REFLEXION UND IRRITATION ALS STRATEGIEN IM UMGANG MIT WISSENSKULTUREN ZU JUGENDDELINQUENZ, NEOSALAFISMUS UND MARGINALISIERTEM SOZIALRAUM – EIN SELBSTKRITISCHER PROJEKTAUFTAKT
Katharina Leimbach und Mareike Wilke
1. Einleitung
Adoleszenzprozesse werden seit Anbeginn der Soziologie und der Erziehungswissenschaft sowohl aus ätiologischer als auch aus interaktionistisch-konstruktivistischer Perspektive im Modus von Problematisierungen thematisiert (Lampe 2017; Lampe/Rudolph 2016).[1] In den vergangenen Jahren hatte der Radikalisierungsbegriff im Kontext von Jugend, Sozialisation und Delinquenz Hochkonjunktur. Generell ist diesen drei Phänomenen vor dem Hintergrund islamistischer Radikalisierung eines gemein: Die Adressat*innen dieser Diskurse werden als männlich, jugendlich und mit Migrationsgeschichte konstruiert. So gingen in den vergangenen Jahren zahlreiche wissenschaftliche Projekte an den Start und versuchten Prozesse der Radikalisierung zu beforschen, wobei der praktische Nutzen für Sicherheitsbehörden und Prävention die wissenschaftlichen Forschungen dominierten (Leimbach/Jukschat 2023).
Mit dem Start des DFG-Projekts „Interaktionen von neosalafistischen, delinquenten und nicht-delinquenten Jugendlichen in marginalisierten Stadtgebieten“ fragen wir uns, wie wir vom Anbeginn des Projekts eine kritisch-selbstreflexive Forschungshaltung etablieren können, die die eigene Involvierung in (diskursive) Prozesse der Problematisierung analytisch mit aufnimmt. Das Konstatieren von Verstrickungen in die Konstruktionsprozesse von Forschungsfeldern und -gegenständen ist nicht neu (Bereswill/Rieker 2008a). Wie es jedoch nicht nur bei dieser Feststellung bleibt, sondern wie sie, insbesondere von Beginn des Forschungsprozesses an, berücksichtigt werden kann, bleibt oft vage. Wir rekonstruieren in diesem Artikel zentrale wissenskulturelle Formierungen und ihre diskursiven Strukturierungen zu den Themen Jugenddelinquenz, Neosalafismus und marginalisierter Sozialraum. Wir verstehen wissenschaftliches Arbeiten als (wissenschaftliche) Konstruktion von Wirklichkeit (Poferl/Keller 2018). Wenn wir davon ausgehen, dass wissenschaftliche Wissenskulturen (Poferl/Keller 2018) nicht nur Problematisierungen enthalten, sondern dass die wissenschaftliche Praxis selbst einerseits situiert ist und andererseits Produzent*in dominanter Problematisierungen (Keller/Poferl 2020), dann stehen empirisch Forschende vor einer Herausforderung. So lässt sich der Forschungsstand selbst eben nicht als objektiver Tatbestand zusammentragen und der Forschungsantrag sowie die darin entworfene Vorgehensweise nicht als kontextlos betrachten. Eine stringent konstruktivistische Perspektive auf die (wissenschaftliche) Wirklichkeit würde bedeuten, dass schon die Genehmigung des Forschungsantrags einen Hinweis auf einen Forschungstrend liefert, den adressierten Gruppen mit großer Wahrscheinlichkeit ohnehin eine erhöhte gesellschaftliche und wissenschaftliche Aufmerksamkeit zukommt und diese Aufmerksamkeit im Modus einer Problematisierung erfolgt.
Dieser Artikel soll einen Einblick in kritisch-selbstreflexive Überlegungen liefern und zugleich forschungspraktische Vorschläge zum Umgang mit eben jenen Herausforderungen präsentieren.[2] Damit wird in diesem Beitrag das Wagnis eingegangen, einen Einblick in den Prozess selbst zu geben und empirische Strategien zu formulieren, die im weiteren Verlauf des Forschungsprozesses eventuell verworfen oder erweitert werden. Wir glauben, dass insbesondere dann, wenn in prekären und kriminalisierten Lebensverhältnissen geforscht wird, selbst-reflexive Überlegungen nicht nur zum methodischen Repertoire gehören sollten, sondern diese auch als ein forschungsethischer Auftrag zu verstehen sind, der bereits mit dem Entwurf und später der Genehmigung eines Forschungsantrags beginnt (Tietje 2023; von Unger 2014, 16).
Der Artikel gliedert sich in vier Teile. Zunächst werden wir das Vorhaben des Forschungsprojekts skizzieren und schließlich eine konzeptuelle Grundlage erarbeiten, auf die wir uns im Weiteren beziehen wollen. Anschließend werden wir den Forschungsstand zu Jugenddelinquenz, Neosalafismus und marginalisiertem Sozialraum mit Blick auf darin enthaltene Problematisierungen konturieren. In einer Synthese der spezifischen wissenskulturellen Formierungen schlagen wir gezielte, empirische Irritationen bestehender Problematisierungsmuster vor.
2. Zum Kontext des Artikels und des Forschungsprojekts
Dieser Artikel entstand zu Beginn des in der Einleitung erwähnten DFG-Projekts. In diesem Projekt sollen Interaktionen von Jugendlichen untersucht werden, die gemeinsam in (marginalisierten) Stadtgebieten aufwachsen und sich auf unterschiedliche Weise im Sozialraum entwickeln. Das Projekt ist als Weiterentwicklung eines vorangegangenen Projekts zu Jugendlichen in marginalisierten Stadtgebieten entstanden (Zdun 2021). Mit der Übernahme des Forschungsprojekts und unseren Praxis- und Forschungserfahrungen im Hintergrund wollen wir eine reflexiv-analytische Forschungshaltung etablieren, bei der wir neben den in der Projektkonzeption enthaltenen Vorannahmen, auch unsere eigenen Vorannahmen bereits als spezifisch problematisierende und damit konstruierende Rahmungen verstehen. Die Erfahrung aus vorangegangenen Forschungsprojekten zu rechtsextremistischer und islamistischer Radikalisierung und deren Präventionsmaßnahmen hat gezeigt, dass eine ausgeprägte Sensibilität gegenüber Islamismus existiert, dass durch den Diskurs Personen aufgerufen werden, die radikale politische oder religiöse Lebenspraktiken als Stigma zugeschrieben bekommen und dass es einen ausgeprägten Sicherheits- und Verhinderungsdiskurs im Bereich der Radikalisierungsforschung gibt (Bögelein et al. 2021; Dollinger/Negnal 2019; Jukschat/Leimbach 2019). Als am 31. Januar 2020 die Polizei an der Universität Erlangen auf gerichtliche Anordnung hin Audiodateien von Interviews mit Gefangenen im Forschungsprojekt „Strafvollzug und Radikalisierung“ beschlagnahmte, erhielt qualitative Forschung im Kontext des politischen Islam eine neue brisante Dimension für die forschungsethische Haltung (Bögelein et al. 2021; Kreuzer 2023). Mit den Erfahrungen der letzten Jahre müssen wir uns also fragen, inwiefern wir überhaupt noch ethische und freie Forschung in einem Feld durchführen können, das in den vergangenen Jahren von zahlreichen Wissenschaftler*innen beforscht wurde und inwiefern die wissenschaftliche sowie sozialpädagogische Beschäftigung mit Themen wie Radikalisierung, Neosalafismus, Extremismus und Terrorismus maßgeblich zu einer Produktion von Problematisierungswissen beiträgt. Viele der großangelegten und finanziell gut ausgestatteten Forschungsprojekte zu eben genannten Phänomenen folgten einem ätiologischen und anwendungsbezogenen Erkenntnisinteresse mit dem Ziel, direkten Output für die Strafverfolgung und die sozialpädagogische (Präventions-)Praxis zu liefern (Leimbach 2022).
Wenngleich sich diese Trends auch in der Konzeption des von uns im August 2022 begonnenen Projekts wiederfinden, wollen wir an die Erfahrungen der vergangenen Jahre anknüpfen und uns von vornherein fragen, wie eine ethisch- und kritisch-reflexive Forschungshaltung schon von Beginn eines Projekts implementiert werden kann. Für das aktuelle Forschungsprojekt wurde ein qualitatives Forschungsdesign entworfen, welches aus verschiedenen Interviewformen, Gruppendiskussionen und ethnografischen Beobachtungen besteht. Auf diese Weise soll ein grundlagentheoretisches Wissen über die Interaktionen von neosalafistischen, delinquenten und nichtdelinquenten jugendlichen Milieus in marginalisierten Wohngebieten erzeugt werden. Das ursprüngliche Forschungsinteresse lässt sich dennoch eher auf ein ätiologisch und ontologisch ausgerichtetes Vorhaben zurückführen. Damit steht das Forschungsprojekt ganz in der Tradition kriminologischer Forschungen zu Jugenddelinquenz und Radikalisierung. Die Wissensproduktion zu den beiden Phänomenen beinhaltet meist den Impetus eines konkreten Nutzens für die Fach- und Präventionspraxis (z. B. Beelmann 2008). Wir wollen das ätiologische Interesse als ursprüngliches Ziel des Forschungsprojekts nicht aufgeben, aber um einen wissens- und problemsoziologischen Ansatz ergänzen.
Die Erfahrungen aus vorangegangenen Forschungsprojekten zu Islamismus, Rechtsextremismus und Radikalisierung haben gezeigt, dass eine problemsoziologische Perspektive produktiv ist. Denn so werden Zusammenhänge sichtbar, die zum Beispiel den Blick auf den Wissensaustausch zwischen Wissenschaft, sozialpädagogischen und sicherheitsbehördlichen Praktiker*innen und den durch Diskurse zu Radikalisierung und Jugendlichen angerufenen Personen richten und diesen Austausch hinsichtlich ihrer Bedeutung für Problematisierungsprozesse beleuchten (Leimbach/Jukschat 2023). Unser Verständnis hinsichtlich der empirischen Aufbereitung genannter Zusammenhänge entwickelte sich entlang einer verstehenden und reflexiven Forschungshaltung. Im Rahmen des vorangegangenen BMBF-geförderten RadigZ-Projekts hat sich diese Forschungshaltung erst durch die Felderfahrungen iterativ entwickelt (Leimbach 2022). Mit dem Start des neuen Projekts soll eine solche Forschungshaltung von Beginn an eingenommen werden und damit gezeigt werden, wie sicherheitslogisch gerahmte Forschungen kritisch-sensibilisiert und methodologisch begründet durchgeführt werden können.[3] Wir wollen deshalb nachfolgend den Forschungsstand zusammentragen, den wir bereits als spezifische Problematisierung verstehen. Somit geht es also im wissenssoziologischen und phänomenologischen Sinne um ein Verstehen des Verstehens schon vor Erhebung der empirischen Daten: „Das reflexive Grundproblem des sozialwissenschaftlichen Interpreten besteht also darin, für sich selbst und für andere durchsichtig zu machen, wie er das versteht, was er zu verstehen glaubt, und wie er das weiß, was er zu wissen meint“ (Hitzler/Honer 1997, 23).
Im Folgenden sollen die theoretischen und methodologischen Bezüge für eine reflexive und verstehende Forschungspraxis dargestellt werden.
3. Wissenssoziologie sozialer Probleme und interpretative Forschung als Heuristik einer verstehenden Forschungspraxis
Die zentralen Begriffe des Projekttitels „Jugend, Delinquenz, Neosalafismus und marginalisierter Stadtgebiete“ werden meist im Modus von Problematisierungen thematisiert. Während Neosalafismus und Jugenddelinquenz eher als phänomenologische soziale Probleme beschrieben werden können, stellen marginalisierte Stadtgebiete Orte bzw. Räume dar, die etwa wegen eines erhöhten Kriminalitätsaufkommens, wegenihrer Interkulturalität oder deswegen, weil sie als Drogenumschlagsplätze fungieren können, problematisiert werden (Hohm 2011). Eine Wissenssoziologie sozialer Probleme in Anlehnung an Groenemeyer (2012) und Keller und Poferl (2020) schließt an die konstruktivistische Soziologie sozialer Probleme (Spector/Kitsuse 1977) an und fragt nach dem (gesellschaftlichen) Problemwissen zu Phänomenen, die als soziales Problem betrachtet werden. Es lässt sich somit nach der gesellschaftlichen Konstruktion (Berger/Luckmann 2004) sozialer Probleme fragen, indem der gesellschaftliche Kontext der Konstruktionsprozesse einerseits und des konkreten Problem-(Be-)Arbeitens andererseits untersucht wird (Keller/Poferl 2020):
Selbstverständlich sind soziale Probleme soziale Konstruktionen, allerdings sind sie nur im Ausnahmefall das Ergebnis intendierten Handelns von Akteuren. Problematisierungen sind eingebunden in historisch gewachsene kulturelle, politische und spezifische soziale Kontexte der gesellschaftlichen Entwicklung, die ihnen erst öffentliche und politische Anerkennung sowie Legitimation verleihen oder eben nicht. (Groenemeyer 2007, 6).
Was bei Groenemeyer und auch beim Klassiker der wissenssoziologischen Problemsoziologie von Spector und Kitsuse (1977) kaum thematisiert wird, ist die Rolle der Wissenschaftler*innen bei der Co-Produktion von Problematisierungswissen. Allein durch die pure Existenz unseres Forschungsprojekts wird also ein Problemwissen diskursiv und performativ erzeugt, welches Jugenddelinquenz, Neosalafismus und marginalisierte Stadtgebiete zusammen denkt. Die Co-Produktion eines solchen Problematisierungswissens schreibt sich in der empirischen Forschungspraxis selber fort. Wie wir das Projekt den Forschungssubjekten gegenüber kommunizieren, wen wir überhaupt als Forschungssubjekt im Rahmen unseres Themas adressieren und wo wir letztlich unsere Forschung durchführen, wird bestimmte Wissensbestände reproduzieren und neue Problematisierungen schaffen. Eine problemkonstitutive Rolle durch die Wissenschaft kann also nicht verhindert werden, vielmehr braucht es einen forschungspraktischen Umgang damit, der im besten Fall den Umgang selbst zum analytischen Instrument macht. Dies kann eine wissenssoziologisch-orientierte Problemsoziologie durchaus leisten, wenn sie mit den Prinzipien interpretativer Forschung zusammengedacht wird. Bereswill schlägt hierzu vor, „dass das eigene Handeln und Empfinden im Forschungsprozess genauso auf seinen latenten Sinn oder auf seine impliziten Wissensbestände zu befragen ist, wie das der untersuchten Subjekte“ (2003, 512).
Im Forschungsantrag ist ein ethnografischer Zugang vorgesehen, der helfen soll, die Interaktionen der verschiedenen jugendlichen Gruppen zu beobachten und im Kontext des spezifischen Sozialraums zu verstehen. Des Weiteren sind Expert*inneninterviews mit Sozialarbeiter*innen, Stadtteilspolizist*innen etc., narrative Einzelinterviews mit Jugendlichen und Gruppendiskussionen mit Jugendgruppen geplant. Wie es mittlerweile typisch für erfolgreiche Forschungsanträge mit qualitativem Design ist, formulieren auch wir in unserem Projekt numerische Versprechen, die einer interpretativen Forschungslogik folgend innerhalb der vorgegeben Zeit nur schwer einzuhalten sind. Deshalb sollen dem Antrag nach die unterschiedlichen Forschungsdaten inhaltsanalytisch kodiert werden. Im Rahmen des institutionell Möglichen und Erlaubten lassen sich an dieser Stelle interpretative Auswertungsverfahren ergänzen. In einer ähnlichen Studie, die in einem analogen Kontext entstand, wurden hermeneutische Verfahren mit der Situationsanalyse ergänzt (Leimbach 2022; Leimbach/Jukschat 2023). So können Daten, die ohnehin erhoben werden, anders eingeordnet, umgedeutet und für tiefer gehende Verfahren genutzt werden. Dieses Mal jedoch soll das Projekt und seine Anlage von Beginn an reflexiv eingeordnet werden und nicht, wie es bisher oft üblich ist, im Nachgang des Projekts und einer neoliberalen Logik des Erfolgs folgend kritisch reflektiert werden (Günther 2008; Lester/Anders 2018; Tietje 2023).
Eine stringent interpretative Forschungshaltung betrachtet soziale Wirklichkeit als das Ergebnis von subjektiven Interpretationen und Sinnzusammenhängen, die es methodisch-geleitet zu rekonstruieren gilt. Dies lässt sich auch auf die eigene Involviertheit als Forscher*innen anwenden:
Insofern verbindet die Methodologie der WDA jene notwendige Situiertheit der Forschenden mit der Einsicht einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik diese notwendige Situiertheit durch die Nachvollziehbarkeit der Forschungsschritte,[4] also ein expliziertes Verstehen des Verstehens einzufangen. (Truschkat 2013, 83)
Konkret bedeutet dies, dass wir den Forschungsantrag auf seine impliziten Annahmen hin überprüfen werden, den aktuellen Forschungsstand als diskursiven Problemwissensbestand verstehen und ihn deshalb im Rahmen dieses Artikels rekonstruieren. Damit lässt sich der ethnographische Ansatz des Projekts nun als ein „post-qualitatives“ Vorhaben einordnen (Poferl 2022).[] Dies stellt den Auftakt eines Projekts dar, in dem wir von Anbeginn eine verstehende und reflexive Forschungspraxis etablieren wollen. Das Hinterfragen der eigenen Vorannahmen betrachten wir nicht nur als analytischen Mehrwert, sondern auch als Teil einer reflexiven Forschungsethik. Das wissenschaftliche Problemwissen im Bereich von Jugenddelinquenz, Neosalafismus und marginalisierten Stadtgebieten läuft Gefahr eine stigmatisierende Wirkung zu entfalten und muss allein deshalb im Rahmen des Forschungsprozesses einer permanenten selbstkritischen Auseinandersetzung auch im Hinblick auf Forschungsethik unterzogen werden, wie es jüngst auch Faria (2023) empfahl und vom RatSWD (2017) vorgegeben wurde. Die eigenen Vorannahmen und die wissenschaftlichen Wissenskulturen im Rahmen von Forschungsständen als Teil der Problemkonstruktion jener sozialen Probleme zu verstehen, die im Forschungsprojekt untersucht werden sollen, können also auch als eine Strategie eines forschungsethischen Prozesses interpretiert werden.
4. Wissenskulturen zu Jugenddelinquenz, Neosalafismus und marginalisierten Sozialräumen
4.1 Jugenddelinquenz und marginalisierter Sozialraum[6]
In der Kriminologie, der Sozialen Arbeit und auch in der Soziologie sind Jugenddelinquenz und Marginalisierung im Kontext der „sozialen Frage“ immer wiederkehrende Themen (Dollinger/Schmidt-Semisch 2018). Schon allein deshalb kann der folgende Forschungsstand keinen Anspruch auf Vollständigkeit aufweisen, vielmehr geht es darum, entlang zentraler Arbeiten zu zeigen, wie Jugenddelinquenz, marginalisierter Raum und Neosalafismus thematisiert und dabei bestimmte Aspekte besonders stark problematisiert werden, während andere Themen „still“ bleiben.[7] Jugenddelinquenz wird als Sozialisationsphänomen verstanden, welches über den Altersverlauf, die Adoleszenz und über unterschiedliche Erfahrungen von Prekarität hergestellt wird (Boers et al. 2009; Dollinger/Schmidt-Semisch 2018; Freiheit et al. 2018; Serafin 2018). Insbesondere aufgrund des ethnografischen Zugangs des Projekts bilden die klassischen Arbeiten der Chicago School mit ihren sozialökologischen Ansätzen zur Erforschung von Raum und (Jugend-)Delinquenz einen wichtigen theoretischen und empirischen Bezugspunkt (Park 1915; Shaw/McKay 1942; Thrasher 1929; Whyte 1943). In der Studie von Cohen (1955) wurde der Zusammenschluss von jugendlichen, delinquenten Gruppen zu Subkulturen als Anpassungsmechanismus interpretiert, um die soziale Ungleichheit der bestehenden Klassengesellschaft zu überwinden. Eine solche These ist seither oft reformuliert und neu untersucht worden, stellt aber eine stabile Deutung in der Auseinandersetzung mit Jugenddelinquenz dar (z. B. Kurtenbach et al. 2019). Hierbei kommt bestimmten Räumen – nämlich solchen, die als marginalisiert bezeichnet werden – besonders viel Aufmerksamkeit zu. Sie erscheinen medial als „soziale Brennpunkte“ und sind seit der Chicago School Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen (Frevel 2012).
So argumentieren einige Studien, dass kriminelles und gewalttätiges Verhalten von Jugendlichen oft als Überlebensstrategie in schwierigen Lebenssituationen angesehen werden kann. Die Teilnahme an delinquenten Aktivitäten wird bei Jugendlichen auf Stress, Trauma, Armut, Anomie und andere schwierige Lebensbedingungen zurückgeführt (Cloward 1968; Link/Uysal 2016; Serafin 2018). Die Suche nach aktuellen ethnografischen Untersuchungen zu Gegenständen der Chicago School gestaltet sich meist nahezu erfolglos. So arbeitet Niermann (2020) sehr eindrücklich auf, dass die Chicago School in ihrer Bedeutung für die heutige Forschung lediglich über das Narrativ, sie habe eine zentrale Bedeutung für die aktuelle Forschung, weiterlebe. Niermann führt zwei weitere Aspekte an, für die wir uns sensibilisieren wollen: 1.) Insbesondere da, wo sich mit kriminalsoziologischen Gegenständen in Kombination mit räumlichen Bezügen qualitativ auseinandergesetzt wird, gilt die Chicago School eher als rhetorische Legitimationspraxis denn als forschungsanleitend. Zugleich werden zwei wichtige Entwicklungen der ethnografischen Forschung durch Burawoy (2005) und Waquant (2009) in diesen Forschungszuschnitten kaum beachtet. 2.) Ethnografische Forschung im Bereich der Devianzsoziologie ist in ihrer Konzeption männlich dominiert. Die ethnografische Forscherin Hoang beschreibt dies wie folgt:
While I have never been included in the club of “ cowboy” ethnographers who study drugs, gangs, or violence, reviews of my work have always been lumped into that category of research. Cowboy ethnography is a term used informally among sociologists to loosely describe researchers who study dangerous or hard-to-reach poor populations. (2015, 21)
Die einzig berühmte und weiblich-positionierte Ethnographin zu Marginalisierung und Kriminalisierung ist Goffman (2014), welche bereits kurz nach dem Erfolg ihrer Studie „On the Run“ ausschließlich im Zuge eines Skandals Aufmerksamkeit erhielt[8]
Es existiert also auch durch die qualitativ-arbeitenden, kriminalsoziologischen und historischen Bezugspunkte eine Wissenskultur, die androzentristisch organisiert ist. Trotz des vorherrschenden interaktionistischen Paradigmas werden dabei jedoch weniger Fragen danach ausgerichtet, inwiefern euro- und androzentristische Perspektiven den Gegenstand mitformen.
Statistisch kann ein Zusammenhang zwischen jugendlicher Delinquenz und dem Sozialstatus des Sozialraums nachgewiesen werden (Oberwittler 2004). Als Konsens gilt, dass Jugenddelinquenz im Rahmen von Sozialisation gedacht werden muss (Dollinger/Schmidt-Semisch 2018). Hierbei werden immer wieder Zusammenhänge hergestellt, die Jugenddelinquenz mit weiteren sozialen Problemen zusammenbringen. Dies lässt sich besonders eindrücklich an der Einschätzung von Lösel und Weiss zeigen:
Im Sozialisationshintergrund dissozialer junger Menschen finden sich häufiger als in der Allgemeinbevölkerung Scheidungen oder Trennungen der Eltern, sehr junge alleinerziehende Mütter, ein geringes Einkommen, längerfristiger Arbeitslosigkeit, Sozialhilfebezug, schlechte Wohnverhältnisse, Alkoholismus und Kriminalität der Eltern. (2015, 717)
Bemerkenswert ist die Kategorie „dissozial“, die versucht ein Phänomen wie Jugenddelinquenz, welches nahezu einheitlich im Forschungsstand als ubiquitärer und lebensphasentypischer Effekt verstanden wird (Scherr 2018, 281), als unsozial zu definieren. Eifler und Marquart gehen sogar soweit, einen expliziten Zusammenhang zwischen „Angehörigen der unteren sozialen Schichten“ und körperlicher Gewalt als das „bevorzugte Mittel der Wahl“ herzustellen (2015, 62). Schließlich konstatiert Oberwittler (2004), dass eine hohe räumliche Konzentration von Menschen mit ähnlichem sozioökonomischem Hintergrund und ähnlichen Erfahrungen die Entstehung von delinquentem Verhalten begünstigt. Die räumliche Konzentration von Armut und sozialen Problemen in bestimmten Stadtgebieten kann also die Entstehung devianter Verhaltensweisen begünstigen oder als Effekt einer erhöhten sozialen Kontrolle verstanden werden (Kunadt 2011; Peters 2009). Neben den sozialräumlichen Erklärungen haben Theorien Bestand, welche – ausgehend von der Subkulturthese (Cohen 1955) – die Bedeutung sozialer Gruppen und delinquenter Peers (Akers 1973; Bernasco et al. 2013; Gerstner 2022) sowie das Erlernen von delinquentem Verhalten im Rahmen freundschaftlicher Netzwerke erklären (Sutherland/Cressey 1966).
4.2. Neosalafismus, Jugend und marginalisierter Sozialraum
Die Thematisierung von Neosalafismus in der Wissenschaft hat in den letzten 20 Jahren sprunghaft zugenommen. Der Begriff des Neosalafismus geht auf den Salafismus zurück und wird in einem Informationsdokument des Bundesamtes für Verfassungsschutz als eine fundamentalistische Strömung beschrieben, die sich auf die ersten drei Generationen von Muslim*innen bezieht, um einen wahrhaftigen und authentischen Islam zu praktizieren (Nedza 2014). Als Salafist*innen werden jene Gruppierungen bezeichnet, die versuchen, die oben genannte Interpretation von Islam auf die modernen Gegebenheiten anzupassen und gleichzeitig an der strikten Einhaltung salafistischer Lehren und Praktiken festzuhalten (BfV 2019; Nedza 2014). Sie folgen der Tawhid (der Glaube an die Einheit Gottes), Sunna (die Handlungen und Aussagen des Propheten Mohammed) und dem Dschihad (Anstrengung auf dem Weg Gottes) sowie der Ablehnung von westlichen Einflüssen und Praktiken, die sie als unislamisch betrachten (BfV 2019; Nedza 2014; Schneiders 2014). Diese zunächst harmlosen Beschreibungen von Neosalafismus als Phänomen lassen jedoch durch ihre Darstellung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz erahnen, dass es hier eine spezifische Lesart muslimischen Glaubens als Gefahr für die demokratische Gesellschaft gibt. Die Wirkmächtigkeit des Sicherheitsdiskurses beeinflusst auch unser Projekt in mehrfacher Hinsicht. So müssen wir einerseits sicherstellen, dass die Teilnehmenden der Studie im Rahmen der Forschung vor Strafverfolgung geschützt werden. Zugleich beeinflussen die Dramatisierungs- und Sicherheitsdiskurse auch, wen und welche Lebensformen wir potenziell beforschen.[9] Im Rahmen des ethnografischen Ansatzes ist somit konsequent gegen eine Verengung der eigenen Perspektive anzuarbeiten.
Neosalafismus wird als jugendkultureller Reiz und als Distinktionsmöglichkeit begriffen und im Zuge von Zeitdiagnosen einer „Polarisierung der Gesellschaft“ als wechselseitig entstehendes Phänomen thematisiert (El-Mafaalani 2014; Mogghaddam 2018; Pickel et al. 2023).
Der Begriff des Neosalafismus wird hauptsächlich in der wissenschaftlichen Literatur verwendet, um die neuen Strömungen einer eigentlich konservativen Religionsauslegung zu fassen und wurde von Ceylan und Kiefer (2018) in Deutschland etabliert. Ausgangspunkt für das dem Artikel zugrunde liegende Forschungsprojekt ist der empirische Befund, dass neosalafistische Jugendliche in besonderer Weise in Sozialräumen zu finden sind, die vielfach als marginalisiert beschrieben werden und dass diese häufig eine Nähe zu kleinkriminellen Milieus aufweisen, was auch als „crime-terror nexus“ beschrieben wird (Felbab-Brown 2019; Ilan/Sandberg 2019; Sandberg et al. 2023). Neosalafismus wird meist unscharf phänomenologisch präsentiert und steht in ständiger Konnotation mit Radikalisierung, Islamismus, Dschihadismus und Terrorismus. Teils werden die Begriffe synonym verwendet, die eine generelle islamskeptische Problemorientierung befördern (Amir-Moazami 2018, 91; Hummel et al. 2016). Ähnlich wie die Studien zu Jugenddelinquenz und marginalisiertem Sozialraum werden anomische Zustände wie Orientierungslosigkeit und Desorganisation als Risikofaktoren für neosalafistische Einstellungen bei Jugendlichen verortet (Schröder et al. 2020).
In Anlehnung daran argumentiert eine überwiegende Anzahl der Publikationen zum Thema neosalafistischer Radikalisierung dahingehend, dass junge radikalisierte Menschen zunächst oft in Krisen stecken, die durch verschiedene Faktoren wie Identitätsprobleme, soziale Ausgrenzung oder persönliche Traumata ausgelöst werden (Jukschat/Leimbach 2020; Kruglanski et al. 2014; Nordbruch et al. 2014). Genannte Studien sind international verortet und ihnen liegt der Konsens zugrunde, dass Radikalisierung hauptsächlich als Prozess gesehen werden kann. Auf nationaler Forschungsebene stellen Ceylan und Kiefer (2013) fest, dass Islamismus und dessen Hinwendungsprozess vor allem in der „Phase des Heranwachsens“ eine Rolle für junge Menschen spielt, und stellen den Grad der sozialen Desintegration als einen bedeutenden Risikofaktor hierfür dar. Dem gegenüber steht El-Mafaalani (2014), der die Themen Radikalisierung und Salafismus vor dem Hintergrund jugendlicher Rebellion als Ventil für etwaige Frustrationserfahrungen untersucht.
Stärker als bei der Thematik von Jugenddelinquenz hat sich zum Thema Neosalafismus eine psychologische Forschungsperspektive durchgesetzt, die das Phänomen im Rahmen psychologischer Erklärungsmodelle zugänglich macht (Malthaner 2017; Zick et al. 2011). Innerhalb dieser Ansätze rückt das Individuum stark in den Fokus, indem versucht wird, Risikofaktoren für die Radikalisierung auszumachen. Dies können ideologische, persönliche, soziale oder politische Faktoren sein, die allesamt eng miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig beeinflussen können. Die Identifizierung sogenannter Root Causes soll schließlich für die Präventionsarbeit nutzbar gemacht werden. Neben den psychologischen Erklärungsmodellen existieren jedoch auch psychopathologisierende Forschungen, die versuchen einen Zusammenhang zwischen Psychopathologie und gewaltbereitem Extremismus herzustellen (siehe jüngst z. B. Bronsard et al. 2022).
Die Argumentation, dass es einen Zusammenhang zwischen abweichendem Verhalten und marginalisiertem Sozialraum geben könnte, existiert auch in Bezug auf Neosalafismus. Die Ergebnisse zeigen, dass von Armut betroffene Gemeinden und Stadtteile ein erhöhtes Risiko für Radikalisierung und Extremismus im Allgemeinen aufweisen können (Borum 2014; Deuchar 2018; Fischer 2015; Schuurman et al. 2018; Wiktorowicz 2007). Ähnlich wie in Bezug auf Jugendkriminalität werden auch hier Arbeitslosigkeit, Armut, Diskriminierung und soziale Isolation zur Erklärung neosalafistischer Radikalisierungsprozesse ausgemacht. Auf diese Weise kristallisiert sich der im Kern zu beforschende „crime-terror nexus“ als eine Wissenskultur, die besondere Vorsicht bei der Deutung des empirischen Materials fordert, damit Jugendkriminalität, marginalisierter Wohnraum und Neosalafismus nicht in ein tautologisches Erklärungsmuster zueinander gesetzt werden. Schließlich setzt sich auch hier ein anwendungsbezogener Ansatz durch, der weniger offen nach dem Zusammenhang zwischen Raum, Neosalafismus und Kriminalität fragt, sondern vielmehr beleuchtet, was es bereits an Präventionsmaßnahmen gibt, welche anderen wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu existieren und was weiterführend präventiv im Raum implementiert werden kann (siehe z. B. Behn et al. 2022).
Auch in Bezug auf die Themengebiete Jugend, Neosalafismus und marginalisierter Sozialraum stammen die wenigen ethnographisch orientierten Arbeiten zu Jugend,[10] Neosalafismus und marginalisiertem Raum überwiegend von männlich-positionierten Personen (Kurtenbach 2021; Kurtenbach/Zick 2021; Kurtenbach et al. 2019; Weitzel et al. 2022). Dies gilt auch für die zentralen europäischen Arbeiten, die zum „crime-terror nexus“ mit einem qualitativ und/oder ethnografischen Ansatz forschen (Linge et al. 2022; Sandberg et al. 2023; Tutenges/Sandberg 2022).
Parallel zu den weiterhin ätiologisch formierten Wissenskulturen zu Neosalafismus entsteht eine Literatur, die sich kritisch mit dem Radikalisierungsparadigma, ethischen (Forschungs‑)Fragen und dem Sicherheitsparadigma auseinandersetzt (Eppert et al. 2020; Jakob et al. 2023; Jukschat/Leimbach 2020; Leimbach 2022; Schmidt-Kleinert 2018; Wehrheim 2018; Zabel 2018). Die Zunahme kritischer Auseinandersetzungen ermöglicht es schließlich, eine Form von kommunikativer Anschlussfähigkeit zu erzeugen. So bleibt die Hegemonie ätiologischer, anwendungsorientierter und oft dramatisierender Forschungen zwar bestehen, alternative Forschungsansätze werden jedoch zunehmend legitimer.
4.3. Synthese und eine thematische Erweiterung: Der Blick auf junge Frauen und die digitalen Interaktionen
Mit diesem kurzen Einblick in die Forschungen zu Jugenddelinquenz, Neosalafismus und marginalisiertem Sozialraum und den wissenschaftlichen Entwicklungslinien sollte deutlich geworden sein, dass sich bestimmte Wissenskulturen herauskristallisieren, bei denen eine Akkumulation sozialer Probleme als Erklärungsmuster sowohl für Jugenddelinquenz als auch für Neosalafismus verwendet wird, die tendenziell das abweichende männliche und prekär lebende jugendliche Individuum in den Vordergrund stellen. Die herkömmliche Forschung zu Jugenddelinquenz und zum Neosalafismus betrachtet fast ausschließlich junge Männer mit geringem ökonomischem und kulturellem Kapital. Sowohl (junge) Männer und ihre soziale Abweichung als auch Jene mit geringen Ressourcen und prekären Lebensumständen werden insbesondere in der Kriminologie häufig fokussiert (Leimbach im Druck). Wir glauben, dass die Gefahr eines Projekts zu „Interaktionen von neosalafistischen, delinquenten und nicht-delinquenten Jugendlichen in marginalisierten Stadtgebieten“ darin liegt, dass etablierte Wissensbestände in diesem Feld reproduziert werden könnten, wenn wir sie nicht direkt im Feldzugang berücksichtigen. Dies bedeutet zum Beispiel, dass das Projekt nun auch gezielt junge Frauen und ihre Lebensumstände in Bezug auf die Forschungsthemen des Projekts adressiert. So existieren kaum Studien zu Jugenddelinquenz bei jungen Frauen (siehe hierzu Silkenbeumer 2010), ebenso wenig wie zu Neosalafismus und jungen Frauen. Es wurden zwar im internationalen Raum Radikalisierungsprozesse bei jungen Frauen mit Blick auf ihre Rolle im Dschihad und in terroristischen Vereinigungen untersucht (Gill et al. 2017; Kruglanski et al. 2014; Shapiro/Maras 2018), jedoch existieren solche Untersuchungen kaum im deutschsprachigen Raum. Eine Ausnahme etwa bildet eine politikwissenschaftliche Studie, die weibliche Islamistinnen beabsichtigt als politische und feministische Aktivistinnen versteht und analysiert (Salah 2019). Üblicherweise werden Frauen in Bezug auf Salafismus als Überträgerinnen normativer Vorstellungen und Werteorientierungen gegenüber ihren Familien thematisiert (z. B. Fritzsche/Puneßen 2017). Da sie vermehrt in der Erziehungsarbeit und Betreuung von Konvertiten tätig sind, würden sie eine Art Brückenfunktion zwischen der muslimischen Community und der salafistischen Szene bilden. Was bereits aus der Forschung zu Delinquenz im Allgemeinen und Rechtsextremismus im Speziellen bekannt ist, kann also auch in der singulären Betrachtung von Neosalafismus und jungen Frauen beobachtet werden, dass, wenn (junge) Frauen in Bezug auf abweichendes Verhalten thematisiert werden, dann ausschließlich über ihre Rolle als Mutter, Partnerin oder Familienangehörige (Neuber 2016; Sigl 2018, 53 ff.). Indem Mädchen und junge Frauen also in der Forschung entweder über ihre Mitläuferinnenschaft oder emotionale Involviertheit thematisiert werden, wird ihnen zugleich ihre politische Bedeutung abgesprochen (Fritzsche 2018). Das zeigt sich auch sehr eindrucksvoll in den Arbeiten von Eppert und Roth (2021), die sich der Thematik weiblicher IS-Straftäterinnen vor Gericht widmen.
Das Projektvorhaben wird deshalb um den Blick auf weibliche Akteurinnen neosalafistischer und delinquenter Milieus erweitert. Darüber hinaus werden wir den Blick ebenfalls auf das digitale Leben der jugendlichen Gruppen richten. Denn wie schon länger in der Forschung bekannt ist, lassen sich analoges und digitales Leben von Jugendlichen kaum mehr voneinander trennen (siehe z. B. Vogelsang 2010). Wir planen dafür teilnehmende Beobachtungen auf Social Media und in verschiedenen Online-Foren, in denen islamistische Missionierungsarbeit (da´wa) stattfindet, weil sich auch der digitale Raum innerhalb von Hinwendungsprozessen zu extremistischen Gruppierungen als wichtiger, mit dem analogen Leben koexistierender und damit durchaus bedeutender (Radikalisierungs-)Raum erwiesen hat (Reinke de Buitrago 2022).[11] Hierbei orientieren wir uns an der Arbeit von Malli (2021), der Subjektpositionen muslimischer Weiblichkeit im Netz aus poststrukturalistischer Perspektive untersuchte und dies eben nicht mit klassischen Radikalisierungstheorien zusammenbrachte.
5. Strategien und Schlussbemerkung
Wir haben in diesem Artikel einen theoretischen Bezugsrahmen mit der Verschränkung wissenssoziologischer und problemsoziologischer Annahmen erarbeitet und diesen auf die eigenen Vorannahmen und das geplante Projektvorhaben angewendet, indem wir den Forschungsstand als spezifische wissenskulturelle Konstruktionen und Formierungen rekonstruiert haben. Wie eingangs erwähnt, gehen wir mit diesem Artikel das Risiko einer Momentaufnahme ein, die im frühesten Stadium eines Projekts erfolgen kann. Einer abduktiven Forschungslogik folgend, werden in den nächsten Jahren weitere Erkenntnisse über die „wechselseitigen Verstrickungen“ (Bereswill/Rieker 2008a) hinzukommen und damit auch neue theoretische und methodische Strategien entwickelt werden. Zum jetzigen Zeitpunkt wenden wir folgende Strategien an:
- Die Anerkennung der eigenen Verstrickungen in Problematisierungen und Konstruktionsprozessen, die sich wiederum auf (implizite) Vorannahmen zurückführen lassen und zu Beginn des Projekts systematisch rekonstruiert werden. Der Anstoß zu diesem selbstkritischen Umgang mit stabilisierenden diskursiven Konstruktionen der zu untersuchenden Phänomene lässt sich eher aus methodischen Debatten ziehen als aus phänomenologisch-deskriptiven Studien.
- Das Zusammentragen des Forschungsstands als Wissenskultur mit spezifischen diskursiven Formierungen, die wir bewusst zu irritieren versuchen.
- Die gezielte methodisch-geleitete Irritation (Bereswill/Rieker 2008b) hegemonialer Forschungsperspektiven im Rahmen der (selbstverständlich vorhandenen) institutionellen Zwänge voll auszuschöpfen. Dies bedeutete in unserem Fall die zunächst geplanten Untersuchungsorte, die an dieser Stelle nicht genannt werden – um einer weiteren diskursiven Problematisierung entgegenzuwirken –, zu ändern. Diese Entscheidung wurde während des ersten Feldaufenthalts getroffen, als erkennbar wurde, dass mehrere Forschungsprojekte zugleich mit ähnlichen Zielen am gleichen Ort forschten, und aufgrund der Tatsache, dass Akteur*innen vor Ort sich bereits über einen Schwall an Anfragen für Mitwirkungen in Forschungsprojekten beschwerten. Auch die Entscheidung, die neuen Forschungsorte nicht in Publikationen zu nennen und anonym zu halten, wird zum einen getroffen, um die teilnehmenden Jugendlichen vor der Strafverfolgung zu schützen, und zum anderen, um die Orte nicht als weiter „problematisch“ zu markieren.[12] Die Änderung der Orte für die Durchführung der Feldforschung ist kohärent mit der Entscheidung, gezielt junge Frauen und Mädchen in das Sample mit aufzunehmen, und lässt sich als Strategie der Irritation beschreiben. Diese Strategie wurde auch von Bereswill und Rieker (2008b) vorgeschlagen und schlägt eine stärkere Stellung der Empirie als Irritationskriterium für die soziologische Theoriebildung vor. Die Autor*innen beziehen sich ebenfalls auf die qualitative Sozialforschung als Heuristik für die offenen Prozesse der empirischen Forschung.
- Die Projektanlage ist außerdem von der Ethikkommission der Universität Bielefeld begutachtet worden. Zahlreiche Hinweise auf den Datenschutz und den Schutz der Befragten vor der Strafverfolgung oder möglichen Retraumatisierungen durch Befragungssituationen wurden detailliert umgesetzt. Der Prüfungsprozess durch die Ethikkommission wird bereits in einem reflexiven Sinne analytisch relevant,[13] wenn etwa bestimmte Gruppen als besonders vulnerabel markiert werden oder die Auflage, die Einwilligungserklärungen in besonders einfacher Sprache zu verfassen, einen Rückschluss auf Vorannahmen zulässt, dass die Teilnehmenden in besonderer Weise bildungsfern leben würden.
- Generell ist uns wichtig, die Forschungssituation nicht allein auf die konkrete Interviewsituation oder die ethnografische Beobachtung zu kondensieren, sondern bereits die Kommunikation mit Gatekeeper*innen, Auflagen durch Städteverwaltungen, Anfragen des Verfassungsschutzes etc. als Eigentümlichkeiten der Forschungssituation zu begreifen und zu analysieren (Clarke 2012; May/Müller 2023). Diese methodologische Forschungsstrategie kombinieren wir mit der tiefenhermeneutischen Tradition, indem die Subjektivität der Forschenden, methodisch reflektiert, als zusätzliches Erkenntnisinstrument eingesetzt wird (Haubl/Lohl 2020).
Die Aufarbeitung des Forschungsstandes diente der Herausarbeitung zentraler wissenschaftlicher Problematisierungsmuster, die wir durch spezifische thematische Öffnungen unter Bezugnahme auf das qualitative Paradigma analytisch berücksichtigen wollen. Denn wie in der Einleitung beschrieben, geht es uns auch darum, den Einfluss dieser wissenschaftlichen Problemdiskurse zu Jugenddelinquenz und Neosalafismus auf unsere Forschungspraxis kritisch zu hinterfragen. Dieses Vorgehen rahmen wir nicht nur als eine analytisch-reflexive, sondern auch als eine forschungsethische Haltung. So stellen sich in diesem Forschungsbereich mitunter herausforderndere ethische und datenschutzrechtliche Fragen im Umgang mit Jugendlichen, die Gefahr laufen, im Rahmen eines solchen Projekts auf verschiedene Weise stigmatisiert zu werden. Wie schon Faria (2023) bemerkte, ist eine forschungsethische Haltung jedoch kein einmaliges Maß, das an die Vorgehensweise des Projekts angelegt werden könnte, sondern vielmehr ein stetiger Prozess des Umdenkens, Verwerfens und Neugestaltens.
Die ersten Feldkontakte geben bereits Hinweise darauf, dass die Thematik von Jugenddelinquenz und Neosalafismus mit hoher Sensibilität aufgenommen wird.[14] Solche Kontaktierungen für Interviews und Feldbeobachtungen machen deutlich, dass die Sorge vor Stigmatisierungen durch unsere Forschungspraxis groß ist. Diese Erfahrungen können im Sinne einer analytischen Reflexivität gewendet werden, symbolisieren sie doch Bewusstseinswissen in der Fachpraxis für multiple Stigmatisierungsprozesse und deren Folgen für die Jugendlichen. Eine Sensibilisierung des Forschungsvorgehens durch eine stringent qualitativ-interpretative Forschungshaltung und die sozialtheoretischen Annahmen der Wissens- und Problemsoziologie legen die zentralen diskursiven Verstrickungen durch das Wissen um den Forschungsstand offen. So können bereits die zentralen Annahmen wissenschaftlicher Beschäftigungen mit der Thematik bestimmte Problematisierungspraktiken aufzeigen. Ein solcher Umgang setzt ein reflexiv anspruchsvolles Denken voraus und kann nur eingehalten werden, wenn das Prinzip der Offenheit aus der qualitativen Sozialforschung praktisch angewendet wird. Diese praktische Anwendung beinhaltet ein gezieltes Hinterfragen bestehender Forschungsperspektiven, wenn etwa überwiegend männliche Jugendliche und ihre analogen Lebenswelten betrachtet werden.
Im Rahmen von qualitativen Forschungsvorhaben stellt sich immer wieder die Frage, wie eine reflexive Forschungshaltung umgesetzt werden und wie diese dann analytische Relevanz entfalten kann. Wir wollen mit diesem Artikel Einblicke in den frühen Prozess eines DFG-geförderten Forschungsvorhabens geben und damit erste konzeptuelle und methodische Überlegungen transparent machen. Dadurch erhoffen wir uns eine Diskussion, die die eigene Involvierung in der Erzeugung bestimmter Problemdiskurse sowie forschungsethischer Überlegungen nicht erst nach Abschluss eines Projekts nach Außen kommuniziert.
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[1] Für die hilfreichen Hinweise wollen wir uns bei den Gutachter*innen sowie den beiden Herausgebern des Hefts bedanken. Für die konkrete Hilfe am formalen Text wollen wir uns bei Annika Walter bedanken.
[2] Der Beitrag schließt damit an eine generelle Debatte der konstruktivistischen Problemsoziologie an: Seit Woolgar und Pawluch im Jahr 1985 konstruktivistische Problemstudien mit dem Vorwurf des „ontological gerrymanderings“ konfrontierten, entbrannte eine Debatte um das konstruktivistische Verhältnis zwischen Theorie und Empirie. Statuierten Woolgar und Pawluch doch, dass konstruktivistisch-empirische Studien willkürlich entscheiden würden, was sie als konstruiert und was sie als soziale Tatsache konstatieren. Zusätzlich legten sie schmerzlich offen, dass Forscher*innen durch ihre Forschung selbst an Prozessen des „claims-making“ (Puddephatt 2022) und damit der Konstruktion von sozialen Problemen beteiligt sind. Im Vordergrund dieses Beitrags soll es um eine forschungspraktische Umgangsweise mit eben jenen „theoretischen“ Problemen gehen, weshalb an dieser Stelle lediglich auf den Ursprung dieser Diskussion verwiesen sein soll.
[3] Hiermit nehmen wir Bezug auf das Plädoyer von Wehrheim (2018), in dem er Forschungen, die durch Sicherheitslogiken begleitet werden, eine generelle Absage erteilt. Mit Sicherheitslogik ist im weiteren Sinne gemeint, dass Forschungen zu abweichenden Verhalten sich dem ätiologischen Diskurs und dem damit einhergehenden Verhinderungsimperativ nicht entziehen können.
[4] WDA ist die Abkürzung für Wissenssoziologische Diskursanalyse und geht auf das Forschungsprogramm von Keller (2011) zurück.
[5] Im Rahmen des Projektes erfolgt also eine Auseinandersetzung mit Wissen, Erfahrung und Differenz, wie sie bisher vor allem aus postmodern-feministischen Ansätzen bekannt ist (Lather 2017; Lather/St. Pierre 2013).
[6] Wir beziehen uns hier überwiegend auf die deutsche Forschungslandschaft und geben nur singulär Einblicke in internationale Debatten.
[7] In einer anderen Publikation unter Bezug auf das „doing social problems“-Konzept (Groenemeyer 2014) haben Leimbach und Jukschat (2023) deshalb auch von der Strategie des „undoing“, als ein wichtiges Element von Problematisierungsprozessen geschrieben.
[8] Nachzulesen bei Niermann (2020).
[9] Zu dieser Thematik sind insbesondere die Arbeiten von De Koning (2020, 2022, 2023) aus den Niederlanden zu empfehlen.
[10] Es wird von „ethnographisch-orientiert“ gesprochen, da es sich teilweise um weniger klassische Ansätze einer induktiv und abduktiv arbeitenden Ethnographie handelt.
[11] Der Blick auf die Verwobenheiten analoger und digitaler jugendlicher Lebenswelten wird eingehend im Rahmen des Dissertationsvorhabens von Mareike Wilke adressiert.
[12] Zum Zeitpunkt der Überarbeitungen des Artikels sind die Feldforschungen bereits in einem fortgeschrittenen Stadium. Deshalb lässt sich zu diesem Zeitpunkt konstatieren, dass insbesondere diese Entscheidungen zu einer positiven Resonanz bei allen beteiligten Akteur*innen im Feld führten. Wir konnten dadurch Feldzugänge eröffnen, die uns sonst verschlossen geblieben wären.
[13] Von Unger et al. (2016) positionieren sich kritisch zur Bedeutungszunahme von Ethikkommissionen, die sich selten mit den Besonderheiten der qualitativen Sozialforschung auskennen und Auflagen vergeben, die den Prinzipien interpretativer Sozialforschung zuwiderlaufen. In unserem Fall erhofften wir uns restriktive Auflagen, die den Datenschutz und das Teilen sowie Archivieren dieser Daten betreffen. Die Ethikkommission wurde über die Beschlagnahmung von Interviewdaten in einem anderen Projekt informiert. Zusammen mit der Kommission und den Datenschutzbeauftragten der Universität konnte so ein restriktives Konzept erarbeitet werden, welches bereits vorgibt, keine oder kaum persönliche Daten überhaupt erst zu erheben. So werden keine Namen und Orte in die Beobachtungsprotokolle aufgenommen, die Einwilligungserklärungen für Interviews werden mit Namen unterschrieben, die sich die Forschungssubjekte selbst aussuchen.
[14] Tietje (2023) schlägt zum Beispiel zusätzlich vor, dass ungleichen Machtverhältnissen zu begegnen ist, indem invisibilisierte Wissensproduktionen in den Fokus zu rücken sind – auch dann, wenn es bedeutet, dass es für die Forscher*innen zu unbequemen Situationen kommt, weil sie möglicherweise unkonventionelle Wege begehen. Es reiche eben nicht, zu konstatieren, dass es hegemoniale Wissenskulturen gibt und diese losgekoppelt zu bestimmen sind.
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