REZENSION ZU: PREITE, LUCA (2022): WIDERSTAND ALS SELBSTBEHAUPTUNG. „GEFÄHRDETE“ JUGENDLICHE IM ÜBERGANGS- UND BERUFSBILDUNGSSYSTEM
Bielefeld: transcript, 166 Seiten, ISBN: 978-3-8376-6344-0, Print: 34,00 €, Open Access
Andreas Fischer
Jugendliche kommen in Studien über Jugendliche immer seltener zu Wort, gerade im Feld der zunehmend quantitativen Bildungs- und Übergangsforschung. Mit seiner Studie zu sogenannten „gefährdeten“ Jugendlichen im schweizerischen Übergangs- und Berufsbildungssystem versucht Luca Preite, dieser Tendenz eine subjektorientierte Forschung gegenüberzustellen, die weniger über Repräsentativität als vielmehr über ein „Eintauchen in die Geschichten“ (S. 32) Jugendlicher neue Erkenntnisse generiert. Konkret fragt Preite, wie sogenannte „gefährdete“ Jugendliche ihre Werdegänge und Lebenswelten im Rahmen verzögerter Berufs- und Bildungslaufbahnen erfahren, gestalten und behaupten – sowohl trotz, wegen der, aber auch wider die Voraussage ihrer eigenen Gefährdung (S. 25).
Das Buch ist eine Zusammenfassung und Rahmung eines kumulativen Dissertationsprojekts und baut auf vier publizierten Artikeln sowie einer Mantelschrift auf. Entsprechend gestaltet sich auch die grobe Gliederung in einer umfangreichen Einleitung, vier empirisch fundierten Kapiteln und einer Reprise.
In der Einleitung ordnet Preite den Topos der „gefährdeten“ Jugendlichen ein – Jugendliche, die nicht direkt von der Schule in die berufliche Grundausbildung übergehen, sondern die Erfahrung eines „verzögerten Übertritts“ machen und daher in Übergangsausbildungen verweilen (S. 9). Dabei werden nicht nur parallel die äquivalenten BRD-Strukturen und ‑Debatten aufgezeigt; es wird auch schnell klar, dass die Intention des Autors eine explizit kritische ist, den gesellschaftlichen Diskurs und dessen Normativität hinterfragend. Auch in einer knappen Übersicht zum Forschungsstand verdeutlicht sich dieser kritische Blick, indem nicht nur die oben bereits angedeutete Dominanz quantitativer Forschung herausgestellt wird, sondern auch deren zunehmende Tendenz, psychologisierend-deterministische Lesarten und Zuschreibungen zu befördern (Kap. 1.1). Demgegenüber stellt Preite einen übersichtlichen Pool an subjektorientierter, qualitativer Forschung vor, die sich den Gestaltungs- und Bewältigungserfahrungen erschwerter Bildungsübergänge von Jugendlichen widmet.
Mit seinem ebenfalls einleitend präsentierten theoretischen Rahmen der Studie knüpft Preite auf struktureller und diskursiver Ebene an das in der subjektorientierten Forschung sehr präsente Konzept des „Übergangsregimes“ von Walther (2006) an, nutzt zur akteur*innenzentrierten Konzeptualisierung jugendlicher Berufs- und Bildungslaufbahnen aber auch bourdieusche Theorienfragmente und greift zudem auf Überlegungen der Cultural Studies zurück, um jugendliche und jugendkulturelle Lebenswelten zu fassen (Kap. 1.2).
Mit dem Ziel, „soziale Wirklichkeit aus der Sicht der Betroffenen selbst zu rekonstruieren und rekonstituieren“ (S. 26), schildert Preite zudem seine methodologische Herangehensweise der „Fallstudien als individuensoziologischer Ansatz“ (Kap. 1.3). Im Zentrum seiner Analysen stehen dabei primär Interviews mit und Perspektiven von Jugendlichen im Übergangssystem (n = 36); zudem fließen aber auch Interviews mit professionellen Erwachsenen (n = 17) aus dem beruflichen Bildungssystem sowie eine enorme Fülle an ethnographischem Material in die Studie mit ein – je nach konkreter Fragestellung der Artikel, je nach Untersuchungssubjekt. Entsprechend vielfältig gestalten sich auch die Befragungsinstrumente und die konkreten methodologischen Herangehensweisen – sie eint allerdings das Ziel, über Einzelfallanalysen „soziologische Porträts“ (Martuccelli/Singly 2012) zu erschaffen. Diese bieten die Möglichkeit, über die Darstellung und Analyse von Einzelperspektiven, vom singulär Besonderen ausgehend, das Soziale und Allgemeine zu erforschen.
Im ersten der vier empirischen Abschnitte (Kap. 2) trifft berufliche Bildungs- und Lebenslaufforschung auf (pop-)kulturtheoretische Analyse. So arbeitet sich das Kapitel anhand eines Porträts des Rappers Baba Uslender sowie seiner Crew am Zusammenhang von Gefährdungszuschreibung, Migrationsgeschichte, deren Verarbeitung durch die sogenannte zweite Migrant*innen-Generation in digitalen Jugendkulturen (hier: Hip-Hop), aber auch deren gesellschaftlichen Rezeption ab. Preite zeigt dabei auf, wie sich an dieser Verbindung „Fragen der gesellschaftlichen Stellung, Partizipation und Anerkennung der zweiten Migrantengeneration in der symbolischen Dimension explorativ ergänzen lassen“ (S. 39).
Eine weitere These dieses Abschnitts, dass außerschulische Räume und jugendkulturelle Szenen „adoleszente Möglichkeitsräume“ im Sinne Kings (2013) bieten (S. 33), setzt sich in Kapitel 3 fort. Abermals stehen Jugendliche im Mittelpunkt, die im digitalen Raum „Parallelwerdegänge“ gegenüber ihrer beruflich institutionalisierten und formal regulierten Übergangsaktivität aufweisen. Anhand der Jugendlichen verdeutlicht Preite aus bildungswissenschaftlicher Perspektive, wie digital-mediale Lebenswelten und Werdegänge Möglichkeiten bieten, sowohl die Gefährdungszuschreibung zu verarbeiten als auch alltags- und berufspraktische Kompetenzen zu entwickeln und Selbstwirksamkeitserfahrung zu machen.
In Kapitel 4 stehen nicht Jugendliche, sondern deren Lehrpersonen im Mittelpunkt. Es geht darum, wie Lehrende erstens das Übergangsgeschehen ihrer Schüler*innen erfahren, deuten und verstehen; zweitens geht es um das sogenannte „Dilemma der Berufsorientierung“ (S. 78), einerseits also Fähigkeiten und Wünsche der Jugendlichen zu erforschen, andererseits diese aber auch in die Erwerbssphäre zu vermitteln. Das Kapitel reiht sich in die Forschung zu Cooling-out-Prozessen ein, zeigt dabei auf, dass den Lehrenden „Vermittlungs-, Platzierungs- und Beschäftigungstätigkeiten“ zukommen, die ein hohes Maß an „Schattenarbeit“ (S. 97 f.) abverlangen, ohne die die Institutionen überhaupt nicht ihrem bildungspolitischen Auftrag gerecht würden.
Im letzten empirischen Kapitel 5 geht es um die Frage, wie Jugendliche das Übergangssystem erleben sowie insbesondere, wie sie sich den „Abkühlungsprozessen“ im „Übergangsregime“ (Walther 2006) widersetzen und welche Handlungsfähigkeit sie dagegen bewahren. Anhand einer multiplen Fallstudie über drei männliche Jugendliche veranschaulicht Preite, wie sich diese als Akteure in Aspirationsaushandlungen einbringen, und verdeutlicht dabei eine gewisse Reziprozität von Abkühlungsprozessen und Widerständen, die sich in unterschiedlichen Anpassungsprozessen spiegelt. Entgegen einer deterministischen Auffassung des Cooling-out und einer pessimistisch-fatalistischen Deutung von Widerstandspraktiken ordnet er diese Praktiken in ihren lebensweltlichen Kontext ein, verdeutlicht dabei einerseits deren potentielle Reproduktionslogik prekärer Lagen, andererseits aber auch deren „peer-kulturelle Bezeugung von Handlungsfähigkeit“ (S. 118).
In der abschließenden Reprise (Kap. 6) schlägt Preite den Bogen zur Einleitung, fasst den Inhalt des Buches zusammen und verortet seine eigene Studie nochmals im Kontext einer kritisch-subjektorientierten Forschung. Zudem reflektiert er seine eigene theoretische Herangehensweise, integriert männlichkeitstheoretische Ansätze und schließt Forschungsperspektiven daran an. Zusätzlich zu den zentralen Erkenntnissen seiner Studie formuliert er abschließend bildungspolitische und jugendsoziologische Plädoyers – das erste für eine „Erweiterung des Zugangs zu Fachmittelschulen“ (S. 137), das zweite für eine Infragestellung der Gefährdungszuschreibung sowie eine Wahrnehmung und Anerkennung der informell erworbenen Kompetenzen sowie des „Efforts“ (S. 138), den diese Jugendlichen leisten.
Zusammenfassend stellt das Buch eine umfangreiche subjektorientierte Studie zu sogenannten „gefährdeten“ Jugendlichen dar, deren „Widerstand“ weniger als trotzige Ausbildungsunreife abgestempelt als vielmehr überzeugend aus Subjektperspektive mitunter als eine Form der Selbstbehauptung rekonstruiert wird. Auch wenn es der Studie an weiblichen Lebenswelten und Geschichten mangelt – eine entsprechende Erweiterung wäre wünschenswert –, bietet sie nicht nur eine überzeugend kritische Perspektive, sondern auch viele theoretische und empirische Anknüpfungspunkte. Die Lektüre lohnt sich in jedem Fall für all diejenigen, die auch außerhalb des schweizerischen Berufsbildungssystems an der Schnittstelle von Jugend- und (beruflicher) Bildungssoziologie forschen – sowohl qualitativ als auch quantitativ.
Literatur
King, Vera (2013): Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Wiesbaden: Springer VS.
Martuccelli, Danilo/de Singly, Francois (2012): Les Sociologies de l’individu. Paris: Armand Colin.
Walther, Andreas (2006): Regimes of youth transitions: Choice, flexibility and security in young people’s experiences across different European contexts. In: YOUNG, 14 (2), 119–139.
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