrisiko besonders hoch ist, „wenn die jungen Menschen stark problembelastet sind, wenn die familiäre Situation und das Lebensumfeld keine Alternative zur Heimerziehung bietet und wenn bereits mehrere Hilfen durchlaufen sind“ (2012, 105). Ohne eine konkrete Nennung von möglichen Ursachen werden auch insbesondere von Fachkräften in den Jugendhilfeeinrichtungen die Gründe für Abbrüche in erster Linie bei den Adressat*innen verortet. In der Stichprobenstudie EQUALS, welche in Schweizer Jugendheimen eine Abbruchrate von 45 % ermittelte, wurden als häufigste Gründe Regelverstöße, „gefolgt von einer permanenten Abwesenheit“ (Jenkel et al. 2017) der Klient*innen, angegeben. Die quantitative Studie von Baumann zeigt, dass 13,93 % der stationären Unterbringungen mit der Begründung beendet werden, dass die betroffenen Adressat*innen nicht haltbar für die Einrichtung seien (Baumann 2010, 28 f.). Schließlich weisen auch Tornow und Ziegler darauf hin, dass die Fachkräfte ein Weglaufen der Jugendlichen aus der Einrichtung als ein Sich-nicht-einlassen deuten und die jungen Menschen dadurch vorschnell entlassen werden (2012, 110).

Bereits in dieser groben Zusammenschau wird somit deutlich, dass die Hauptursache für die sogenannte Drehtürpädagogik, d. h. den schnellen Wechsel von einer Jugendhilfeeinrichtung in die nächste, vor allem bei den Adressat*innen gesehen wird. Die Frage, ob und inwiefern sich die Sozialarbeiter*innen ihrerseits auf die Jugendlichen einlassen können, wird hingegen kaum gestellt. Es scheint die Annahme vorherrschend, dass die Einrichtungen und Fachkräfte qua ihres Auftrags den Jugendlichen grundsätzlich zugewandt sind und diese stets in den Hilfen halten wollen. Sicherlich ist es auch das, was die meisten Sozialarbeiter*innen als solches bewusst und intentional vertreten würden. Aus einer psychoanalytischen Perspektive ist jedoch nicht nur das bewusste, intentionale Handeln der Akteur*innen von Bedeutung; vielmehr gibt es im Anschluss an Freud auch unbewusste Triebkräfte, die dieses Handeln unbemerkt lenken und das soziale Miteinander prägen (Freud 1933, 508). In diesem Sinne stellt sich die Frage, ob es möglicherweise schon auf struktureller Ebene bzw. seitens der Einrichtungen oder der Sozialarbeiter*innen auch etwas Latentes, etwas Widerständiges gibt, was sich dem erklärten Ziel, die Jugendlichen aufzunehmen und zu halten, widersetzt oder diesem entgegenläuft. Die Psychoanalytische Soziale Arbeit, die versucht „ihren Gegenstand mit psychoanalytischen (und mit sozialwissenschaftlichen) Methoden zu durchdringen“ (Dörr 2021, 137), bietet Anschlussstellen für diese Frage. So formuliert Bernfeld, ein Pionier der Psychoanalytischen Pädagogik, in seinem 1925 erschienenen Text „Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung“, dass die pädagogischen Interaktionen immer auch wesentlich durch die inneren, unbewussten Triebschicksale der Erzieher*innen geprägt sind:

Denn er als Erzieher, er ist gar kein Er, kein Ich, sondern ein denkendes, handelndes Ich, dem eine ich-fremde Gewalt: das Triebwünschen seines Verdrängten, hemmend und treibend gegenübersteht. So steht der Erzieher immer vor zwei Kindern: dem zu erziehenden vor ihm und dem verdrängten in ihm. Er kann gar nicht anders, als jenes zu behandeln wie er dieses erlebte. Denn was jenem recht, wäre diesem billig. Und er wiederholt den Untergang des eigenen Ödipuskomplexes am fremden Kind, an sich selbst. Er wiederholt es auch dann, wenn er scheinbar das Gegenteil all dessen tut, was ihm seine Eltern antaten. (Bernfeld 1925, 147)

Das pädagogische Handeln hängt nach Bernfeld also nicht lediglich von der bewussten Intention der Erzieher*innen ab. Vielmehr korrespondiert die konkrete pädagogische Situation unweigerlich mit deren innerem Kind, d. h. ihren verdrängten konflikthaften Erfahrungen. Die*der Erziehende würde dann etwa dem Kind gegenüber mit Ärger, Strenge oder Inkonsequenz reagieren, damit jedoch eigentlich sich selbst – also das Kind in sich – meinen (Bernfeld 1925, 148). Um solche Verwechslungen von realem Kind und innerem Kind zu vermeiden, bedarf es daher der Selbstreflexion pädagogischer Fachkräfte (Naumann 2022, 189). In diesem Sinne geht die Psychoanalytische Pädagogik von dem Grundsatz aus, „dass Pädagogen bezogen auf die Virulenz eigener unbewusster Lebensentwürfe aufmerksam sein müssen und daher Selbstaufklärung über eigene blinde Flecken einen zentralen Stellenwert haben muss“ (Dörr 2010, 85). Das „szenische Verstehen“, das auf den Sozialpsychologen, Psychiater und Psychoanalytiker Lorenzer (1971, 104) zurückgeht, ist für diese Form der Selbstaufklärung ein zentrales Erkenntnisinstrument (Würker 2019, 154; Dörr 2021, 139). Lorenzer hat sich aus einer historisch-materialistischen Perspektive damit befasst, wie Einsichten der Psychoanalyse auf die Untersuchungen von Gesellschaft und Kultur übertragen werden können. Dabei identifiziert er das „szenische Verstehen“ als die spezifische psychoanalytische Methode – also den Verstehensvorgang aus der klinischen Praxis –, welche er für die Analyse kultureller und sozialer Phänomene übernimmt und modifiziert. Diese besondere Form der Erkenntnisgewinnung unterscheide sich vom logischen und psychologischen Verstehen dadurch, dass sich in der Beziehung (etwa zwischen Analytiker*in und Patient*in) unbewusste Lebensentwürfe, Wünsche, Ängste und Phantasien niederschlagen und sich in der gemeinsamen Interaktion durch Übertragung, Gegenübertragung und Widerstände szenisch entfalten (Lorenzer 1971, 104–107). Wie in der klinischen Praxis zwischen Analytiker*in und Patient*in entsteht also auch in anderen sozialen Beziehungen eine bestimmte psychosoziale Dynamik,[2] die Aufschluss über unbewusste Lebensentwürfe, Wünsche, Ängste usw. geben kann. Diese Vorgehensweise wird in der Psychoanalytischen Sozialen Arbeit aufgegriffen, um verborgene, verworfene und nicht-sagbare „Ausdrucksformen der Akteure zu entziffern, womit ein tieferes Begreifen interpersonaler Beziehungsprozesse möglich wird“ (Dörr 2021, 142). Wichtig zu betonen ist dabei noch, dass es Lorenzer jedoch nicht nur um das individuelle Unbewusste bzw. die Dynamik in der individuellen konkreten Beziehung ging, sondern vor allem um den „überindividuell-kollektiven Darstellungswert“ (Lorenzer 1986, 65) der analysierten Phänomene: „Auch wenn der Konflikt sich […] zu Einzelschicksalen konkretisiert [...], ist das – unbewußte [sic!] – Ziel der Darstellung doch die kollektive Debatte“ (Lorenzer 1986, 64 f.). Somit zielt die Psychoanalytische Soziale Arbeit nicht nur auf ein Verstehen der konkreten pädagogischen Beziehung, sondern auch jener allgemeinen Dynamiken, die strukturell in der Sozialen Arbeit eingelagert sind. Damit komme ich nun zum konkreten Design der Untersuchung und den gewählten Methoden.

3. Forschungsdesign und tiefenhermeneutische Interpretation

Will man das Handeln von Menschen in seinen alltäglichen Bezügen untersuchen und interessiert sich dafür, wie sich Individuen in der Interaktion mit anderen verhalten, bietet sich die Teilnehmende Beobachtung, verstanden als Teilnahme an der Sozialwelt, als geeigneter Zugang an (Thomas 2010; Unterkofler 2016). Im Rahmen meines Dissertationsprojekts zu Subjektivierungsweisen von Jugendlichen in der Jugendhilfe habe ich in verschiedenen stationären Wohngruppen für Jugendliche zwischen 14 und 21 Jahren Teilnehmende Beobachtungen durchgeführt (Sarfert i. E.).[3] Die Feldaufenthalte fanden ein- bis zweimal wöchentlich statt und erstreckten sich insgesamt über neun Monate. Dabei nahm ich regelmäßig an pädagogischen Gruppenaktivitäten und Plena teil und hielt mich in einer geschlechtsspezifischen Wohngruppe für Mädchen zusätzlich an einem festen Tag in der Woche in der Einrichtung auf, um mit den Bewohnerinnen etwas zu kochen oder Zeit zu verbringen. Von Anfang an erstellte ich Feldnotizen und Beobachtungsprotokolle, von denen ich einen Teil in meiner Interpretationsgruppe TiefenhermeneutikKollektiv Berlin interpretiert habe. Die Methode der Tiefenhermeneutik geht ebenfalls auf Lorenzer (1986) zurück und korreliert folglich mit der Vorgehensweise der Psychoanalytischen Sozialen Arbeit. Im Unterschied etwa zum symbolischen Interaktionismus geht es bei der Tiefenhermeneutik nicht nur darum, welchen subjektiven Sinn die Akteur*innen ihren Handlungen beimessen. Vielmehr zielt diese Auswertungsmethode vor allem darauf, durch szenisches Verstehen auch unbewusste, latente Motive zu entziffern, die sich neben den bewussten Motiven und dem sprachlich artikulierten Sinn finden lassen (König, H.-D. 2019, 19). So wird bei der Interpretation von Datenmaterial, gleichsam wie bei Freuds Traumdeutung (Freud 1900, 286), von einer Doppelbödigkeit des Textes ausgegangen, die sich in der Spannung zwischen einem manifesten und einem latenten Sinn szenisch entfaltet. Beim manifesten Sinn handelt es sich um die von dem*der Autor*in bewusst intendierten Textbedeutung, die erinnert, abgerufen und bewusst sprachlich verbalisiert werden kann. Die latente Sinnebene hingegen entzieht sich weitgehend dem Bewusstsein der Akteur*innen und repräsentiert „vom gesellschaftlichen Konsens ausgeschlossene Lebensentwürfe“ (Lorenzer 1986, 27), denen die Akteur*innen unbewusst (etwa durch Fehlleistungen, neurotische Reaktionen oder Impulsdurchbrüche) Ausdruck verleihen. In der tiefenhermeneutischen Interpretation geht es also darum, diese zwei Sinnebenen von manifest und latent zu rekonstruieren und das Material in seiner Doppelbödigkeit (König, H.-D. 2019, 31) zu erfassen. Während sich der manifeste Sinn sehr schnell und einfach offenbart, zeigen sich die latenten Bedürfnisse, Wünsche oder Impulse „als rätselhaft erscheinende Inkonsistenzen und Widersprüche der sich im Text objektivierenden Lebenspraxis“ (König, H.-D. 2019, 31). Um Zugang zu diesem latenten Sinn zu bekommen, bietet sich etwa die Interpretation in der Gruppe an, in der sich bestimmte Dynamiken des Textes szenisch entfalten können. Dafür lassen die Interpret*innen das Material (in diesem Fall das Beobachtungsprotokoll) mit gleichschwebender Aufmerksamkeit und einer offenen Haltung auf das eigene Erleben wirken und sich von spontanen Affekten, Assoziationen und Einfällen lenken.[4] Im Anschluss an Freud lässt sich davon ausgehen, dass jedes dieser Elemente „mehrfach determiniert“ (Freud 1900, 286, Herv. i. O.) ist. Das heißt, unabhängig davon, wie unauffällig oder nebensächlich im Text auftretende Widersprüche oder Inkonsistenzen wirken: „[A]lle diese Elemente bilden szenische Bestandteile einer doppelbödigen Interaktionsstruktur, die aufgrund der Verbindung von Manifestem und Latentem auf mehrfache Weise bedeutsam sind“ (König, H.-D. 2019, 33). So entwickeln sich – ausgehend vom individuellen Erleben der Einzelnen und sich daraus ergebenden Affekten – in der Gruppe divergierende Verstehzugänge und spezifische Dynamiken, „die sich als zwischen den Interpret_innen Gestalt annehmende Szenen begreifen lassen“ (König, H.-D. 2019, 32) und somit Rückschlüsse auf den verborgenen Gehalt des Textes erlauben. Die manifesten und latenten Anteile werden schließlich zueinander in Beziehung gesetzt, um damit das Spannungsverhältnis beider, also die Doppelbödigkeit des Textes, zu entschlüsseln. Wenn damit die szenische Interpretation abgeschlossen ist, wird u. a. auf Konzepte „der kritischen Gesellschaftstheorie zurückgegriffen, um die Interpretationsergebnisse theoretisch zu begreifen“ (König, H.-D. 2019, 19 f.). So richtet sich die Tiefenhermeneutik nicht auf ein individualpsychologisches Bezugsfeld, sondern versucht an den überindividuellen, gesellschaftlichen Gehalt zu gelangen, womit sie an Adornos Verständnis einer kritischen Sozialforschung anschließt, „welche die lebendige Erfahrung der Sache durch eine deutende Spurensicherung dechiffriert, die über exemplarische Einzelfallrekonstruktionen im Besonderen das Gesellschaftlich-Allgemeine erfasst“ (König, H.-D. 2019, 16, i. Anschl. a. Adorno 1969).

Damit komme ich nun zur Analyse eines Beobachtungsprotokolls, das ich in einer stationären Wohngruppe für junge Frauen erhoben habe. In der folgenden Interpretation geht es darum, die psychosozialen Dynamiken in der Beziehung zwischen Jugendlichen und Sozialarbeiter*innen zu rekonstruieren. Dabei gebe ich nicht den Interpretationsprozess chronologisch wieder, sondern versuche die Interpretationsergebnisse schon direkt am Material zu plausibilisieren.

4. Die*der Sozialarbeiter*in als „kalte Mutter“

Während meiner Forschungsaufenthalte in dieser Wohngruppe für Mädchen erlebte ich die Beziehung zwischen den Bewohnerinnen und den Sozialarbeiter*innen oftmals als konfliktreich und distanziert. Die jungen Frauen waren tagsüber nur wenig da und wenn, dann zogen sie sich meist allein oder gemeinsam in ihre Zimmer zurück. Zwischen den Jugendlichen und den Betreuer*innen kam es immer wieder zu Diskussionen aufgrund von WG-Regeln, Putzdiensten und Ausgangszeiten. Während ich die jungen Frauen dabei häufig als enorm genervt und aufgebracht erlebte, nahm ich die Betreuer*innen hingegen eher ruhig, fast schon stoisch und tendenziell affektarm wahr. Immer wieder hatte ich den Eindruck, als gäbe es zwei Fronten, die sich antagonistisch gegenüberstehen: Bewohnerinnen vs. Betreuer*innen.

Das zeigt sich auch in der folgenden Szene eines Beobachtungsprotokolls. Das Protokoll beginnt mit meiner Ankunft in der Wohngruppe, wo ich eigentlich mit der Jugendlichen Jasmin zum Kochen verabredet bin. Nach meiner Ankunft erfahre ich jedoch, dass die Betreuer*innen im Anschluss an die gerade tagende Teamsitzung mit der Einrichtungsleitung kurzfristig ein verpflichtendes WG-Plenum einberufen haben, um mit den Jugendlichen über deren Anwesenheit in der Wohngruppe zu sprechen, das heißt, zu problematisieren, dass die minderjährigen Bewohner*innen sich sowohl tagsüber als auch nachts zu wenig in der WG aufhalten würden. Des Weiteren wird mir von den Betreuer*innen mitgeteilt, dass Jasmin sich mit der Milbenkrankheit „Krätze“ (Skabies) infiziert hat, weshalb ich auf verschiedene Maßnahmen zur Vorbeugung einer Ansteckung hingewiesen werde.

Die folgende Sequenz beginnt bei der Eröffnung des Plenums durch die zwei Sozialarbeiter*innen Rina und Yvonne:

Die beiden Sozialarbeiterinnen setzen sich nebeneinander den Mädchen gegenüber. Rina fragt als erstes, ob die Mädchen Themen haben, die sie gerne besprechen wollen. Alle schütteln den Kopf und sagen nichts. Rina wiederholt die Frage mit dem Hinweis, dass dies ja ihr Raum sei, den sie nutzen könnten, um auch ihre Probleme oder Wünsche zu besprechen. Aber auch beim zweiten Anlauf, kommt von den jungen Frauen nichts. Rina ergreift erneut das Wort und sagt, dass sie selbst etwas hätten, was sie besprechen wollen. Es geht um das Thema Anwesenheit und darum, dass die Mädchen tagsüber und nachts häufiger in der WG sein sollen. Rina: „Und darum möchten wir von euch wissen, was braucht ihr, um öfter in der WG zu sein?“
Tess zählt als Erstes auf, was alles scheiße hier ist. Sie sagt, die Wohnung sei unterirdisch und kalt und hässlich, außerdem sei hier ein regelrechtes Netzwerkloch – nirgends haben sie vernünftig Empfang, was für Jugendliche aber enorm wichtig sei. Überhaupt gäbe es kein WLAN. Dann sei die Wohnung hässlich und ungemütlich eingerichtet, es gäbe kein gemütliches Sofa, auf dem man zu zweit gemütlich Fernsehen kann, die Wände müssten neu gestrichen werden usw. Rina protokolliert das alles mit und kommentiert ab und zu, was realisiert werden kann und was nicht. Sie sagt, dass die Betreuerinnen eigentlich auch gerne umziehen wollen würden, dass es leider nur sehr schwierig sei, eine Wohnung zu finden. Die meisten Vermieter wären skeptisch, wenn sie Jugendhilfe hören würden. Celine stimmt Tess zwar bei den ganzen Punkten zu, sagt aber dass sie am Liebsten den ganzen Tag draußen sei. „Ey wir sind Jugendliche. Wir müssen raus, Fußball spielen, ich brauch Bewegung, was soll ich hier nur rumsitzen?“ (Protokoll 9, Z. 71–92)

In dieser Sequenz wird die Frage verhandelt, wie viel sich die Bewohnerinnen in der Wohngruppe aufhalten sollen, wobei sich angesichts der differierenden Vorstellungen ein Konflikt entspinnt. In gewisser Weise geht es dabei um das Verhältnis von Nähe und Distanz, in dem sich zwischen Betreuer*innen und Adressat*innen sehr unterschiedliche – geradezu gegenläufige – Bewegungen zeigen. Betrachten wir zunächst das Verhalten der Jugendlichen: Die Bewohnerinnen halten sich nur wenig in der Einrichtung auf und entziehen sich damit auf manifester Ebene der Wohngruppe. Sie gehen manifest auf Distanz. Als Begründung für ihr Fernbleiben führt Tess aus, was ihr alles in der Wohnung nicht gefällt, und argumentiert, dass sie sich hier aufgrund der mangelhaften Ausstattung und der hässlichen und ungemütlichen Einrichtung nicht wohl fühle. Ich erlebe Tess dabei als sehr präsent. Sie redet engagiert und leidenschaftlich und bringt sich mit ihrer Position aktiv ein. Zugleich bin ich irritiert von ihrer Kritik, da es meinem Empfinden nach in der Wohnung recht warm und die WG eigentlich ganz hübsch und gemütlich eingerichtet ist. Meine Irritation verstärkt sich nachträglich, als einige Interpret*innen an dieser Stelle über den Zustand der Wohnung phantasieren und die Vermutung anstellen, dass die jungen Frauen in leeren, kalten Zimmern mit kahlen Wänden säßen und sich niemand darum kümmere, dass sie es schön haben. Ausgehend von diesen Phantasien und meinen Irritationen zeigt sich in der Kritik von Tess möglicherweise noch sehr viel mehr als eine bloße Missbilligung des Mobiliars und das Problem einer schlechten Internetverbindung. So lässt sich die Beschreibung als „kalt“ sowohl in Bezug auf die Temperatur in den Räumen lesen, als auch metaphorisch als eine Beschreibung von emotionaler Kälte deuten. Diese Doppeldeutigkeit könnte daher ein Hinweis darauf sein, dass es ihr möglicherweise an zwischenmenschlicher Wärme oder Bindung mangelt, die sie bräuchte, um sich in der WG wohl zu fühlen. Auch die Begriffe „unterirdisch“ und „Netzwerkloch“ verweisen auf das Gefühl des Abgeschnittenseins und das Fehlen von Kommunikations- und Verbindungsmöglichkeiten. Demnach würde Tess gerne kommunizieren und mit ihrer Umwelt in Beziehung treten, was ihr jedoch in dieser Einrichtung offenbar nicht möglich ist. Zuletzt weist auch das Fehlen eines Sofas, auf dem man es sich zu zweit gemütlich machen kann, auf ein Bedürfnis nach Nähe, Beziehung und Geborgenheit hin.[5] Dieser doppelte Charakter ihrer Kritik verweist darauf, dass sich die Jugendliche zwar manifest entzieht und auf Distanz zur Wohngruppe und den Betreuer*innen geht, diese Distanz jedoch auch mit einem unbefriedigten Bedürfnis nach Nähe, Geborgenheit und Austausch zusammenhängen könnte, wofür die Einrichtung offenbar keine Bedingungen schafft.

Auch Celines Begründung für ihr Fernbleiben – „Ey, wir sind Jugendliche“ – ist überdeterminiert. Zunächst lässt sich darin eine Form der Normalisierung erkennen, dahingehend, dass es doch nichts Ungewöhnliches sei, wenn Jugendliche den Wunsch verspüren, viel unterwegs zu sein, und das somit nicht als Problem verhandelt werden müsse. Darüber hinaus kommt bei diesem Satz von Celine in der Interpretationsgruppe aber auch die Frage auf, inwiefern diese jungen Menschen in der öffentlichen Erziehung denn tatsächlich noch Jugendliche oder Kind sein dürfen oder ob sie nicht schon viel zu früh erwachsen sein müssen. Ein Interpret gibt dazu den Hinweis, dass er selbst mit 15 Jahren nicht mit seinen Eltern über Mietverhältnisse diskutieren musste. Wieder stellt sich ein Bedauern darüber ein, wie wenig die Jugendlichen in der Einrichtung umsorgt werden, und es drängt sich die Frage auf, inwiefern es der Einrichtung gelingt, den jungen Frauen ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln.

Wenden wir unsere Aufmerksamkeit damit nun den Betreuer*innen zu.

Während sich die Jugendlichen nur wenig in der Einrichtung aufhalten und sich somit auf der manifesten Ebene der Wohngruppe und dem Kontakt mit den Sozialarbeiter*innen entziehen, zeigen die Betreuer*innen zunächst sehr explizit ein Interesse daran, dass sich diese Situation ändert, und richten ausdrücklich den Wunsch an die Jugendlichen, häufiger anwesend zu sein und damit Nähe und Kontakt erst zu ermöglichen. Doch obwohl sie zu Beginn des Plenums die Bedürfnisse der Jugendlichen ins Zentrum stellen und ihnen sogar mit den Worten, dass dies ihr Raum sei, den sie nutzen könnten, Offenheit und Aufmerksamkeit signalisieren, erweist sich die Frage „Und darum möchten wir von euch wissen, was braucht ihr, um öfter in der WG zu sein?“ als äußerst fordernd und appellierend und drückt kein wirkliches Interesse daran aus, wie es den Bewohner*innen in der Wohngruppe geht. Vielmehr wird das eigene pädagogische Anliegen (die Bewohnerinnen sollen häufiger in der Wohngruppe sein) in den Mittelpunkt gestellt, womit die Frage, was diese denn brauchen, zur Nebensache wird. Dass damit jedoch keine Nähe hergestellt wird, sondern die Jugendlichen vielmehr auf Abstand gehalten werden, zeigt sich noch deutlicher in der Art und Weise, wie die Sozialarbeiterin auf die Kritik und die impliziten Wünsche von Tess reagiert. Anstatt den Klagen und Bedürfnissen von Tess mit Empathie und Verständnis zu begegnen, antwortet Rina darauf mit einem ganz rationalen, instrumentellen Umgang: Sie protokolliert die Bedürfnisäußerungen der Jugendlichen mit und geht lediglich darauf ein, was von der Einrichtung leistbar ist und was nicht. Diese nüchterne, zweck-rationale Umgangsweise mit den Bedürfnissen der Jugendlichen evoziert das Bild einer „kalten Mutter“,[6] die den Kindern zwar die äußerlich notwendige Versorgung zukommen lässt, ihnen jedoch auf der emotionalen Ebene keine Zuwendung schenkt (Winnicott 1983). Indem Rina ihr Argument dann damit schließt, dass Vermieter*innen nicht gerne an Jugendhilfe-Einrichtungen vermieten würden, benennt die Sozialarbeiterin zwar die Problematik des Berliner Wohnungsmarkts und die gesellschaftliche Stigmatisierung der Jugendhilfe. Indem sie diesen Punkt jedoch als Argument in der Diskussion mit den Jugendlichen benutzt, signalisiert sie damit zugleich, dass die Jugendlichen (auch anderswo) nicht gewollt sind. Erneut wird damit den jungen Frauen implizit mit Rationalität und Härte begegnet.[7]

5. Distanz und Abwehr als psychosoziale Dynamik in der pädagogischen Beziehung

Während also die Sozialarbeiter*innen die Mädchen explizit dazu auffordern, sich mehr in der Wohngruppe aufzuhalten, und damit Interesse an Nähe und Kontakt signalisieren, bleiben sie durch einen rationalen Umgang mit den Wünschen und Bedürfnissen der Jugendlichen zugleich emotional auf Distanz und begegnen ihnen mit Abwehr. Diese Abwehr reinszeniert sich auch in der Interpretationsgruppe auf eindrückliche Weise: Wenngleich sich einige Interpret*innen mit den Jugendlichen identifizieren konnten und sich über das Beobachtungsprotokoll amüsiert oder über die Sozialarbeiter*innen geärgert haben, fühlten die anderen Interpret*innen vor allem einen starken Widerwillen und große Unlust, sich überhaupt mit dem Material zu beschäftigen. Obwohl es in dem Protokoll nur am Rande um die Krätze-Erkrankung einer Jugendlichen geht, benennen sie Ekel als dominanten oder sogar einzigen Affekt. Sie assoziieren Dreck, Schmutz und „Schmuddelzeug“, fühlen sich abgestoßen und wollen mit allem „am liebsten nichts zu tun haben“. Dabei kommen auch sexuelle Assoziationen auf.[8] Der Begriff „Schmuddelzeug“ etwa fällt in der Interpretationssitzung mehrfach. Es entstehen Phantasien von sexueller Verwahrlosung – schließlich ist Krätze auch eine sexuell übertragbare Krankheit.[9] Im Laufe der Interpretationssitzung wird auch der Begriff Mädchen, der in der Einrichtung wie auch im Protokoll für die Bewohner*innen verwendet wird, kritisch diskutiert. Der Begriff löse – als Bezeichnung für junge Frauen in diesem Alter – Scham aus, da er einerseits etwas kindliches suggeriert, das den jungen Frauen in der Jugendhilfe überhaupt nicht entsprechen würde; andererseits sei er auch „seltsam sexualisiert“. Die Interpret*innen empfinden ihn folglich als völlig unpassend, weshalb die Verwendung im weiteren Verlauf der Interpretationssitzung vermieden wird.

Diese Reaktionen auf das Protokoll können als Reinszenierung verborgener Affekte in der Einrichtung verstanden werden und bieten Hinweise dafür, warum die Sozialarbeiter*innen den Jugendlichen mit Distanz und Abwehr begegnen, wo sie diesen doch manifest durchaus helfen, eine Beziehung aufbauen und einen sicheren Betreuungsplatz bieten wollen. Vor allem der Affekt des Ekels, der in der Interpretationsgruppe dominant war, bietet einen Anhaltspunkt für verborgene Impulse. So dient der Ekel dazu, etwas auf Abstand zu halten oder sich vor Ansteckung zu schützen. Die sexuellen Konnotationen und das Unbehagen, das der Begriff Mädchen in der Interpretationsgruppe auslöste, weisen dabei auf eine vergeschlechtlichte Dimension hin. In diesem Sinne meiden die Betreuer*innen möglicherweise auch deshalb eine Nähe zu den Mädchen oder begegnen ihnen mit einer unbewussten Abwehrhaltung, weil sie sich vor einer Identifizierung mit oder einer Infizierung an einer klassenspezifischen Weiblichkeit schützen müssen. Die jungen Frauen sollen besser auf Abstand gehalten werden, damit die Sozialarbeiter*innen sich nicht infizieren, das heißt, nicht Gefahr laufen, auch in die „Schmuddelecke“‘ gesteckt zu werden. Eine solche Deutung findet sich bezogen auf die Klassenposition in der berühmten historisch-materialistischen Studie „Fürsorgeerziehung im Kapitalismus“ aus den 1970er-Jahren, wonach die Berufswahl vieler Heimerzieher*innen eng mit dem Wunsch nach sozialem Aufstieg (oder der Angst vor Abstieg) verknüpft gewesen sei und die Identifikation mit den Mittelschichtsnormen die konkreten Erziehungshaltungen prägten:

Der tägliche Umgang mit den deklassierten Kindern und Jugendlichen aus der Arbeiterklasse und den deklassierten Gruppen beinhaltet für die Erzieher unbewußt eine permanente Bedrohung. Die Lebensläufe und Verhaltensweisen der Zöglinge spielen komprimiert die schlimmsten Folgen der gesellschaftlichen Situation wider, der die Erzieher durch den angestrebten sozialen Aufstieg gerade entgehen wollten. Unbewußte Abwehr, diffuse Ängste und Aggressionen sind die Begleiterscheinungen dieses unglücklichen Zustandes. Durch die von der Umwelt oft vorgenommene Identifikation des Erziehers mit den Zöglingen (Fremdbild des Heimerziehers), die zu dem Versuch der Erzieher führt, sich deutlich von den Zöglingen abzusetzen, wird dieser Sachverhalt zusätzlich verstärkt. Die unbewusste Abwehr gerät nun [...] in Konflikt mit der ebenfalls vorhandenen humanitären Motivation des Erziehers, wie sie in seinem bewußten Selbstverständnis zum Ausdruck kommt. (Ahlheim et al. 1978, 163)

Diese Deutung lässt sich auch als Erklärung für eine distanzierte oder abwehrende Haltung der Sozialarbeiter*innen in meinem Material heranziehen. Die jungen Frauen verkörpern eine Figuration von Klasse und Geschlecht und sind mit klassen- und geschlechtsspezifischen Abwertungen konfrontiert.[10] Wenn nun aber Sozialarbeitende von außen oftmals mit den Adressat*innen identifiziert werden, wie es hier bei Ahlheim et al. heißt, so wäre der Wunsch nach einer expliziten Abgrenzung von den jungen Frauen durchaus nachvollziehbar. Dass auch in der Wahrnehmung meines Materials eine Gleichsetzung von Sozialarbeiter*innen und Jugendlichen stattfindet, zeigt sich in der Interpretationsgruppe daran, dass sich keine*r der Interpret*innen mit den Betreuer*innen identifizierte, sondern eher das gesamte Material abgelehnt und als „Schmuddelzeug“ gelabelt wurde. Zudem kam es mehrmals zu Verwirrungen darüber, wer in dem Beobachtungsprotokoll nun die Jugendlichen und wer die Betreuer*innen sind. Aus einer solchen, von außen vorgenommenen Gleichsetzung der Sozialarbeiter*innen mit den Adressat*innen kann folglich das Bedürfnis der Pädagog*innen resultieren, sich von den Adressat*innen abzusetzen, was Kälte und Härte im individuellen Umgang evoziert und unbewusste Abwehr-, Distanzierungs- oder Distinktionsimpulse erklärt.

6. Soziale Kälte als strukturelles Moment der bürgerlichen Gesellschaft

Wie bereits im zweiten Kapitel dargestellt wurde und sich auch in dieser Argumentation von Ahlheim et al. (1978) zeigt, richtet sich die Analyse pädagogischer Szenen nicht nur – oder nicht in erster Linie – auf das individuelle Handeln einzelner Sozialarbeiter*innen; vielmehr geht es darum, strukturelle Dynamiken zu entziffern, die konstitutiv in der Institution oder den gesellschaftlichen Verhältnissen eingelagert sind. Neben der Deutung, dass sich die Umgangsweisen der Betreuer*innen mit den Jugendlichen auf deren spezifische Klassenposition zurückführen lassen, lässt sich auch im Anschluss an die Kritische Theorie Adornos diese psychosoziale Dynamik strukturell, das heißt vor dem Hintergrund gegenwärtiger konkreter Gesellschaftsbedingungen, fassen. Folgt man seiner gesellschaftstheoretischen Perspektive ist in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, in der alles einer Logik von Tausch, Konkurrenz und instrumenteller Vernunft unterworfen ist, Kälte ein zentraler Bestandteil der Charakterstruktur der Menschen. So führt Adorno in „Erziehung nach Auschwitz“ aus, dass die soziale Kälte in der bürgerlichen Subjektivität notwendigerweise enthalten ist:

Wäre sie [die Kälte] nicht ein Grundzug der Anthropologie, also der Beschaffenheit des Menschen, wie sie in unserer Gesellschaft tatsächlich sind; wären sie also nicht zutiefst gleichgültig gegen das, was mit allen anderen geschieht außer den paar, mit denen sie eng und womöglich durch handgreifliche Interessen verbunden sind, so wäre Auschwitz nicht möglich gewesen, die Menschen hätten es dann nicht hingenommen. Die Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Gestalt [...] beruht [...] auf der Verfolgung des je eigenen Interesses gegen die Interessen aller anderen. Das hat im Charakter der Menschen bis in ihr Innerstes hinein sich niedergeschlagen. [...] Jeder Mensch heute, ohne jede Ausnahme fühlt sich zuwenig geliebt, weil jeder zuwenig lieben kann. Unfähigkeit zur Identifikation war fraglos die wichtigste psychologische Bedingung dafür, daß so etwas wie Auschwitz sich inmitten von einigermaßen gesitteten und harmlosen Menschen hat abspielen können. (Adorno 1966, 101)

Aus diesem Grund sei es nach Adorno auch nicht möglich, Wärme, Liebe oder Empathie zu predigen, weil der Mangel an Liebe „ein Mangel aller Menschen ist, ohne Ausnahme, so wie sie heute existieren“ (Adorno 1966, 102). Ebenso wenig könne man Menschen zu Wärme animieren, denn die Aufforderung mehr Wärme zu geben, drehe die Wärme künstlich an und negierte sie dadurch (Adorno 1966, 102).

Der Zuspruch zur Liebe – womöglich in der imperativischen Form, daß man es soll – ist selber Bestandstück der Ideologie, welche die Kälte verewigt. Ihm eignet das Zwanghafte, Unterdrückende, das der Liebesfähigkeit entgegenwirkt. Das erste wäre darum, der Kälte zum Bewußtsein ihrer selbst zu verhelfen, der Gründe warum sie wurde. (Adorno 1966,102 f.)

Wärme bzw. Bindung lässt sich somit nicht fordern – erst recht nicht in beruflich vermittelten Verhältnissen, wie zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen, Ärzt*innen und Patient*innen oder Sozialarbeiter*innen und Adressat*innen. Denn sie „ist ein Unmittelbares und widerspricht wesentlich vermittelten Beziehungen“ (Adorno 1966, 102). Vielmehr bedarf es einer Kenntnis dieser komplexen Zusammenhänge und subjektiver Mechanismen – wie auch der „stereotypen Abwehr, die ein solches Bewußtsein blockiert“ (Adorno 1966, 103). Ziel muss es somit sein, sich als Sozialarbeiter*in die eigene Kälte und Rationalität sowie die eigenen Abwehrmechanismen bewusst zu machen und diese zu bearbeiten. Bezogen auf das empirische Material hieße das beispielsweise, wahrzunehmen, dass die Betreuer*innen eben nicht nur aufrichtiges Interesse an den Jugendlichen haben und um das Herstellen einer Beziehung bemüht sind, sondern es auch verborgene Anteile gibt, die diesem Ziel zuwiderlaufen und verhindern, dass die Jugendlichen das bekommen, was sie möglicherweise bräuchten, um in der Einrichtung wirklich ankommen zu können.

7. Fazit

Ausgangspunkt der Überlegungen in diesem Artikel bildete die hohe Zahl von Abbrüchen in der stationären Jugendhilfe sowie die verbreitete Tendenz die Ursachen dafür vor allem bei den jugendlichen Adressat*innen zu sehen. Sowohl in der pädagogischen Praxis als auch innerhalb wissenschaftlicher Studien wird meist darauf fokussiert, dass sich die Jugendlichen nicht auf die Hilfen einlassen könnten, wogegen die Rolle der Pädagog*innen oder deren Vermögen, sich einzulassen, oftmals unhinterfragt bleibt. Der Artikel ging daher der Frage nach, wie pädagogische Fachkräfte daran beteiligt sind, wenn Hilfen nicht gelingen. Anhand der tiefenhermeneutischen Interpretation eines Beobachtungsprotokolls konnte exemplarisch gezeigt werden, wie die pädagogische Interaktion zwischen Jugendlichen und Betreuer*innen auf beiden Seiten durch eine Doppelbödigkeit gekennzeichnet ist: Die Jugendlichen gehen manifest auf Distanz und verhalten sich gegenüber den Betreuer*innen abgrenzend und abweisend, worin sich auf der latenten Ebene zugleich verborgene Bedürfnisse nach Nähe und Geborgenheit artikulieren. Bei den Sozialarbeiter*innen hingegen zeigt sich dieses Spannungsverhältnis genau umgekehrt. Diese gehen manifest auf die Vorstellungen und Wünsche der Jugendlichen ein, versuchen die Heranwachsenden einzubeziehen und in der Einrichtung zu halten. Auf der latenten Ebene konnten in diesen Beziehungsangeboten jedoch eine verborgene Rationalität, emotionale Distanz und soziale Kälte festgestellt werden, die verhindern, dass die Jugendlichen in ihren Bedürfnissen tatsächlich gesehen werden. Seitens der Fachkräfte zeigte sich also eine verborgene Abwehr, die jedoch durch deren manifeste Annährungsversuche und die vermeintliche Nähe verstellt wird. Durch eine solche Verstellung kann jedoch Distanz noch vertieft, eine Verständigung weiter erschwert werden. Denn wenn auch die Jugendlichen die soziale Kälte, Härte und Abwehr auf der latenten Ebene wahrnehmen, worauf sie sich möglicherweise unverstanden und allein gelassen fühlen, so können sie das nicht oder nur schwer kritisieren, da die Sozialarbeiter*innen auf der manifesten Ebene Nähe und Kontakt initiieren. Die Wünsche nach Nähe und Wärme der Jugendlichen bleiben somit ungehört, womit prekäre Beziehungserfahrungen und Abbrüche schlimmstenfalls reproduziert werden.

In diesem Sinne wurde deutlich, dass nicht nur die Jugendlichen Schwierigkeiten haben, sich einzulassen, und somit ein Scheitern der Hilfen bewirken. Vielmehr sind es auch die Fachkräfte, die auf einer unbewussten Ebene emotionale Kälte produzieren und die Jugendlichen auf Distanz halten. Grund dafür können innere, psychosoziale Mechanismen der Betreuer*innen sein – wie z. B. klassen- oder geschlechtsspezifische Abwehr- und Distinktionsmechanismen, die das professionelle Handeln und die pädagogischen Szenen unbewusst prägen, oder auch eigene Sozialisationserfahrungen von Kälte, die in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft alle Individuen unweigerlich durchlaufen.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass es sich bei Abbrüchen in der Jugendhilfe um einen multikausalen Prozess handelt, wonach immer mehrere Faktoren und Akteur*innen beteiligt sind, wenn Hilfen nicht gelingen. Aus diesem Grund darf die Ursache für Abbrüche oder Beziehungskomplikationen nicht weiterhin ausschließlich bei den Jugendlichen gesucht und deren vermeintliches Sich-nicht-einlassen fokussiert werden. Stattdessen gilt es den Blick umzuwenden und sich im Sinne einer psychoanalytischen Sozialen Arbeit (individuell als Fachkraft und vor allem auch strukturell als Profession) zu fragen: Welche subjektiven Mechanismen sind eigentlich bei uns Sozialarbeiter*innen am Werk? Was könnten beispielsweise Ängste sein, die ein Einlassen auf die Jugendlichen verhindern? Wo gibt es möglicherweise etwas Eigenes, das auf die Adressat*innen projiziert wird? Kurz: Es bedarf einer reflektierten und ggf. auch psychoanalytischen Auseinandersetzung mit den eigenen, verborgenen Dynamiken – verstanden „als Form der Entfaltung selbstreflexiver Kompetenz“ (Müller 1989, 124), damit sich eine sozialarbeiterische Professionalität als distanziertes Verhältnis nicht weiter fortschreibt. Denn – um nochmals mit Adorno zu schließen: „Wenn Angst nicht verdrängt wird, wenn man sich gestattet, real so viel Angst zu haben, wie diese Realität Angst verdient, dann wird gerade dadurch wahrscheinlich doch manches von dem zerstörerischen Effekt der unbewußten und verschobenen Angst verschwinden“ (Adorno 1966, 97).

Literatur

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[1] Das legt auch der gleichnamige Film der Regisseurin Nora Fingscheidt nahe, durch den dieser Begriff erst wieder Konjunktur erfahren hat. Auch hier werden die aggressiven Ausbrüche der elfjährigen Benni, durch die sie immer wieder aus den Einrichtungen entlassen wird, durch Gewalterfahrungen in der Kindheit erklärt (Fingscheidt 2019).
[2] Dazu zählt beispielsweise auch das Text-Leser*innen-Verhältnis bei der von Lorenzer entwickelten tiefenhermeneutischen Kulturanalyse, worauf ich im nächsten Kapitel näher eingehe.
[3] In dem Forschungsprojekt wurden zudem auch narrative Interviews mit den Jugendlichen erhoben, die jedoch in diesem Artikel nicht zum Tragen kommen, weshalb ich darauf auch nicht näher eingehe.
[4] Da die Tiefenhermeneutik vor allem als Kulturanalyse entwickelt wurde, handelt es sich bei der tiefenhermeneutischen Interpretation von Beobachtungsprotokollen um eine besondere Textform, die sich von anderen Kulturprodukten unterscheidet. Wenngleich eine umfassendere Reflexion dessen den Rahmen dieses Artikels sprengen würde, sei an dieser Stelle doch darauf hingewiesen, dass sich etwa Julia König mit der Frage beschäftigt hat, inwiefern sich in der tiefenhermeneutischen Analyse von Beobachtungsprotokollen Rückschlüsse auf die beteiligten Personen ziehen lassen (König, J. 2019).
[5] Da in den Gruppenräumen der Einrichtung bereits ein großes Dreisitzer-Sofa steht, lässt sich dieser Wunsch ebenfalls als ein Hinweis darauf lesen, dass es Tess um mehr geht als um ein Möbelstück.
[6] In Abgrenzung zu dem Konzept der „hinreichend guten Mutter“ von Donald W. Winnicott (1983, 312).
[7] Das spitzt sich im weiteren Verlauf des Plenums bzw. der Diskussion noch weiter zu. So wird von der Sozialarbeiterin Rina irgendwann auch der Betreuungsplatz infrage gestellt und die Potentialität einer Entlassung ins Spiel gebracht, wenn sie argumentiert, dass das Jugendamt für die Zimmer bezahlen würde und dafür, dass die Jugendlichen dort wohnen. Im Protokoll sagt sie schließlich: „Versteht ihr? Das Jugendamt bezahlt für Menschen die bedürftig sind. Und Bedürftige gibt es gerade genug. Es gibt mehr Menschen die Hilfe brauchen, als Hilfe zu Verfügung steht. Wenn ihr also einen Platz zum Wohnen bei euren Freunden und Freudinnen habt, dann sagt das Jugendamt: ‚Nein! Wir geben den Platz lieber Menschen, die wirklich darauf angewiesen sind‘“ (Protokoll 9, Z. 105–109). Mit dieser Drohkulisse wird den Mädchen erneut suggeriert, dass sie sich nicht zu sicher fühlen dürfen.
[8] Als beispielsweise Tess den Zustand der Wohnung kritisiert, werden die Begriffen „unterirdisch“, „kalt“, „hässlich“ und „(Netzwerk-)Loch“ mit weiblichen Genitalien assoziiert, wobei die Interpret*in noch hinterherschiebt, dass sie es auch ein bisschen eklig fände, das auszusprechen, und es ihr unangenehm sei. Auch in anderen Szenen im Protokoll werden Verbindungen zu Geschlecht und Sexualität evoziert. So etwa in der Sequenz zu Beginn des Protokolls, als ich nach dem Gespräch mit der Betreuerin an Jasmins Zimmertür klopfe: „‚Jahaaa‘ höre ich. Ich betrete den kleinen dunklen Raum, der voll von Rauchschwaden hängt. Auf dem Bett liegen Jasmin und ihr Freund Chris mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Sie rauchen. Tess sitzt auch auf dem Bett, hat die Füße aber noch auf dem Boden. Jasmin sehe ich zum ersten Mal ungeschminkt. Wobei ganz ungeschminkt ist sie nicht, es hängen noch die Reste vom Kajal verschmiert unter ihren Augen. Sie hat eine graue Jogginghose und ein schwarzes Oberteil, darüber eine graue Joggingjacke an. Sie begrüßt mich mit den Worten: ‚Ich hab jetzt doch Krätze.‘ Ich nicke und sage, dass ich es grade schon gehört habe“ (Protokoll 9, Z. 15–21). Die Krätzemilben, die auch durch sexuellen Kontakt übertragen werden können, das Bett, der verschmierte Kajal – alles erscheint den Interpret*innen irgendwie sexuell aufgeladen.
[9] Zudem gibt es in der Interpretationsgruppe auch Irritationen angesichts der Hygienemaßnahmen, die mir sowie den Bewohner*innen nahegelegt werden. So werde ich gleich am Anfang von einer Betreuerin darauf hingewiesen, dass ich meine Sachen nicht auf Jasmins Bett legen und nicht das gleiche Handtuch wie sie benutzen soll. Auch die Mädchen werden am Ende des Plenums angehalten, bestimmte Handlungen zu vermeiden, sie sollen etwa „nicht mit Jasmins Kuscheldecke kuscheln oder auf ihrem Bett eingemummelt liegen“ (Protokoll 9, Z. 156 f.). Die Interpret*innen sind irritiert von diesen Hinweisen, fragen sich etwa, warum ich denn das gleiche Handtuch benutzen solle: „Wer macht das denn – das gleiche Handtuch benutzen?“ Diese Handlungen, also das gemeinsame Benutzen eines Handtuchs, das Kuscheln und eingemummelt auf dem Bett liegen, verweisen auf intime Beziehungen und körperliche Nahverhältnisse und haben damit ebenfalls eine sexuelle Konnotation.
[10] Diese zeigen sich bereits historisch daran, dass junge Frauen in Fürsorgeheimen unter dem Tatverdacht der sexuellen Verwahrlosung standen. Schon die Einweisung in Heime erfolgte unter dem Jugendwohlfahrtsgesetz üblicherweise unter dem Tatbestand der Verwahrlosung (§ 64 JWG), welcher bei Mädchen vor allem in Bezug auf Sittlichkeit gedacht war (Gehlthomholt/Hering 2006, 24, 123). Bedenkt man, dass im zwanzigsten Jahrhundert das primäre Ziel der Fürsorgeerziehung von Mädchen, deren Versittlichung und Verhäuslichung darstellte (Gehlthomholt/Hering 2006, 24, 123), so zeigt sich in dem pädagogischen Programm des vorliegenden Beobachtungsprotokolls eine eindrückliche Kontinuität: Die jungen Frauen sollen weniger um die Häuser ziehen, sondern mehr Zeit in der Wohngruppe verbringen, in der Aktivitäten wie Kochen, Basteln oder Filme schauen angeboten werden. Dass sich die klassenspezifische Stigmatisierung bis heute hält, darauf weist u. a. auch die Initiative „Wir sind doch keine Heimkinder“ der Graf Recke Stiftung hin (www.wir-sind-doch-keine-Heimkinder.de [22.03.2022]).