EDITORIAL: DELINQUENZ UND SOZIALISATION
Franz Zahradnik und Christian Ghanem
Erklärungsansätze zur Entwicklung delinquenten Verhaltens sind in weiten Teilen Sozialisationstheorien, insofern sie sich mit Prozessen der Anpassung an soziale Norm- und Wertstrukturen beschäftigen. Sie richten aber typischerweise den Fokus nicht auf solche Sozialisationsverläufe, die gemeinhin als gelungen klassifiziert werden, weil es sich um eine weitgehende Anpassung an die Normen und Werte der Mehrheitsgesellschaft handeln würde. Vielmehr gilt ihr Interesse vor allem Fragen danach, wie Abweichungen von diesen gesellschaftlichen Normalitäts- und Ordnungsvorstellungen entstehen und wie sie sich bis hin zu kriminellen Karrieren auswachsen. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen dabei zumeist vor allem Jugendliche, insbesondere junge Männer. Die Lebensphase Jugend gilt aufgrund ihres Krisen- und Umbruchcharakters als Zeit der Widerständigkeit (Bereswill et al. 2008; King 2013). In gewisser Weise wird mittlerweile sogar akzeptiert, dass Jugendliche gesetzliche Grenzen – zumindest in gewissem Maße – ausreizen und übertreten, was begrifflich unter Ubiquität jugendlicher Delinquenz gefasst wird (Dollinger/Schabdach 2013). Allerdings hat sich gezeigt, dass sich die strafrechtlichen Reaktionen je nach sozialer Herkunft deutlich unterscheiden. Delinquenz ist – darauf haben die Vertreter:innen des Etikettierungsansatzes mit Nachdruck hingewiesen – kein objektiv feststellbarer Sachverhalt, sondern immer auch Ergebnis von Zuschreibungsprozessen in von sozialen Ungleichheiten geprägten Gesellschaftsstrukturen (Peters 2002). Inwiefern eine Person solche Fremdzuschreibungen internalisiert und sich irgendwann gegebenenfalls selbst als delinquent begreift, steht demnach mit der Persistenz solcher Negativklassifizierungen in Zusammenhang, wird aber auch gestützt durch den anerkennenden Rückhalt in sozialen Kontexten mit alternativen Norm- und Werthaltungen (Schlepper/Wehrheim 2017). Sozialisation lässt sich dann weiter als Gemisch kontextspezifischer Lernprozesse verstehen, die sich dynamisch über den Lebensverlauf entwickeln. Sie können sich in unterschiedlichem Ausmaß und wechselnder Weise im Bereich gesellschaftlich definierter Normalität oder Abweichung vollziehen.
Delinquenz und Sozialisation sind demnach wechselseitig aufeinander bezogen und die Autor:innen in diesem Heft beleuchten je spezifische Aspekte dieses Zusammenhangs aus empirischer, theoretischer und ethischer Perspektive. Ein Fokus liegt dabei auf unterschiedlichen Bearbeitungsweisen von Abweichung in Institutionen.
Der erste Beitrag von Nina Oelkers und Annika Gaßmöller nimmt stationäre Erziehungshilfen als Instanz sozialisierender Delinquenzbearbeitung in den Blick. Die beiden Autorinnen geben eine grundlegende Einführung in zentrale Begrifflichkeiten für das Themenheft und setzen Delinquenz, Devianz und Sozialisation ins Verhältnis. Dabei werden Widersprüchlichkeiten stationärer Erziehungshilfen als kompensatorische Sozialisationsinstanz aufgezeigt, die einerseits aufgefordert sind Normen zu verdeutlichen und andererseits Sanktionierungen und folglich sekundäre Devianz zu vermeiden.
Evelyn Heynen geht in ihrem Beitrag von empirischen Erkenntnissen aus, wonach Probleme in der moralischen und emotionalen Entwicklung mit abweichendem Verhalten von Jugendlichen in Verbindung stehen. Die Fragen, ob die auf dieser Grundannahme entwickelten Interventionen tatsächlich moralisches Urteilsvermögen fördern und Strafrückfälligkeit vermindern können, werden mit zwei metaanalytischen Untersuchungen beantwortet. Dabei zeigen sich zwar durchaus förderliche Effekte auf die Moral der Jugendlichen, wobei keine signifikante Wirkung auf zukünftige Delinquenz gefunden werden konnte.
Der dritte Beitrag beschäftigt sich mit der professionellen Bearbeitung islamistischer Radikalisierung. Eike Bösing, Yannick von Lautz, Margit Stein und Mehmet Kart präsentieren eine dokumentarische Rekonstruktion der Handlungspraxen von Fachkräften der Präventions- und Ausstiegsarbeit. Dabei arbeiten sie zwei Orientierungstypen heraus, die nicht nur differierende Handlungslogiken widerspiegeln, sondern auch unterschiedliche Zuschreibungen an Sozialisationsinstanzen mit sich bringen.
Katharina Leimbach und Mareike Wilke laden mit ihrem Beitrag Wissenschaftler:innen zu einer Diskussion über die eigene Involvierung und Erzeugung bestimmter Problemdiskurse ein. Auf Grundlage eines aktuellen Forschungsprojektes skizzieren sie zunächst Wissenskulturen zu Jugenddelinquenz, Neosalafismus sowie marginalisiertem Sozialraum, und fragen selbstkritisch inwiefern spezifische Problematisierungen bereits in der Anlage aber auch im weiteren Verlauf der Forschung sichtbar werden. Die Autorinnen skizzieren ein wissenssoziologisch inspiriertes Konzept, um die wissenschaftliche Beteiligung an Problemdiskursen konzeptionell zu verankern.
Neben den Beiträgen zum Themenschwerpunkt enthält das Heft noch zwei freie wissenschaftliche Beiträge. Im ersten Beitrag gibt Robert Pham Xuan einen Einblick in ein qualitativ-rekonstruktives Forschungsprojekt, in dem der Schüler:innenhabitus im Fokus steht. Auf Grundlage von Fallportraits ehemaliger Mittelschüler:innen aus Familien ohne höheren Bildungsabschluss, die einen Übertritt in eine allgemeinbildende Oberstufe erlebten, arbeitet der Autor habituelle Passungsprobleme heraus. Dabei wird insbesondere das dynamische Zusammenspiel zwischen institutionellen Normalitätserwartungen, schulbezogenen Verhaltensweisen der Schüler:innen und entsprechenden Exklusionsrisiken in den Blick genommen.
Auch Marina Ginal beschäftigt sich mit Habitus, indem sie Feld-Habitus-Differenzen von Erstakademikerinnen während des Habilitationsverlaufs in der Medizin untersucht. Durch einen Vergleich mit Habilitandinnen aus akademischen Elternhäusern zeigt sie spezifische Passungsanforderungen auf, die mit Abhängigkeiten und erhöhten emotionalen Kosten einhergehen.
Herzlich bedanken möchten wir uns bei den Gutachter:innen der einzelnen Beiträge, deren Expertise für die Erstellung dieses Heftes entscheidend war. Darüber hinaus haben noch weitere Personen in unterschiedlichen Stadien der Konzeption und Erstellung des Heftes mitgewirkt. Danken möchten wir insbesondere Daniel Werner für das sorgfältige Lektorat sowie Livia Arpagaus für die tatkräftige Unterstützung während des gesamten Produktionsprozesses.
Wir hoffen, Ihnen mit dieser Ausgabe spannende Einblicke in aktuelle Forschungen zum Themenfeld „Delinquenz und Sozialisation“ zu ermöglichen und wünschen eine anregende Lektüre.
Literatur
Bereswill, Mechthild/Koesling, Almut/Neuber, Anke (2008): Umwege in Arbeit. Die Bedeutung von Tätigkeit in den Biographien junger Männer mit Hafterfahrung. Baden-Baden: Nomos.
Dollinger, Bernd/Schabdach, Michael (2013): Jugendkriminalität. Wiesbaden: Springer.
King, Vera (2013): Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Wiesbaden: Springer.
Peters, Helge (2002): Soziale Probleme und soziale Kontrolle. Wiesbaden: Springer.
Schlepper, Christina/Wehrheim, Jan (Hrsg.) (2017): Schlüsselwerke der Kritischen Kriminologie. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
Copyright (c) 2023 Franz Zahradnik , Christian Ghanem
Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International.