EDITORIAL: „ONCE MORE, WITH FEELING“ – (ANTI-)EMANZIPATORISCHES TRANSFORMATIONSPOTENTIAL VON GEFÜHLEN

Flora Petrik, Jessica Lütgens, Alina Brehm

Emotionen haben aktuell Konjunktur. In gegenwärtigen sozial- und geisteswissenschaftlichen Debatten erfahren Gefühle verstärkt Beachtung (vgl. Beitl/Schneider 2013; von Scheve/Berg 2018; Kappelhoff et al. 2019), insbesondere hinsichtlich ihres Einflusses auf gesellschaftliche Entwicklungen, soziale Bewegungen sowie politisches Denken und Handeln (vgl. Heidenreich/Schaal 2012; Kleres/Wettergren 2017; Slaby 2017; Pitti 2018; Besand et al. 2019; Churcher et al. 2022; Nohl 2022). Im Kontext dieser als emotional bzw. affective turn etikettierten Wende (vgl. Clough/Halley 2007; Gregg/Seigworth 2010; Reckwitz 2016) begreifen Forschende Gefühle zunehmend als zentrale Dimension individueller sowie gesellschaftlicher Triebkräfte, richten Methoden und Theorien neu aus und spüren auf diese Weise (wieder) der komplexen Gemengelage von Emotionen und sozialen Praktiken nach. In diesem Zusammenhang rücken auch vernachlässigte Theorietraditionen, wie beispielsweise jene der Psychoanalyse (vgl. Döll-Hentschker 2008) oder der Phänomenologie (vgl. Kosofsky Sedgwick 2003), in den Vordergrund. Gefühle sind demnach nicht rein individuelle Widerfahrnisse oder ein Residuum der Natur, sondern gesellschaftlich geformt und gerichtet.

Für das Verstehen gegenwärtiger Transformationen erscheint auch uns als Herausgeberinnen des Themenhefts ein Wechsel der Blickrichtung auf emotionales Geschehen unerlässlich: In Zeiten globaler Krisen und Unsicherheiten sinken die Zustimmungswerte bezüglich Demokratie, menschenfeindliche Ideologien und Diskriminierung nehmen zu und rechtspopulistische bis rechtsextreme Parteien gewinnen mit sozialchauvinistischen Vorstößen Wähler*innenstimmen (vgl. Berlet 2005; Küpper/Zick 2008; Zick/Klein 2014; Decker et al. 2022; Zick et al. 2023). Die Reaktionen auf die COVID-19-Pandemie (vgl. Lading/Salling Olesen 2022) sowie die damit verbundenen Verschwörungsmythen (vgl. Hentschel 2021) und der Sturm auf das US-Kapitol im Jahr 2021 (vgl. Joosse/Zelinsky 2022) verdeutlichen eindrücklich, wie mit Gefühlen Politik gemacht wird. Auch der antisemitische und rassistische Nachhall des Terrorangriffs auf Israel durch die Hamas vom 07. Oktober 2023 unterstreicht diese Beobachtung. Dass entgegen einer möglichen Verfügbarkeit besseren Wissens gefühlten Wahrheiten Mobilisierungspotential innewohnt, wurde mehrfach vor dem Hintergrund medialer Falschmeldungen zum Kriegsgeschehen in Gaza sichtbar. Mit Blick auf diese aktuellen, affektiv aufgeladenen politischen Ereignisse gewinnt die Frage nach undemokratischen und antiemanzipatorischen Entwicklungen und den Möglichkeiten solidarischen Gegensteuerns an Dringlichkeit. Denn umgekehrt können Krisenerfahrungen auch Solidaritätsgefühle, emanzipatorisches Handeln und politisches Engagement für andere auslösen (vgl. Dixon et al. 2017; Karakayali 2019), wie das Beispiel der zahlreichen Menschen zeigt, die während des sogenannten „Sommers der Migration“ in Deutschland im Jahr 2015 Geflüchteten Unterstützung anboten. Auch die aktuelle generationenübergreifende Solidarität, die junge wie alte Menschen angesichts der drohenden Klimakatastrophe auf die Straßen treibt, verweist auf das solidarische Potenzial von Gefühlen.

Dass weder Wahlentscheidungen noch politischer Aktivismus oder moralische Urteilsbildung rein kognitiver Natur sind, sondern zu einem erheblichen Teil biografisch, sozialisatorisch und affektiv geprägt, wurde an vielen Stellen einsichtsreich diskutiert (vgl. Bäckström/Björklund 2007; Crigler/Hevron 2017; Lütgens 2021). Obgleich einschlägige Studien der vergangenen Jahre aufzeigen, dass sich mit den schlüssigeren, „besseren“ Argumenten nur selten in ihrem Weltbild gefestigte Personen umstimmen oder gar Wahlen gewinnen lassen (vgl. Decker et al. 2016; Köbel 2018), wurde die Relevanz von Emotionen für politisches Denken und Handeln lange unterschätzt – auch von politischen Entscheidungsträger*innen selbst (vgl. Schröder 2017). In Deutschland haben diese Berührungsängste historisch gewachsene Gründe, da eine Vermengung der Sphären Politik und Gefühle nur allzu sehr an die emotionale Mobilisierung der Massen im Nationalsozialismus erinnert sowie den stark verankerten Wunsch nach einer sachlich-rationalen Expertokratie bedroht. In der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Gefühlen und Politik werden Emotionen daher in gesellschaftlichen Debatten ebenso wie in der Wissenschaft zumeist negativ betrachtet, etwa in der Sozialfigur des rechten „Wutbürgers“. Auch das Phänomen des Populismus gerät in diesem Zusammenhang wieder in den Blick: Demagogische Mobilisierung rührt gezielt und systematisch an den Ängsten und dem Zorn der Menschen (vgl. Adorno 1970; Bröckling 2016; Hochschild 2016). Das Potenzial von Hoffnung oder Empathie für biografische oder kollektive Transformation ist hingegen bis dato wenig ausgeleuchtet (vgl. Marschelke/Simmermacher 2022). Befunde zur Relationalität von politischem Handeln, Gefühlen und Solidarität erfahren jedoch aktuell unter dem Schlagwort „affective solidarity“ (Hemmings 2012) zunehmende Aufmerksamkeit (z. B. Peters 2022).

So zutreffend es also ist, dass Emotionen als Katalysator individueller und gesellschaftlicher Veränderungen wirken, so verengt ist eine Fokussierung auf anti-emanzipatorische, autoritäre Effekte von Gefühlen. Mit diesem Themenheft in der Zeitschrift GISo wollen wir einen Beitrag dazu leisten, den Blick auf Emotionen im Kontext von (Anti-)Emanzipation und Transformation zu erweitern. Unter Emanzipation verstehen wir dabei „eine soziale und gesellschaftlich situierte Praxis, die Ermächtigung vorantreibt“ und „scheinbar natürliche Ordnungen in Frage stellt“ (Petrik 2023, 137). Wir fragen: Wie kann die Perspektive auf Emotionen dazu beitragen, individuelle und gesellschaftliche Veränderungs- wie auch Verharrungstendenzen besser zu verstehen? Unter welchen Bedingungen wirken Emotionen emanzipatorisch, unter welchen nicht? Warum sind einige anfälliger als andere für autoritäre Verheißungen? Welches Arrangement aus Affekten/Emotionen/Gefühlen,[1] Akteur*innen und Praktiken ermöglicht oder verunmöglicht Emanzipation? Welche Konzepte, Begriffe und Methoden sind geeignet, um das Zusammenspiel von Emotionalem, Biografischem und Politischem zu erfassen? Und was lässt sich über das Forschen mit und zu Gefühlen lernen?

Die Fragen, die das vorliegende Themenhaft rahmen, gehen auf eine dreitägige interdisziplinäre Tagung zurück, welche im November 2022 an der Universität Tübingen stattfand (zum Tagungsbericht vgl. Folusewytsch/Weller [2023]). Anlass für die Veranstaltung war der Befund, dass eine empirisch und konzeptuell fundierte Diskussion zum Verhältnis von Emotionen, Transformation und (Anti-)Emanzipation, insbesondere in Bezug auf Politik,[2] bisher aussteht. Aufbauend auf den Diskussionen der Tagung möchten wir als Herausgeberinnen dieses Themenhefts mit dem Titel „‚Once more, with feeling‘ – (Anti-)emanzipatorisches Transformationspotential von Gefühlen“ den Blick für die ambivalenten Relationen dieser Sphären aus einer interdisziplinären Perspektive öffnen. Um an gegenwärtige Debatten und ihre Lücken anzuschließen und zum Dialog einzuladen, versammeln wir Beiträge aus der (politischen) Bildungs-, Biografie-, Sozialisations- und Bewegungsforschung, aus der Erziehungswissenschaft, psychoanalytischen Sozialpsychologie, Soziologie und Politdidaktik. In Rückgriff auf theoretisch-konzeptionelle sowie qualitativ-empirische Arbeiten spüren die Autor*innen in ihren Beiträgen der Eingebundenheit von Gefühlen in Biografien, Kollektiven und gesellschaftliche Dynamiken nach und erkunden die spannungsvollen Wirkungsweisen von Affekten.

Bevor wir die Beiträge des Hefts vorstellen, wollen wir drei Beobachtungen zur wissenschaftlichen Betrachtung von Gefühlen im Kontext von (politischer) Transformation und (Anti-)Emanzipation festhalten. Sie bauen auf unseren bisherigen Auseinandersetzungen auf und bilden eine erste, vorläufige Antwort auf die Frage, was sich über das Forschen mit und zu Gefühlen lernen lässt:

Zunächst lässt sich festhalten, dass Emotionen nicht schematisch als emanzipatorisch oder anti-emanzipatorisch zu klassifizieren sind. Sie sind nicht entweder auf Fortschritt und Emanzipation oder auf Regression und Repression gerichtet, sondern entziehen sich einer oppositionellen Logik. Gefühle folgen keinem Mechanismus, der suggerieren würde, das Empfinden von Angst, Wut oder Trauer produziere automatisch autoritäre Selbst-Welt-Verhältnisse – Mitgefühl, Hoffnung und Sorge stiften hingegen solidarisches Handeln. Vielmehr handelt es sich um komplizierte Gemengelagen, denen in ihrer konkreten und situativen Gestalt empirisch nachzuspüren ist. So ist es etwa möglich, dass politische Emanzipationsprozesse von regressiven Affekten begleitet werden (vgl. Milbradt in diesem Themenheft; Lütgens i. E.). Auch finden sich widerstreitende Tendenzen in ein- und dieselbe Gefühlslage eigebunden: Beispielsweise kann das Erleben von Scham nicht nur dazu führen, Autonomie zu beschränken, sondern in spezifischen Konstellationen Handlungsmacht auch erweitern (vgl. Petrik 2022; Ruff in diesem Themenheft); Wut – je nach biografischer Konstellation – kann ermächtigend oder einschränkend wirken (vgl. Lütgens/Petrik in diesem Themenheft). Ein Zuwachs an gesellschaftlicher Sensibilität vermag sowohl soziale Ungerechtigkeiten zu mindern als auch unter bestimmten Bedingungen den Zusammenhalt einer Gesellschaft zu gefährden (vgl. Schröder in diesem Themenheft). Zentral scheint uns dementsprechend die Perspektive darauf, unter welchen Bedingungen Emotionen eher Handlungsmacht und Autonomie fördern und unter welchen sie Möglichkeitsräume und Widerständigkeit einschränken. Der Annahme folgend, dass Emotionen im Kontext gesellschaftlicher Transformationen gegenstands- und kontextbezogen wirken und sich emanzipatorische und antiemanzipatorische Tendenzen durchaus überlagern können, sprechen wir uns für eine Blickverschiebung hin zu der Rekonstruktion von Gefühlen anhand konkreter empirischer Phänomene aus.

Zweitens plädieren wir dafür, das semantische Register zur Erforschung von Gefühlen zu erweitern. Die in der Psychologie verbreitete Setzung eines Grundstocks an Gefühlen, nach welchem im empirischen Material lediglich gesucht wird, erscheint uns den komplexen Forschungsgegenständen kaum gerecht zu werden. Denn Gefühle erweisen sich als wesentlich komplexer und situationsgebundener, als es das Vokabular der „Basisemotionen“ (acht nach Robert Plutchik [1980], sieben nach Paul Ekman [1999], zehn nach Carroll E. Izard [1981] etc.) suggeriert. Wendet man sich von einer derartigen deduktiven Logik der Analyse ab, wird der Blick frei für die explorative Rekonstruktion nuancenreicher Gefühlslagen: beispielsweise Gefühle des Zuhauseseins und des Ankommens, Gefühle der Anerkennung oder Missachtung, Gefühle von Sehnsucht nach Altem oder Neuem (vgl. Lütgens/Petrik in diesem Themenheft). Um jene emotionalen Gestimmtheiten zu beschreiben, bietet es sich zum einen an, auf die Sprache des konkreten Falls bzw. Feldes zurückzugreifen (vgl. Strauss 1998), um das jeweilige Gefühl adäquat zu charakterisieren. Zum anderen schlagen wir vor, auf affektiv-atmosphärisches Vokabular zurückzugreifen. Hier bieten Schlüsselbegriffe aus der Musik (Rhythmus, Klang, Tongeschlecht, hell, dunkel, laut, leise) oder der Beschreibung von Wetter (warm, kalt, mild, glühend, stürmisch, nebelig) instruktive Anschlüsse.[3] Eine entsprechende semantische Erweiterung des Vokabulars korrespondiert mit den Vorschlägen phänomenologischer Arbeiten, die Gefühle als Atmosphären skizzieren, damit ihre leibliche wie auch räumliche Dimension betonen (vgl. Brehm in diesem Themenheft) und sich dabei entsprechender Register bedienen, z. B. weit, eng, nah etc. (vgl. Böhme 1995; Schmitz 1998; Slaby/von Scheve 2019).

Zum dritten schlagen wir eine Erweiterung des Methodensets vor. Um Gefühlen im Zuge von Forschung nachzuspüren sowie die Atmosphären und Stimmungen eines Phänomens, das zumeist in textbasierter Form vorliegt, zum Gegenstand der Analyse zu machen, gilt es das methodische Spektrum auszudifferenzieren. Insbesondere hinsichtlich jener Zugänge, die das subjektive Erleben zentral setzen und stark mit textbasierten Daten arbeiten (z. B. Interviewtranskripte in der Biografieforschung), lässt sich das Primat des narrativen Interviews als Text beobachten. Wir plädieren hierbei keineswegs für eine Abkehr von Narrativität als Zugang zu Emotionen, sondern vielmehr für eine explizite Auseinandersetzung damit, wie sich die Eigenlogik von Gefühlen in die Rekonstruktion von Bedeutung miteinbeziehen lässt – auch über den transkribierten Text hinaus. So könnten in der Analyse von Datenmaterial die vielseitigen emotionalen Dimensionen von Forschungsprozessen berücksichtigt werden, wie das Auftreten starker Affekte in der Erhebungssituation (z. B. eine weinende Interviewpartnerin), die emotionalen „Nachwehen“ nach einem Feldaufenthalt (z. B. Wut über Handeln der Akteur*innen) oder die bei der Interpretation durch Textstellen hervorgerufenen Gefühle (z. B. Solidarisierung mit Studienteilnehmer*innen). Emotionen sind demnach keine reinen Begleiterscheinungen, sondern maßgeblich an der Konstruktion von Forschungsgegenständen und ihrer Untersuchung beteiligt. Mögliche Anleihen zu einer Verfeinerung methodischer Zugriffe lassen sich in ethnografischer Forschung (vgl. Blumenthal 2018; Schroer/Schmitt 2018; Lubrich/Stodulka 2019), autoethnografischen Projekten (vgl. Adams et al. 2020; Brehm 2021) sowie in den Theorietraditionen der Ethnopsychoanalyse (vgl. Reichmayr 2016; Brehm/Langer i. E.) und Tiefenhermeneutik (vgl. Haubl/Lohl 2017; Abd-al-Majeed et al. 2020) finden.

In dem vorliegenden Themenheft werden diese Beobachtungen auf unterschiedliche Weise verhandelt. Zu Beginn nimmt Björn Milbradt aus einer theoretischen Perspektive die Bedeutung scheiternder politischer Sozialisation in den Blick, die er als Leerstelle in der Forschung ausmacht, welche zumeist auf Staatsbürgerschaft und dazugehörige Kompetenzen verenge. Die im Artikel entfalteten „Elemente einer Theorie politischer Sozialisation – Systematik, Reichweite, Leerstellen, Abgründe“ umreißen dabei die Wichtigkeit einer gesellschaftstheoretischen Einbettung vor-politischer Sozialisationsaspekte, individueller Entwicklung, Kognition und Emotion – im Dienste einer empirischen Operationalisierbarkeit und theoretischen Durchdringung ihrer jeweiligen Wechselwirkungen, für die Milbradt nachdrücklich plädiert.

Am Beispiel der Scham verdeutlicht im Anschluss Mai-Britt Ruff in ihrem Beitrag „Scham, Schamabwehr und Beschämung – Ambivalenzen, Herausforderungen und Möglichkeiten im Umgang mit Scham in politischer Bildung“ die Bedeutung von Emotionen in politischen Bildungsprozessen. Hierfür unternimmt sie anknüpfend an eine Studie zum Umgang mit Scham in der kritischen politischen Bildung eine Systematisierung von Scham in symbolischen Gewaltverhältnissen, die in drei Thesen zum Umgang mit dieser ambivalenten Emotion im Kontext politischer Bildung mündet. Laut Ruff besteht erstens die Möglichkeit einer fachwissenschaftlichen und pädagogischen Auseinandersetzung über Scham, zweitens erlaubt die Reflexion anhand von und mit Scham Lernprozesse, und drittens wird die kritische Auseinandersetzung mit der (Re-)Produktion von symbolischen Gewaltverhältnissen durch Scham zur Notwendigkeit.

Nachfolgend zeichnet Alina Brehm auf Basis eines biografisch-narrativen Interviews mit einem jungen Erwachsenen die Zusammenhänge zwischen „Erfahrung, Affekt und Haltung – Über biographische Erfahrungsräume, affektive Haltungen und politische Potentiale“ nach. Die im Interview geschilderten Erfahrungsräume mit ihren sozialisierenden sowie affektiven Eigenschaften und daran anschließende (politische) Handlungspotentiale stehen dabei im Fokus. Die Autorin geht davon aus, dass ein durch biografische Erfahrungen geprägtes Selbst- und Weltverhältnis auf der affektiven Ebene eine je spezifische Ansprechbarkeit nach sich zieht, in der zum Ausdruck kommt, was sie mit dem Arbeitsbegriff der affektiven Haltung bezeichnet. Brehm beschreibt die Spuren, die eben jene Erfahrungsräume über ihre spezifisch gefärbten Atmosphären und sozialen Regeln dabei im (affektiven) Erleben des Interviewpartners hinterlassen. Sie legen Provinzielles, tendenziell Antiemanzipatorisches nahe – erzeugen jedoch auch gegenläufige, urbane Erfahrungen der Ambivalenz und besitzen emanzipatorisches Potential.

Der Rolle von Emotionen im Zusammenspiel von Linksaffinität und Bildungsaufstieg nähern sich im darauffolgenden Beitrag des Hefts Jessica Lütgens und Flora Petrik. In dem Artikel „Linke Bildungsaufsteiger*innen – Zum Zusammenspiel von politischer Sozialisation, Bildungsaspirationen und Emotionen“ arbeiten sie anhand biografisch-narrativer Erzählungen junger Bildungsaufsteiger*innen aus dem linksaffinen Alltagsmilieu heraus, dass und wie Gefühle als Impulsgeberinnen an Bildungsaufstiegs- und politischen Sozialisationsprozessen beteiligt sind. Ebenso wie sie konfliktbehaftet und verhindernd agieren können, vermögen Emotionen, so Lütgens und Petrik, auch als ermöglichende Ressource ihre Wirkung zu entfalten. Über ihre Bedeutung für den biografischen Verlauf entscheiden dabei die Zugänglichkeit ermächtigender Kollektive sowie die Aneignung ideologischer Deutungsangebote.

Als abschließenden Diskussionsbeitrag umkreist Hendrik Kaspar Schröder unter dem Titel „Sensibilität als Katalysator für gesellschaftliche und individuelle Emanzipations- und Transformationsprozesse?“ das Phänomen wachsender gesellschaftlicher Sensibilität. Emanzipatorisch wirke Sensibilität darüber, ungerechte gesellschaftliche Strukturen sichtbar zu machen und letztlich aufbrechen zu können. Die Ungleichzeitigkeit der Sensibilitätsentwicklung verschiedener Gesellschaftsmitglieder gefährde jedoch den Zusammenhalt: Sozialer Ausschluss als Konsequenz des Nichtbeachtens sensibler Maßstäbe habe auch regressives (Konflikt-)Potential. Um dieses abzumildern, betont Schröder die Unumgänglichkeit, Sensibilität nicht nur einzufordern, sondern – gerade in normativen politischen Diskussionen – auch denjenigen entgegenzubringen, deren Sensibilitätsempfinden ein anderes Maß aufweist.

Das Themenheft schließt mit einer Buchbesprechung: Eine Rezension zu dem Sammelband „Politisierung von Jugend“ (Dahmen et al. 2024), verfasst von Ninja Bandow.

Wir bedanken uns herzlich bei den Autor*innen der Ausgabe für ihre erkenntnisstiftenden Texte, bei den Gutachter*innen, die einen entscheidenden Beitrag zur Qualität des Hefts geleistet haben, sowie bei den Herausgeber*innen und dem Lektorat der GISo für die Unterstützung während des Produktionsprozesses. Wir hoffen, mit dem Themenheft einen Beitrag zur Debatte um Emotionen, Transformation und (Anti-)Emanzipation zu leisten, und wünschen eine anregende Lektüre.

Literatur

Abd-Al-Majeed, Raem/Berg, Philipp/Brehm, Alina/Jentsch, Sebastian/Kaufhold, Charlie/Monecke, Matthias/Schwertel, Tamara/Witzel, Hauke (2020): Szene und Affekt. Die Bedeutung der Gruppe in der Tiefenhermeneutik. In: Menschen. Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, 43 (4–5), 25–29.

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[1] Wir greifen auf die Begriffstrias Affekt/Emotion/Gefühl zurück, da in den Beiträgen des Sonderhefts je spezifische Verständnisse dieser Konzepte entfaltet werden. In Korrespondenz mit den jeweiligen sozialtheoretischen Prämissen und entsprechend dem fachlichen Zuschnitt werden in Forschungsarbeiten, so auch hier, unterschiedliche Begriffsbestimmungen aufgerufen. An dieser Stelle muss offenbleiben, was erkenntnistheoretisch auf dem Spiel steht, wenn die Entscheidung für eine spezifische begriffliche Rahmung getroffen wird. Zu der Ambiguität konzeptioneller Perspektiven auf Affekt/Emotion/Gefühl siehe auch Sigrid Schmitz und Sara Ahmed (2014).

[2] Dabei folgen wir Bernhard Claußen (1982) in seinem „weiten“ Politikverständnis, das nicht vorrangig Parteipolitik und institutionalisierte Formen politischen Handelns fokussiert, sondern nach der alltagsweltlichen Gestalt von Politik sowie den „Details, Zusammenhängen und Eingebundenheiten der Entstehung von politischer Identität des Menschen“ fragt (Claußen 1982, 10).

[3] Gegenwärtig lässt sich die Tendenz beobachten, soziale Atmosphären analog zu meteorologischen zu begreifen und sich eben jenes Vokabulars zur Beschreibung von Gefühlen zu bedienen, siehe z. B. die Beiträge des Sammelbands von Sara Schroer und Susanne Schmitt (2018).