EDITORIAL: JUGENDLICHE SYSTEMSPRENGER:INNEN: (GESELLSCHAFTLICHE) DIAGNOSE, INTERVENTION, ABBRÜCHE UND UMPLATZIERUNGEN

Jakob Humm und Eveline Zwahlen

Der Begriff „Systemsprenger:in“ ist nicht unumstritten (Rätz 2016, 41; Baumann 2020, 15; Kieslinger et al. 2021). Im Forschungsdiskurs ist dieses Phänomen bereits seit längerem bekannt, wobei das Thema eher marginal bearbeitet wird (Freigang 2020, 262). Konsens besteht darin, dass es sich bei Systemsprenger:innen um Kinder und Jugendliche handelt, bei denen Sozialisationskontexte, wie schulische, sozialpädagogische und therapeutische Institutionen an ihre Grenzen kommen und es zu einem (bereits mehrmals erfolgten) Abbruch des Hilfeangebots (und der damit aufgebauten Beziehungen) oder einem wiederholten Wechsel in ein anderes Setting kommt (Tornow/Ziegler 2012). Solche Wechsel können für alle Beteiligten belastend sein (Sewing 2012, 137), gleichzeitig können sie auch das Potential beinhalten, verfahrene soziale Konstellationen aufzubrechen (Höllmüller 2015). Letzteres erfordert jedoch eine Analyse nicht nur der Verhaltensweisen der Kinder und Jugendlichen und ihres sozialen Umfeldes, sondern ebenso der institutionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Denn diese Rahmenbedingungen orientieren sich an Normen und Werten, welche Produkte von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen sind. Diese Normen und Werte münden auch in beruflich definierte Standards, entlang welchen sich professionelle Akteur:innen orientieren (Naumann 2022, 189). So achten sie beispielsweise auf die Etablierung von tragfähigen professionellen Beziehungen und sehen sich darin verpflichtet, gegebenenfalls Zuweisungsentscheidungen auszulösen und Kinder und Jugendliche in andere, aus Sicht der professionellen Akteur:innen beispielsweise besser geeignete Settings zu überführen. Wenn von Systemsprenger:innen die Rede ist, begann oder beginnt hier also oft eine sogenannte Institutionskarriere: ein regelmässiger Wechsel eines (stationären oder ambulanten) Settings in ein anderes, ohne dass eine Stabilisierung oder qualitative Verbesserung der Lebenssituation angestrebt werden kann.

Auf dieser Grundlage beleuchten die Autor:innen der Texte in diesem Heft das Themenfeld „Systemsprenger:innen“. Dabei stehen sowohl die Institutionen, deren Mitarbeiter:innen und deren Modi der sozialpädagogischen Arbeit im Fokus eingehender Analysen als auch Kinder und Jugendliche selbst und deren (wiederholtes) Erleben von Beziehungsabbrüchen und Neuanfängen in anderen Betreuungssettings. Die Artikel sind methodisch und methodologisch unterschiedlich ausgerichtet und präsentieren so theoretische und empirische Befunde, welche als Reflexionsfolien für wissenschaftliche und fachliche Diskurse dienen können.

Der erste Beitrag von Helena Kliche und Vicki Täubig untersucht das Phänomen der Schulen der Heimerziehung hinsichtlich ungleichheitsförderlicher struktureller Mechanismen des Schulsystems. Anhand ethnographischen Materials und Expert:inneninterviews aus zwei unterschiedlichen Studien zeichnen die Autor:innen erstens nach, inwiefern durch die Schule der Heimerziehung ein Sonderstatus der Schüler:innen (re-)produziert wird. Zweitens zeigen sie Hürden bei der Reintegration in das Regelschulsystem auf. Sie kommen zum Schluss, dass die Etikettierung von Schüler:innen als nichtbeschulbar bzw. systemsprengend durch diese Mechanismen aufrechterhalten und gar verstärkt wird.

Ausgehend von bekannten Befunden der Bedarfe und Schwierigkeiten der Kooperationen zwischen Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie gibt Christopher Romanowski-Kirchner den Hilfsadressierten eine Stimme, indem deren Erleben der Weiterverweisungen in den Fokus gerückt wird. Der Autor rekonstruiert Systemsprengungsdynamiken unter anderem auch durch fachlich verantwortete, unzureichende Angebote, welche somit zumindest teilweise durch hinreichend passende Settings vermeidbar wären.

Nadine Sarfert nähert sich der Fragestellung, inwieweit Mitarbeiter:innen in Institutionen die vielfach sich wiederholenden Abbrüche mitkonstruieren. Dazu analysiert sie tiefenhermeneutisch ethnografische Protokolle in Bezug auf die Interaktionskultur zwischen Jugendlichen und Betreuenden und rekonstruiert auf einer psychoanalytischen Ebene die Mechanismen des beidseitigen Abwehrverhaltens. Dabei legt sie dar, wie die pädagogische Interaktion bei Jugendlichen und Betreuungspersonen durch eine Doppelbödigkeit gekennzeichnet ist.

Der Artikel von Sabrina Schmidt, Natalie Durst, Lea Gietz und Sebastian Böhm rückt die Perspektive der Jugendlichen auf ihre eigene Hilfegeschichte in den Vordergrund. Aufgrund von sechs biografisch-narrativen Interviews und deren Auswertungen können die Autor:innen insbesondere den Moment des Eintritts in eine neue Institution als für die befragten Jugendlichen besonders relevant rekonstruieren. Mit dem Ankommen auf einem „neuen Kontinenten“ bekommt für die Befragten die Passung eine besondere Bedeutung, weshalb die Autor:innen sich für eine biographieorientierte Weiterentwicklung der Heimerziehung aussprechen.

Robert Langnickel, Noëlle Behringer und Pierre-Carl Link plädieren schliesslich in ihrem theoretischen Beitrag für eine Differenzierung zwischen „aktiven“ und „passiven“ Systemsprenger:innen. Ausgehend von der Feststellung, dass „passive“ Systemsprenger:innen sowohl im sozialpädagogischen Diskurs als auch im sozialpädagogischen Alltag oftmals verkannt und dadurch für diese nur sehr wenige Angebote vorhanden sind, entwerfen die Autor:innen entlang des Konzepts der „gesprengten Institution“ (Mannoni) Ideen darüber, wie ein entsprechendes Hilfesetting ausgerichtet sein müsste, um „passive“ Systemsprenger:innen als begehrende und nicht als an die Gesellschaft anzupassende Subjekte zu adressieren sind.

Diese fünf Beiträge zum Themenschwerpunkt werden ergänzt durch einen freien Beitrag von Jana Posmek und Pascal Bastian. Sie gehen in ihrem unter anderem ethnografisch angelegten Beitrag der Frage nach, welche Rolle der Wissenschaft in der Fridays for Future-Bewegung im Protest gegen den Klimawandel zukommt. Damit wird das Verhältnis von Wissenschaft(sorientierung) und politischer Mitsprache in seiner Ambivalenz in den Blick genommen. Die Autor:innen arbeiten eine doppelte Prekarität heraus, der die jungen Klimaaktivist:innen ausgesetzt sind.

Abschliessend bespricht Andreas Fischer das kürzlich veröffentlichte Buch von Luca Preite „Widerstand als Selbstbehauptung. ‚Gefährdete‘ Jugendliche im Übergangs- und Berufsbildungssystem“. Er empfiehlt das Buch all jenen, die daran interessiert sind, an der Schnittstelle zwischen Jugend- und (beruflicher) Bildungssoziologie sowohl quantitativ wie auch qualitativ zu forschen.

Nur dank der grossen Unterstützung vieler Kolleg:innen konnte dieses Heft überhaupt erst realisiert werden. Wir bedanken uns bei allen Gutachter:innen für die hervorragende Zusammenarbeit und Flexibilität. Zum Gelingen massgeblich beigetragen hat die kontinuierliche und wertschätzende Mitarbeit des GISo-Teams. Daniel Werner hat alle Beiträge dieser Ausgabe sorgfältig gelesen und lektoriert. Michi Bieri von speckdrum communication verdanken wir das Layout und bei Antonia Huber bedanken wir uns für ihre tatkräftige Unterstützung in der Endphase der Erstellung dieses Hefts.

Wir hoffen, Ihnen mit dieser Ausgabe einen vielfältigen und spannenden Einblick in aktuelle Forschungen zum Thema „Systemsprenger:innen“ zu ermöglichen und wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.

Literatur

Baumann, Menno (2020): Kinder, die Systeme sprengen. Wenn Jugendliche und Erziehungshilfe aneinander scheitern. Bd. 1. Baltmannsweiler: Schneider.

Freigang, Werner (2020): Scheitern in der Jugendhilfe. In: Forum Erziehungshilfen 26 (5), 260–264.

Höllmüller, Hubert (2015): „Geh dich ritzen, Elefant!“. Aktuelle Erfahrungswelten von als „besonders schwierig“ etikettierten Jugendlichen in der Kinder- und Jugendhilfe. In: Soziales Kapital, 14, https://soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/381 (26.05.2023).

Kieslinger, Daniel/Dressel, Max/Haar, Ralph (2021): Systemsprenger*innen: Ressourcenorientierte Ansätze zu einer defizitären Begrifflichkeit. Freiburg i. Br.: Lambertus.

Naumann, Thilo Maria (2022): Subjektbildung und Gesellschaft. Beiträge zu Gruppenanalyse, Psychoanalytischer Pädagogik und Kritischer Theorie. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Rätz, Regina (2016): Was tun, wenn Kinder und Jugendliche und Erziehungshilfen aneinander scheitern? Aktuelle Studienergebnisse. In: Deutsches Institut für Urbanistik (Hrsg.): Systemsprenger verhindern. Wege, schwierig(st)e Kinder und Jugendliche ins Leben zu begleiten. Dokumentation der Fachtagung am 3. und 4. Dezember 2015 in Berlin. Berlin: Eigenverlag, 41–60.

Sewing, Julia (2012): „Das hatt‘ ich keinen Bock mehr drauf, weil …“. Eigene Sichtweisen Jugendlicher auf Abbrüche in der Heimerziehung – Ergebnisse einer Interviewstudie. In: Tornow, Harald/Ziegler, Holger (Hrsg.): Ursachen und Begleitumstände von Abbrüchen stationärer Erziehungshilfen (ABiE), Teil II. EREV Schriftenreihe, 3/2012, Hannover: Schöneworth, 119–164.

Tornow, Harald/Ziegler, Holger (2012): Ursachen und Begleitumstände von Abbrüchen stationärer Erziehungshilfen (ABiE). In: Tornow, Harald/Ziegler, Holger (Hrsg.): Ursachen und Begleitumstände von Abbrüchen stationärer Erziehungshilfen (ABiE), Teil II. EREV Schriftenreihe, 3/2012, Hannover: Schöneworth,12–118.