SCHAM, SCHAMABWEHR UND BESCHÄMUNG – AMBIVALENZEN, HERAUSFORDERUNGEN UND MÖGLICHKEITEN IM UMGANG MIT SCHAM IN POLITISCHER BILDUNG

Mai-Britt Ruff

1. Einleitung[1]

Der Umgang mit Emotionen in politischen Bildungsprozessen beschäftigt die Fachdebatte der politischen Bildung in Theorie und Praxis (Besand 2014; Chernivsky/Scheuring 2016; Besand et al. 2019; Hölzel/Jugel 2019; Gessner 2020; Schröder 2020; Wiesböck 2021).[2] Während Emotionen disziplinhistorisch lange Zeit als nebensächliche oder zu vermeidende Phänomene markiert bzw. sogar normativ abgelehnt wurden (Hättich 1977; Massing 1997), hat der Diskurs über das Verhältnis von Emotionen und politischer Bildung in den vergangenen Jahren stark an Dynamik zugenommen (Besand 2014). Nicht zuletzt mit dem 14. Bundeskongress der Bundeszentrale für politische Bildung 2019 – zum Thema „Emotionen“ – und der Jahrestagung der Gesellschaft für politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE) 2023 – zum Thema „Emotionen und politische Bildung“ – scheinen Emotionen im Zentrum der Fachdebatte angekommen zu sein. Wie Emotionen politische Urteilsbildungsprozesse beeinflussen, auslösen oder verhindern, wird dabei nicht nur im Kontext politikdidaktischer und lern- bzw. bildungstheoretischer Fragen diskutiert, sondern grenzt gleichermaßen an Debatten um gesellschaftliche Herausforderungen wie Rechtsextremismus, Klimawandel, Politikverdrossenheit und Fake News oder der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus und Kolonialismus (GPJE 2023) an. Im Rahmen dieser gesellschaftlichen Problembestimmungen erscheint das Verhältnis zwischen Emotionen und politischer Bildung einerseits als eines, das schnell verknüpft wird – etwa, wenn es um die Aktivierung von Politikverdrossenen geht oder um die Auseinandersetzung mit sogenannten „Wutbürger*innen“. Andererseits wurde dieses Verhältnis bisher aus politikdidaktischer und/oder pädagogischer Perspektive erstaunlich wenig systematisch erforscht. Unklar ist dabei vor allem, „was aus der Anerkennung von Emotionen für das politische Urteilen und Handeln [und] für die Gestaltung politischer Lehr-Lern-Prozesse folgt“ (GPJE 2023, 1). Aufbauend auf der Anerkennung, dass Emotionen eine Rolle in politischen Bildungsprozessen spielen, gilt es also die Frage zu stellen und zu bearbeiten, wie sie dies tun – und, anwendungsorientiert gewendet, zu diskutieren, wie ein Umgang mit Emotionen in politischen Bildungssettings pädagogisch und politikdidaktisch begründet und gestaltet werden kann.

Innerhalb dieses Forschungsfeldes und -interesses wird der vorliegende Beitrag Vorschläge zu Möglichkeiten des Umgangs mit Scham in politischen Bildungssettings formulieren und zur Diskussion stellen. Aufbauend auf einer theoretisch-konzeptionellen Studie zum Thema „Umgang mit Scham in der kritischen politischen Bildung“ (Laufzeit 2019–2021; Ruff 2021) und einem daran anschließenden Dissertationsprojekt mit dem Arbeitstitel „Scham und Macht – historisch-politische Kontinuitäten von Scham, Beschämung und Schamabwehr in politischen Bildungsprozessen“ (Laufzeit 2022–2025), soll Scham zunächst in ihren Qualitäten, Funktionsweisen und Bedingungen systematisiert werden (Kap. 2). Ausgehend von einer Darstellung zentraler Ambivalenzen von Scham wird ein Fokus auf die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs „Scham“ (Kap. 2.1) und auf Scham, Schamabwehr und Beschämung in symbolischen Gewaltverhältnissen (Bourdieu 1982) (Kap. 2.2) gelegt. Als „Aufschlag“ für eine Diskussion werden, davon ausgehend, drei Überlegungen für einen möglichen Umgang mit Scham in politischen Bildungssettings formuliert, die sowohl deren praktische Bearbeitung wie auch Möglichkeiten zur weiteren Forschung aufzeigen (Kap. 3). Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung wesentlicher Erkenntnisse und einem Ausblick auf weiterführende Fragen (Kap. 4).

2. Grundlegende Überlegungen zu Ambivalenzen der Scham

Scham erscheint im wissenschaftlichen Diskurs als ein ambivalentes Gefühl und „gleicht einem Rätsel, das seine Wirkungen entfaltet, obwohl es kaum zu lösen ist“ (Meyer-Drawe 2009, 37). Denn einerseits scheint sich Scham „mit unmittelbarer Gewalt“ (Schäfer/Thompson 2009, 7) aufzudrängen, lässt den Kopf erröten, Angstschweiß ausbrechen und den ganzen Körper in Anspannung verfallen (Schäfer/Thompson 2009, 7) – während sie auf der anderen Seite auch als das womöglich heimlichste Gefühl in der modernen Gesellschaft beschrieben wird (Neckel 1991). In ihrer Heimlichkeit lässt sich Scham als das Gefühl beschreiben, „das nicht nur in sich schon den Wunsch weckt, sich zu verbergen, sondern selbst noch verborgen wird, weil es sich mit den Maximen der Selbstachtung so wenig verträgt“ (Neckel 1991, 16), und tritt darin weniger im Modus der Überwältigung hervor, denn als Instanz, die kontrolliert und verbirgt, was verborgen bleiben soll. Scham scheint zudem ambivalent in dem Sinne zu sein, dass sich durch Scham negative Selbstbilder und die Vorstellung, mangelhaft, ungenügend oder minderwertig zu sein, einschreiben können (Dolezal 2022), während gleichzeitig aus psychologischer Perspektive betont wird, dass Scham eine zentrale Funktion in der Genese und Erhaltung von Selbstwert einnimmt (Hell 2019). Zuletzt erscheint Scham in einer lern- bzw. bildungstheoretischen Ambivalenz, in der sie einerseits als mögliches „Instrument sozialer Kontrolle“ (Wiesböck 2021, 144) mit dem Ziel verbunden wird, „dass sich Mitglieder regelkonform verhalten“ (Wiesböck 2021, 144) und andererseits – durch zwar frustrierende, verunsichernde und herausfordernde, aber dennoch produktive Schleifen (Haug 2020, 22) – Verhaltensweisen und Themen überhaupt erst zu Lernproblematiken werden lässt, in denen ein automatischer Handlungsvollzug ausgesetzt wird und neue Strategien „probiert, verworfen, neu bestimmt, als wirksam ergriffen“ (Haug 2020, 22) werden.

Diese letzte Ambivalenz ist für das Nachdenken über die Frage zentral, wie Schamgefühle gesellschaftliche Herausforderungen, Transformations- und Emanzipationsprozesse – insbesondere in, mit und durch politische Bildungsprozesse (Hufer 2011) – beeinflussen, bedingen, begleiten, verhindern, veranlassen oder befördern. Eine exemplarische Debatte lässt sich in diskriminierungskritischen Beiträgen nachzeichnen, in denen das Erleben und Durcharbeiten von Scham, bspw. in der Auseinandersetzung mit Rassismus, sowohl als hinreichende Bedingung und notwendiger Schritt markiert und gesetzt wird (Ogette 2020, 29), als auch – insbesondere vor dem Hintergrund der Verschränkung verschiedener Ungleichheitsverhältnisse – kritisch reflektiert wird (Debus 2014, 2018; Chernivsky et al. 2020). Allgemeiner lässt sich die Diskussion dieser Ambivalenz an Beiträge anschließen, die ausgehend von einer lerntheoretischen Perspektive aus der kritischen Psychologie argumentieren (Holzkamp 1993; Debus 2014; Haug 2020). Entlang dieser Perspektivierung erscheint das Nachdenken über die Rolle von und den Umgang mit Scham auch als verknüpft mit der Frage nach defensiven und expansiven Lernprozessen (Ruff 2021, 70 ff.; siehe auch Holzkamp 1993). Die Unterscheidung von expansiven und defensiven Lernprozessen richtet den Blick weniger auf die Vermittlung von Inhalten, sondern eher auf den Modus, der in der Auseinandersetzung mit Inhalten erlernt wird, und sich in Handlungswissen überträgt. Während defensives Lernen „nur darauf ausgerichtet ist, fremdgesteuerte Anforderungen zu erfüllen“ (Debus 2014, 95), tritt expansives Lernen da auf, wo „Individuen zu Subjekten ihres Lernens werden, also erkennen, dass es ihnen eine Erweiterung ihrer Handlungsfähigkeit verspricht, sich mit einem Gegenstand zu beschäftigen“ (Debus 2014, 95).[3] Damit verbunden ist die Erweiterung einer klassischen lerntheoretischen Perspektive, die häufig vom klassischen Paradigma einer konditionalen Verknüpfung von angenehmen Emotionen mit gelingenden Lernprozessen ausgeht – hin zu einem integralen Lernverständnis, das Lernen verkörperter und anwendungsorientierter im Sinne eines Begreifens versteht (Sarma/Yoquinto 2020). Ebenso lässt sich diese Fragerichtung – wenngleich theoretisch anders gelagert – mit der Figur der Bildsamkeit durch Krisen und/oder negativen Erfahrungen verbinden (Meyer-Drawe 2008; Rieger-Ladich 2012; Thompson/Weiß 2015).

Im Licht dieser Ambivalenzen scheinen die Gegenüberstellungen verschiedener Qualitäten von Scham auch mit unterschiedlichen Assoziationen, Konnotationen und Bewertungen zusammenzuhängen, die der Begriff „Scham“ aufruft. Um daher in der Komplexität dieser Bedeutungen von und Zuschreibungen an Scham das Nachdenken über einen Umgang mit ihr mit anwendungsorientierten Vorschlägen zu ermöglichen, soll im Folgenden eine Systematisierung der verschiedenen Bedeutungsebenen, Einbettungen und Bedingungen von Scham stattfinden.

2.1 Konzeptionen von Scham zwischen Gefühl und Funktion

Eine Strategie, den Begriff der Scham näher zu bestimmen, liegt darin, zu beschreiben, wie es sich anfühlt, Scham zu erleben (Baer/Frick-Baer 2008; Meyer-Drawe 2009; Schäfer/Thompson 2009; Dörr 2010). Das Erleben von Scham wird dabei in der Regel als unangenehm, bisweilen schmerzhaft und in manchen Momenten nicht zu ertragen und überwältigend beschrieben (Schäfer/Thompson 2009, 7; Dörr 2010, 193 f.). In dieser Beschreibung ist das Gefühl der Scham „laut“, unentrinnbar und schwer zu verbergen (Ruff 2021, 69). Man möchte im Boden versinken, der Situation entfliehen oder unsichtbar werden, doch der Boden ist gnadenlos und tut sich nicht auf, die Orientierung über Zeit und Raum scheint verloren zu gehen und es fühlt sich an, als seien alle Augen auf die eigene Fehlerhaftigkeit, den Mangel, das Ungenügen, die Schande gerichtet (Schäfer/Thompson 2009, 7). Rückt man jedoch vom Modus der Überwältigung ab und beobachtet Scham auch da, wo sie nicht nur überwältigend operiert, erscheinen auch „leisere“ Stimmen des Gefühls (Neckel 1991, 23). In diesen leisen bis stillen Momenten erscheint uns Scham als beteiligt an der Stimme, die uns (bisweilen sehr subtil) ins Gewissen redet, und in den Momenten, die uns heimlich werden oder lügen lassen, in denen wir in den Hintergrund treten, Aspekte des eigenen Seins verbergen, diese verneinen oder gar verdrängen. Scham ist dann weder für das Selbst, noch für andere zwingend erkennbar – und versteckt in ihrer Heimlichkeit nicht nur bestimmte schambehaftete Eigenschaften oder Aspekte, sondern bisweilen auch sich selbst (Neckel 1991; Dolezal 2022). Sowohl alltagssprachlich als auch fachwissenschaftlich reicht die Beschreibung dieser verschiedenen Lautstärken, Facetten oder „Familienmitglieder“ (Scheff 2000, 96) der Scham von Begriffen der Peinlichkeit, Verlegenheit und Schüchternheit über schlechtes Gewissen und Unbehagen bis hin zu Entwürdigung, Demütigung, Erniedrigung und Schande (Scheff 2000, 2003). Folgt man dabei der Annahme, dass all diese Begriffe Ausdruck von Scham sein können, erscheinen sie als Qualitäten, die Scham weniger als spezifisches körperlich-leibliches Erleben definieren, denn als Spektrum erscheinen lassen, das verschiedene Intensitäten und Dauerhaftigkeiten miteinschließt (Marks 2011). Konzeptuell lässt sich dieses Spektrum mit einer Definition des Soziologen Thomas Scheff (2000) umklammern. Scheff definiert Scham als,

a large family of emotions that includes many cognates and variants, most notably embarrassment, humiliation, and related feelings such as shyness that involve reactions to rejections or feelings of failure or inadequacy. What unites all these cognates is that they involve the feeling of a threat to the social bond. […] If one postulates that shame is generated by a threat to the bond, no matter how slight, then a wide range of cognates and variants follow: not only embarrassment, shyness, and modesty, but also feelings of rejection or failure, and heightened self-consciousness of any kind.

In dieser Definition erscheint Scham also als Überbegriff für verschiedene Facetten und „Familienmitglieder“.[4] Der Begriff „Scham“ umklammert in dieser Sichtweise verschiedene Qualitäten von Gefühlen entlang einer Funktion. Diese liegt im gemeinsamen Moment der potenziellen Gefährdung der sozialen Zugehörigkeit – „feeling of a threat to the social bond“ (Scheff 2000, 97) –, unabhängig davon, wie groß diese Gefährdung tatsächlich ist – „no matter how slight“ (Scheff 2000, 97). Verschiedene konzeptuell mit Scham verbundene Gefühle lassen sich ausgehend von dieser Definition mit Ausschlägen auf einem Radar vergleichen, auf dem sie als Signale zu einer Orientierung in den Bedingungen, Anforderungen, impliziten (Spiel-)Regeln – und damit zu einer Sicherung sozialer Zugehörigkeit und sozialer Beziehungen – beitragen. Die grundlegende Funktion, die Scham – in unterschiedlichen Intensitäten auftretend – in einer solchen funktionalen Lesart für das Individuum erfüllt, ist daher die einer Navigatorin sozialer Zugehörigkeit. Scham, so lässt sich daraus schlussfolgern, ist damit auch nicht erst dann da, wenn sie für einen selbst und andere wahrnehmbar wird (etwa im Moment des Errötens oder des Schmerzes), sondern läuft als Funktion, als Radar, immer mit. Der Erziehungswissenschaftlerin Käte Meyer-Drawe (2009) folgend, ließe sich diese Überlegung weiterführen und eine (heuristische) Unterscheidung zwischen Scham als Funktion und Scham als Gefühl formulieren, wobei die körperlichen Schmerzen, die wir mit Scham beschreiben – Schamgefühle – die Folge des „Versagen[s] der Scham“ (Meyer-Drawe 2009, 49) – der Schamfunktion – sind.

An diese Heuristik lassen sich weitere Überlegungen anschließen, in denen in der Literatur entweder ein Fokus auf die emotionale Verknüpfung von Scham und Angst gelegt wird (Dolezal 2022) oder das Verhältnis allgemeiner als Kopplung zwischen Scham und ihrer Abwehr beschrieben wird (Marks 2013). Beide Richtungen betonen, dass aus dem Schmerz, den Schamgefühle (potenziell) verursachen, und der Tendenz, wie Möglichkeit und bisweilen auch Notwendigkeit, Schmerz zu vermeiden, der Mechanismus bzw. die Angst und damit der Automatismus einer (unbewussten bzw. vorbewussten) Antizipation von Schamgefühlen folgt (Dolezal 2022). Dieser Mechanismus scheint insbesondere dort aufzutreten, wo Scham die Bedingungen symbolischer Gewaltverhältnisse navigiert, die mit (drohender) Beschämung und Stigmatisierung einhergehen (können) (Ruff 2021, 37 ff.; siehe auch Neckel 1991; Landweer 1999; Dolezal 2020, 2022). Die Systematik dieses Zusammenhangs wird im Folgenden vertieft.

2.2 Scham, Beschämung und Schamabwehr in symbolischen Gewaltverhältnissen

Der Begriff der symbolischen Gewalt verweist auf eine Gewalt, die dazu führt, dass schmerzhafte, ausbeuterische oder unerträgliche soziale Bedingungen von Subjekten als „akzeptabel, natürlich und selbstverständlich erlebt werden“ (Schmidt 2014, 231). (Un‑)Zugehörigkeit – und die damit verbundene potenzielle Ausbeutung, der Schmerz, die Anerkennung oder Abwertung – kann als eine der sozialen Bedingungen von Subjekten interpretiert werden, die über die Einbettung in symbolische Gewaltverhältnisse als natürlich erlebt oder als quasi natürlich akzeptiert wird (Meißner 2019; Rieger-Ladich et al. 2020). In der Perspektivierung symbolischer Gewalt ist (Un-)Zugehörigkeit – und wer sich als (un-)zugehörig erlebt – dabei auch als ein Ergebnis von Praktiken des Zugehörigwerdens, des Ein- und Ausschlusses, der Marginalisierung, des Othering und der Entrechtung zu betrachten (Rieger-Ladich et al. 2020). So ordnet beispielsweise Rassismus als symbolisches Gewaltverhältnis die Bedingungen von Zugehörigkeit entlang einer systematischen Dichotomisierung, in der das Eigene (Zugehörige, Westliche, zu Schützende, Zivilisierte, Überlegene und Individuell-Besondere) dem Anderen/Fremden (Nichtzugehörigen, Orientalischen und/oder Schwarzen, Unterlegenen und Homogenisierten) gegenübergestellt wird (Said 2003; Mecheril 2010; Bergold-Caldwell et al. 2017; Ogette 2020; Kelly 2021; Messerschmidt 2021). Wer als zugehörig und unzugehörig gilt, ist dementsprechend weder zufällig noch ausschließlich aus Überzeugungen, Einstellungen und sozialen Interaktionen heraus zu verstehen, sondern immer auch als eingebettet in symbolischen Gewaltverhältnissen zu interpretieren, die über historisch gewachsene Institutionen wie Schulsysteme, Religionen und Nationalstaaten oder auch über gesellschaftliche Erzählungen und Bewertungen von Interaktionen, individuellen Einstellungen, Habitualisierungen, Wahrnehmungen und Gefühlen beteiligt sind und in Praktiken wirksam werden (Bergold-Caldwell et al. 2017; Ruff/Petrik, i. E.; zur affektiven Dimension von Praktiken Reckwitz 2016). Teil der Praktiken des (Un-)Zugehörigwerdens ist die Diskriminierung und Privilegierung von Personen und Personengruppen in Ungleichheitsverhältnissen, die sowohl die Anlässe prägen, aus denen heraus sich Scham generieren kann – beispielsweise als stigmatisierende Bilder und Adressierungen (Dolezal 2022) –, als auch die Handlungsmöglichkeiten bedingen, die zur Verfügung stehen, um auf Schamanlässe und -gefühle reagieren zu können (Ruff 2021, 31 f.). In der Systematik von Scham ist dieser Aspekt verbunden mit Beschämungen (Bartky 1990; Neckel 1991; Gorius 2011; Schulze/Witek 2014; Dolezal 2022).

2.2.1 Beschämungen als Teil und Folge von symbolischen Gewaltverhältnissen

Beschämungen können interaktional als Teil und Folge von Beleidigungen,[5] abwertenden Zuschreibungen, körperlichen An- bzw. Übergriffen oder Vernachlässigungen und aktiven Ausschlüssen verstanden werden (Ruff 2021, 20 ff.; siehe auch Schulze/Witek 2014). In dieser Charakterisierung beschreiben Beschämungen ein „zutiefst soziales Geschehen, das in konkreten Situationen, beim konkreten Sprechen zwischen Menschen in einer Gesellschaft stattfindet, wobei die in Ideologien gefassten Ungleichheitsstrukturen […] wirksam werden“ (Schulze/Witek 2014, 50). Sie sind inhärent mit Stigmatisierungen verbunden und (re-)produzieren als solche Abwertungen, Abweichungen von gesellschaftlicher Normalität, Unterdrückungen, Tabuisierungen und Exotisierungen auf interaktionaler Ebene. Beschämungen sind aber auch auf struktureller Ebene in Institutionen, Erzählungen, Anforderungen, Gesetzen und Glaubenssystemen eingeschrieben und lassen sich auf dieser Ebene als Teil und Folge von gesellschaftlichen Tabuisierungen, stigmatisierenden Bildern oder Erzählungen, systematischen Ausschlüssen von gesellschaftlicher Teilhabe oder Entrechtungen begreifen (Ruff 2021, 21 f.; Dolezal 2022). Beide Ebenen lassen sich nur heuristisch voneinander trennen und erscheinen in der Praxis als miteinander verwoben. Beispiele finden sich in der Stigmatisierung von „Sozialstaatsschmarotzer*innen“, in der systematischen Benachteiligung von Migrant*innen im Schulsystem (Gorius 2011), in entrechteten Arbeitsbedingungen und prekären Lebensbedingungen von Saisonarbeiter*innen, in der Beschämung körperlicher oder psychischer Dispositionen, bspw. im Gesundheitssystem (Dolezal 2022), oder auch in Erziehungspraktiken, pädagogischen Einrichtungen und Beziehungen (Hafeneger 2013). Beschämungen lassen sich dabei als Teil und Folge der körperlichen Einschreibung, Habitualisierung und Prägung von Körpern und Gefühlen begreifen und können als solche die Wahrnehmung von Welt und sich selbst wie auch die Handlungsmöglichkeiten darin weitreichend prägen (Bartky 1990; Letihnen 1998; Young 2005; Wuttig 2016).

2.2.2 Die „Masken“ der Scham: Schamabwehr

Schamgefühle werden als negativ, schmerzhaft und zum Teil auch überwältigend erlebt. Aufgrund dieser Negativität sowie aufgrund des Potenzials der Überwältigung durch Scham wird in der Literatur über Scham in der Regel auf die Verknüpfung zwischen Scham und ihrer Abwehr bzw. Scham und ihrer Maskierung verwiesen (Wurmser 1998; Marks 2013, 40 f.). Der erweiterte Blick auf Schamabwehr macht es dabei möglich, Scham nicht nur da zu vermuten und zu erwarten, wo sie vom Individuum selbst erfahren oder nach außen hin sichtbar wird (etwa im Erröten), sondern von Kopplungsverhältnissen zwischen Scham und anderen Emotionen (etwa Angst oder Wut) bzw. von Projektionen und „Masken“ (Wurmser 1998) auszugehen. Das Phänomen der Schamabwehr lässt sich dabei mit unterschiedlichen Konzepten beschreiben (etwa psychoanalytisch, traumatheoretisch, leibphänomenologisch) und ist in der Literatur wenig systematisiert.[6]

Aus einer (tendenziell phänomenologischen) Perspektive lässt sich Schamabwehr unmittelbar mit Beschämungen verknüpfen – und diese können als Ursache für die Entwicklung von Schamangst hinzugezogen werden (Pattinson 2000; Dolezal 2022). Schamangst beschreibt hier die „anticipatory anxiety about the imminent threat of being exposed, humiliated, belittled or rejected“ (Pattison 2000, 85). Schamangst tritt als antizipatorische Angst hervor und reagiert auf die „nagging and persistent possibility of shame, which, for the most part, is not necessarily experienced“ (Dolezal 2022, 856). Diese Konzeption von Schamangst lässt sich zudem konsistent an die Beobachtung „leiserer“ oder „stiller“ Aspekte von Scham anschließen (Neckel 1991, 23) wie auch als Grundlage für das Nachdenken über Scham und ihre Abwehr vorwegsetzen. Die zentrale These ist, dass Schamangst dazu führt, dass Schamgefühle vermieden werden und sich infolgedessen Mechanismen herausbilden, um genau jene zu vermeiden: etwa „Coolness“, Schwerverständlichkeit oder Arroganz (Marks 2013).

Aus einer traumatheoretisch informierten, somatischen Perspektive wiederum lässt sich die Entwicklung von Schamabwehr stärker im Anschluss an neuro- und kognitionswissenschaftliche Konzeptionen der (De-)Regulierung des Nervensystems analysieren (Wuttig 2016; Haines 2019).[7] Typisieren lassen sich Schamabwehrstrategien dann im Anschluss an die bekannte Trias „fight“, „flight“ und „freeze“ – die sich kritisch um die Modi „dissociation“ und „appeasement“ ergänzen ließe (Haines 2019, 74). Mithilfe dieser idealtypischen Kategorisierung lassen sich dann sowohl momenthafte Abwehrreflexe als auch generalisierte Muster als körperlich-leibliche Einschreibungen und Prozesse beobachten und analysieren, die sich situativ entladen oder im Laufe einer Biografie (und es ließe sich vermuten: transgenerational) und gesellschaftlich geprägt eingeschrieben haben (Ruff 2021, 26 ff.; siehe auch Wuttig 2016; Haines 2019). Beispiele für diese Formen der Schamabwehr sind beispielsweise (körperliche oder psychische) Gewalt gegen sich selbst oder andere, sich klein machen oder besonders angepasst bzw. diszipliniert zu sein.

Sowohl momenthafte Abwehrreflexe als auch generalisierte Muster bauen dabei auf ein Sediment gesellschaftlicher und biographischer Erfahrungen und Bedingungen auf, die das Verhalten und die Wahrnehmung von Welt habitualisieren und prägen. Auch Schamabwehrmechanismen sind insofern in die Bedingungen symbolischer Gewaltverhältnisse und die Praktiken der (Un-)Zugehörigkeit verstrickt. Verhaltensweisen und Muster, die entgegen der Matrix symbolischer Ordnungen laufen, können so ebenfalls Anlass von Beschämung werden (Fredrickson/Roberts 1997; Marks 2013; Haines 2019). Wie der Soziologe Stephan Marks beispielsweise in einem Beitrag über Scham im Kontext von Schule aufzeigt, erscheinen die Strategien von Jungen* und Männern* in der Tendenz eher aggressiv und nach außen gerichtet, während die von Mädchen* und Frauen* eher autoaggressiv gegen sich selbst gerichtet sind (Marks 2013, 41 f.).[8]

Das Kopplungsverhältnis zwischen Scham und ihrer Abwehr ist dabei nicht eindeutig als negativ zu bewerten. Wie bereits weiter oben erwähnt, lässt sich die Fähigkeit, Scham antizipieren zu können, auch als eine sozial-kognitive Grundbedingung verstehen, von der ausgehend sich prosoziale Verhaltensweisen entwickeln und die Grenzen des eigenen Selbst und die Grenzen anderer gewahrt werden können (Baer/Frick-Baer 2008; Hell 2019). Scham und ihre Abwehr tragen in dieser Lesart zu einer Regulierung schädigender Verhaltensweisen bei. In einer generalisierten oder dysfunktionalen, das heißt, sich selbst und andere schädigenden Form, können sich Schamabwehrreaktionen jedoch auch beispielsweise als (unkontrollierbare) Aggression, Gewalt, Perfektionismus, Apathie oder übertriebene Fragilität oder Unterwürfigkeit zeigen.

Für die pädagogische Reflexion des Umgangs mit Scham in (politischen) Bildungssettings ist die Perspektivierung von Scham im Zusammenhang mit Schamabwehr insofern besonders instruktiv, da sie bei Pädagog*innen ein Innehalten und Reflektieren anregt, das ermöglicht, hinter die Verhaltensweisen in Klassenzimmern oder Seminarräumen zu schauen, andere – reflexive – Fragen zu stellen oder anders zu reagieren (Ruff 2021, 61 ff.). Vergleichbar mit der (individuell und kollektiv) unbewussten Struktur des Habitus (Bourdieu 1982), sind allerdings auch Schamabwehrmechanismen nicht notwendigerweise bewusst: „These reactions may happen automatically and unthinkingly, with individuals themselves not even realizing that they are avoiding shame“ (Dolezal 2022, 857). Dies hat für die pädagogische Intervention in Seminarsettings oder Unterrichtseinheiten die Folge, dass es auch übergriffig oder paternalistisch sein kann, mit einer wütenden Reaktion einer Teilnehmerin* oder eines Teilnehmers* unmittelbar Schamabwehr zu verbinden und diese als solche zu adressieren. Insofern ist die Analyse von Scham und ihrer Abwehr vor allem auf der Ebene der pädagogischen Haltung relevant: Das Wissen um den Zusammenhang zwischen Scham und ihrer Abwehr kann möglicherweise – so wäre zu hoffen – zu einer sensibleren Wahrnehmung für die emotionalen Verstrickungen der Schüler*innen bzw. der Teilnehmer*innen eines Seminars beitragen.

3. Scham, Schamabwehr und Beschämung in politischen Bildungsprozessen – Überlegungen zum Weiterdenken und Weiterdiskutieren

Wie lassen sich von dieser Systematisierung ausgehend nun die Fragen nach der Entwicklung einer begründeten Bewertung und Einschätzung zum Umgang mit Scham, Schamabwehr und Beschämung in politischen Bildungssettings weiterverfolgen? Welche Voraussetzungen hat ein Umgang mit Scham in der Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen politischer Bildung – vor allem unter der Berücksichtigung der Verstrickung in symbolischen Gewaltverhältnissen? Wie kann das transformatorische und emanzipatorische Potenzial, das in einer Auseinandersetzung mit Scham auch zu liegen scheint, genutzt oder begleitet werden? Welche Möglichkeiten und Herausforderungen sind mit diesen Fragen verbunden? Zur Diskussion dieser (und weiterer) Fragen sollen im Folgenden drei Vorschläge zum Weiterdenken und Weiterdiskutieren formuliert werden.

Die nachfolgenden Überlegungen zum Umgang mit Scham in politischer Bildung sind dabei im Rahmen eines engeren Verständnisses politischer Bildung kontextualisiert. Das heißt, sie betreffen all jene Settings, in denen ein formalisiertes Lehr-Lern-Verhältnis besteht. Damit gemeint sind „alle bewusst geplanten und organisierten, kontinuierlichen und zielgerichteten Maßnahmen von Bildungseinrichtungen, um [Kinder,; Anmerkung d. V.] Jugendliche und Erwachsene mit den zur Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben notwendigen Voraussetzungen auszustatten“ (Massing o. J.). Darin miteingeschlossen sind sowohl schulische als auch außerschulische politische Bildungssettings, wenngleich eine dezidiert vergleichende Erforschung dieser Kontexte mit je spezifischen Anforderungen an die Bedingungen des Umgangs mit Scham nicht stattfindet. Zudem lag der Fokus der Studie „Umgang mit Scham in der kritischen politischen Bildung“ (Ruff 2021) auf außerschulischer politischer Bildung, weshalb in Bezug auf die Vorüberlegungen ein theoretisch-konzeptionelles Bias besteht, das in nachfolgenden Beiträgen und Forschungsprojekten ausgeglichen werden muss. Die in diesem Beitrag aufgeworfenen Punkte sollen daher als erste Überlegungen für die Anregung einer fachlichen Debatte um die Herausforderungen und Möglichkeiten im Umgang mit Scham formuliert werden. Die Überlegungen sind von der heuristischen Unterscheidung eines Lernens über, anhand von, durch und mit Scham geleitet, die in der Studie entwickelt wurde.

3.1 Überlegung 1: Die Notwendigkeit einer fachwissenschaftlichen Auseinandersetzung über Scham

These: Eine konzeptionelle und fachwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Scham bildet die Grundlage für die Entwicklung einer schamsensiblen (pädagogischen und didaktischen) Haltung.  

Eine erste Überlegung zum Umgang mit Scham in politischer Bildung besteht darin, dass es für eine Entwicklung einer schamsensiblen Haltung eine dezidierte Auseinandersetzung über Scham braucht, aus der heraus begründete Aussagen getroffen werden können. Insbesondere die Auseinandersetzung mit Scham in ihrer Systematik zu Schamabwehr, Beschämung und symbolischen Gewaltverhältnissen erscheint als eine notwendige Bedingung, um Scham auch in solchen Situationen wahrnehmen, vermuten oder mitdenken zu können, in denen sie nicht im lauten oder von außen erkennbaren Modus auftritt.

Mit einer solchen konzeptionellen Erweiterung des Blicks auf Scham wird es möglich, anzuerkennen, dass Verweigerungen, Konfrontationen, ein emotionales oder rationales Verschließen und andere „Störungen“ (Cohn 1984/2021; siehe auch Rubner/Rubner 2016, 82 f.) auch mit Scham und ihrer Abwehr zusammenhängen können. Aufbauend auf einer konzeptuellen und fachwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Systematik von Scham wird auch die Notwendigkeit aufgerufen, sich mit dem „fachwissenschaftlichen Irrtum“ (Hölzel/Jugel 2019) auseinanderzusetzen, dass Bindungen und Beziehungen in politischen Bildungsprozessen eine zu vernachlässigende Größe seien (Hölzel/Jugel 2019). In ihrer Kopplung an Zugehörigkeit erinnert Scham an die existenzielle Relationalität von Subjekten (Meißner 2019) und macht deutlich, dass in politischen Bildungssettings nicht nur inhaltliche Fakten und Argumente verhandelt, sondern als Teil davon immer auch bindungs- und beziehungsorientierte Fragen vermittelt werden (Hölzel/Jugel 2019). Mit der theoretisch-konzeptionellen Auseinandersetzung dieses Kopplungsverhältnisses verbunden ist daher auch die Auseinandersetzung mit Methoden und didaktischen Vorgehensweisen, das Tempo der inhaltlichen Vertiefung oder die Auswahl von Themen, die daraufhin zu prüfen sind, inwiefern sie Scham, Schamabwehr und Beschämung potenziell betreffen, aufrufen, reproduzieren oder bedingen.

3.2 Überlegung 2: Die Möglichkeit expansiven Lernens anhand von und mit Scham

These: Der Umgang mit Scham in politischer Bildung sollte im Kontext der Frage defensiver und expansiver Lernprozesse vertieft reflektiert und diskutiert werden.

In ihrer Ambivalenz kann Scham sowohl als ein Scharnier für die (Re-)Produktion gesellschaftlicher Ordnungen eingeordnet werden – und scheint, damit verbunden, ein Ausdruck von sozialer Kontrolle und symbolischer Gewalt zu sein –, als auch Anlässe für emanzipatorische Lernprozesse bieten. Zur Reflexion dieser tendenziell schließenden und öffnenden Qualitäten von Scham kann eine Auseinandersetzung mit kritischen lerntheoretischen Perspektiven (Holzkamp 1993; Debus 2014; Haug 2020,) beitragen. Aus der Perspektive einer kritischen Lerntheorie wird die Frage des Umgangs mit Scham im Licht der Unterscheidung defensiver und expansiver Lernprozesse instruktiv (Ruff 2021, 72 f.). Im Zuge von expansiven Lernprozessen entwickeln sich Selbstwirksamkeitserwartungen, die eine „subjektive Gewissheit, neue oder schwierige Anforderungen auf Grund eigener Kompetenz bewältigen zu können“ (Chernivsky et al. 2020, 169), kennzeichnen. Der darin enthaltene Lernprozess beruht jedoch darauf, dass der Handlungsvollzug in einer Problemsituation ausgesetzt wird und das Subjekt genötigt wird, eine Lernproblematik zu konstruieren bzw. sich mit dieser auseinanderzusetzen (Haug 2020, 22). Lernen kann von frustrierenden, ermüdenden und herausfordernden „Schleifen“ begleitet werden, bei denen Scham sowohl den Anlass als auch einen Teil dieser Schleifen bilden kann (Ruff 2021, 69 ff.). Ein Dranbleiben und Aushalten des Scheiterns in diesen Prozessen kann aber auch mit Neugierde, Interesse, Selbstwirksamkeitserwartung und anderen aktivierenden Momenten verbunden werden (Ruff 2021, 72 ff.). In dieser Perspektivierung erscheint eine Auseinandersetzung mit Lernprozesse anhand von Scham bzw. mit Scham relevant (Ruff 2021, 74 ff.). Diese Auseinandersetzung betrifft dabei sowohl politische Bildner*innen und andere Akteur*innen der Fachdebatte, wie auch die Prozesse, die im Seminarraum oder im Klassenzimmer geschehen. Entscheidend scheint in der Gestaltung der Lernprozesse in Seminarräumen und Klassenzimmern, dass neben tragfähigen Beziehungen auch eine gewisse zeitliche Flexibilität bestehen muss, um eine Auseinandersetzung anhand von Scham oder mit Scham vertiefen zu können (Chernivsky/Scheuring 2020, 54). Dies deutet auf eine Herausforderung eines Lernens anhand von Scham oder mit Scham in der Struktur vorgegebener Unterrichtsstunden hin, die weiter vertieft werden müsste. Besteht jedoch die zeitliche Flexibilität und das Vertrauen, wie auch die Möglichkeit der Teilnehmer*innen, selbstbestimmt zu entscheiden, was sie wann vertiefen wollen (Chernivsky/Scheuring 2020, 54), scheint eine Auseinandersetzung mit Scham oder schamauslösenden Situationen eine Möglichkeit zu sein, die inhaltliche Auseinandersetzung mit einem Thema auch emotional zu vertiefen (Chernivsky/Scheuring 2020, 54).

3.3 Überlegung 3: Die Herausforderung der bewussten und unbewussten (Re‑)Produktion von symbolischen Gewaltverhältnissen durch Scham

These: In der Planung von und Intervention in Lehr-Lern-Verhältnissen braucht es eine andauernde Reflexion, ob und wie durch eingesetzte Methoden, Bilder, spontane Interventionen und andere Praktiken des Lehr-Lern-Geschehens Beschämungen und symbolische Gewaltverhältnisse bewusst oder unbewusst reproduziert werden.  

Lehrpersonen und politische Bildner*innen sind in die Praktiken, die zu einer (Re-)Produktion von symbolischen Gewaltverhältnissen beitragen, involviert. Durch die Bedingungen symbolischer Gewaltverhältnisse können daher auch solche Handlungen beschämend wirken, die auf der Ebene der Intention nicht beschämend gemeint sind. Dies ist insbesondere da wahrscheinlich, wo Lehrpersonen und Teilnehmer*innen in unterschiedlicher Weise privilegiert und diskriminiert werden. Entgegen der Annahme, dass alle Personen gleichermaßen über ein implizites Wissen über Scham verfügen, erscheint es hier aus der systematischen Reflexion von Scham notwendig, anzunehmen, dass das implizite Wissen über Scham hochgradig situiert ist. Scham, so ließe sich hier die These anschließen, wird nicht von allen Personen gleich erlebt, sondern ist von der Privilegierung und Diskriminierung in symbolischen Gewaltverhältnissen, von der Sozialisation in denselben und in darin bestehenden gesellschaftlichen Praktiken, von biografischen Erfahrungen und situativen Bedingungen abhängig (Ruff 2021, 40 f.; siehe auch Bartky 1990; Lehtinen 1998). Dies kann dazu führen, dass beispielsweise eine gut gemeinte Nachfrage zu Herkunft, Religion, sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität oder anderen Markern zugeschriebener Zugehörigkeit zur Reproduktion von beschämender Stigmatisierung beitragen kann (Bergold-Caldwell et al. 2017). Auch wenn symbolische Gewaltverhältnisse nicht durch individuelle Verhaltensveränderungen aufgehoben werden können, legt die Systematik von Scham, Schamabwehr und Beschämung pädagogisch und politikdidaktisch nahe, dass in der Planung von und Intervention in politischen Bildungsprozessen die Reflexion der Anrufung und Reproduktion von Scham und beschämender Situationen mitlaufen sollte, um schamsensibel handeln zu können.

Schamsensibel zu handeln kann dabei als Ausdruck einer schamsensiblen Haltung gesehen werden, die sich beispielsweise in der Reflexion von Methoden (Debus 2018), als eine bewusste Verlangsamung des Prozesses oder als prozessorientierte Reflexion der Frage, wessen Scham im Raum wahrgenommen und wessen Scham tendenziell übergangen wird, ausdrückt. Die Entwicklung einer solchen schamsensiblen Haltung scheint zu bedingen, dass sich Lehrpersonen und politische Bildner*innen zuerst auch mit ihren eigenen affektiven, körperlichen und habituellen Einschreibungen auseinandersetzen, die in politischen Bildungssettings automatisiert zum Tragen kommen können. Die (selbst-)reflexive und aufdeckende Auseinandersetzung mit den eigenen biografischen – und transgenerational vermittelten (Chernivsky/Scheuring 2016) – Erfahrungen von Scham, Schamabwehr und Beschämung könnte vor diesem Hintergrund einen wichtigen Baustein darstellen, um sich vom eigenen Gewordensein zu distanzieren und Scham auch da sehen und wahrnehmen zu lernen, wo sie nicht deckungsgleich zur eigenen Scham verläuft. Dies könnte möglicherweise sogar eine Gelingensbedingung für Lernprozesse über symbolische Gewaltverhältnisse und deren Transformation darstellen – also beispielsweise in den Themenbereichen Rechtsextremismus, Postkolonialismus, Holocaust, Geschlechtergerechtigkeit oder sexuelle Vielfalt –, in denen Teilnehmer*innen und Lehrpersonen gleichermaßen als Lernende und Lehrende über diese Verhältnisse wie auch als Situierte in denselben beteiligt sind.[9]

4. Fazit

Ausgehend von einer theoretisch-konzeptuellen Systematisierung von Scham in symbolischen Gewaltverhältnissen, wurde im vorliegenden Artikel der Frage nachgegangen, welche Überlegungen über einen Umgang mit Scham in politischen Bildungsprozessen formuliert werden können. Neben einer Bestimmung des Begriffs „Scham“ wurde dabei vor allem auf das Verhältnis von Scham, Schamabwehr und Beschämung als Mechanismen in der (Re‑)Produktion symbolischer Gewaltverhältnisse fokussiert. Der Begriff „Scham“ umfasst sowohl Schamgefühle als auch eine Funktion, die als Navigatorin sozialer Zugehörigkeit zu einer Orientierung in der Komplexität sozialer Verhältnisse beiträgt. Eine Aufgabe dieser Navigation besteht darin, dass über Schamabwehrmechanismen Schamgefühle vermieden werden. Insofern (Un-)Zugehörigkeit in symbolische Gewaltverhältnisse und Praktiken des (Un-)Zugehörig-Werdens verstrickt ist, erscheint die Reflexion von Scham notwendigerweise eingebettet in die Reflexion symbolischer Gewaltverhältnisse. Für die weiterführende Debatte über einen Umgang mit Scham in politischen Bildungssettings wurden drei Thesen entlang der Typisierung eines Lernens über, anhand von und mit sowie durch Scham formuliert. In der ersten These wurde die Voraussetzung einer konzeptionellen und fachwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Scham, welche die Grundlage für die Entwicklung einer schamsensiblen (pädagogischen und didaktischen) Haltung bildet, betont. Die zweite These fokussierte darauf, den Umgang mit Scham im Kontext der Frage defensiver und expansiver Lernprozesse vertiefend zu reflektieren und zu diskutieren. Die dritte These hat die Einbettung von Scham, Schamabwehr und Beschämung in Praktiken symbolischer Gewaltverhältnisse hervorgehoben und für die Entwicklung einer schamsensiblen Haltung vorgeschlagen, Scham und Beschämung sowohl auf der Ebene der Planung als auch auf der Ebene spontaner Interventionen als mögliche Bestandteile der Reproduktion symbolischer Gewaltverhältnisse integral mitzudenken. Damit einher ging eine Sensibilisierung dafür, dass sich Scham entlang von symbolischen Gewaltverhältnissen unterschiedlich einzuschreiben scheint und – daraus folgend – die Notwendigkeit einer kritischen Reflexion der eigenen Schambiografie.

Die in diesem Beitrag aufgeworfenen Überlegungen stellen dabei einen ersten Aufschlag für eine vertiefende Diskussion des Umgangs mit Scham in politischen Bildungsprozessen dar und sollten – so wäre es zu hoffen – in weiterführenden Forschungen und Praxisreflexionen vertieft, erweitert, evaluiert, korrigiert, herausgefordert und ggf. auch verworfen werden. Eine Leerstelle, an die anzuschließen wäre, liegt in der empirischen Rekonstruktion von Scham, Schamabwehr und Beschämung in verschiedenen Settings politischer Bildung. Auch eine dezidierte Reflexion der Möglichkeiten und Herausforderungen im Umgang mit Scham in den spezifischen Bedingungen und Anforderungen, die schulischen Politikunterricht von außerschulischer politischer Bildung unterscheiden, steht aus. Zudem gilt es weiter zu erforschen und zu überprüfen, wie sich die Fragen nach dem Umgang mit Scham in politischer Bildung und die Herausforderungen gesellschaftlicher Transformation und Emanzipation vertieft bearbeiten und in die Praxis einbringen lassen.

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[1] Besonders bedanken möchte ich mich an dieser Stelle bei den beiden Gutachter*innen, die das Manuskript dieses Beitrags aufmerksam gelesen und ausgesprochen instruktiv kommentiert haben.

[2] Emotionstheoretisch kann es sinnvoll sein, konzeptionell zwischen den Begriffen der Emotion, des Gefühls und des Affekts zu unterscheiden und ausgehend von dieser Unterscheidung zu arbeiten. Eine typische Unterscheidung findet sich dann beispielsweise zwischen dem Verständnis von Emotionen (emotion) als Aspekte des emotionalen Erlebens, die von außen beobachtbar sind, und Gefühlen (feelings) als subjektive Wahrnehmungen der körperlichen Veränderungen sowie der mentalen Repräsentationen, die diese begleiten (Damasio 2010; Huber 2018, 97). Der Begriff des Affekts kann demgegenüber dadurch abgegrenzt werden, nicht subjektiv, sondern sozial, keine Eigenschaft, sondern eine Aktivität zu beschreiben (Reckwitz 2016, 104). Neben dieser Unterscheidung gibt es verschiedene weitere Vorschläge der begrifflichen und konzeptionellen Trennung. In der Fokussierung des vorliegenden Beitrags wird auf eine dezidierte Unterscheidung der verschiedenen Begriffe und Konzepte (sowie ihrer diskursiven und disziplinären Verstrickungen) verzichtet und die Begriffe der Emotion, des Gefühls und des Affekts weitgehend synonym verwendet.

[3] Die Heuristik von defensiven und expansiven Lernprozessen wurde sowohl in der Vorstudie als auch im vorliegenden Beitrag lediglich in der Perspektivierung subjektiver Handlungserweiterung diskutiert. Sowohl Holzkamp (1993) als auch Haug (2020) verstehen die „expansive“ Dimension von Lernprozessen nicht nur im Sinne individueller Veränderungen, sondern auch im Hinblick auf die Entwicklung kollektiver Handlungsfähigkeit. Notwendig und interessant wäre hier eine vertiefende Analyse und Diskussion, wie der Aspekt der kollektiven Handlungsfähigkeit in politische Bildungssettings integriert wird oder integriert werden kann.

[4] Die Begriffe „Scham“ und „shame“ haben im Deutschen und Englischen verschiedene Bedeutungen. Während Scham auch alltagssprachlich auf verschiedene Facetten verweisen kann, ist die Bedeutung „shame“ sehr viel enger mit dem Begriff der Schande verknüpft (exemplarisch Brown 2006). Scheff arbeitet seine konzeptionelle Definition der Scham anhand der Lektüre (überwiegend) deutschsprachiger Soziolog*innen heraus, weshalb an dieser Stelle auf eine ausführlichere Differenzierung verzichtet wird. Es erscheint meiner Ansicht nach allerdings notwendig, diese unterschiedlichen Bedeutungen an den Punkten des Feldes genauer in den Blick zu nehmen, an denen eine Übertragung von englischsprachigen Modellen oder Konzepten in deutschsprachige Bildungssettings stattfindet.

[5] Die deutsche Sprache ist im Begriff der Beschämung nicht eindeutig. So kann das Wort Beschämung einerseits auf das Gefühl hinweisen, das infolge von Demütigungen und Erniedrigungen erlebt wird, als andererseits auch auf die Handlung oder das strukturelle Prinzip verweisen, die oder das eine Beschämung ist. Diese Ambivalenz soll an dieser Stelle offengehalten werden und ihr soll mit der Formulierung „Teil und Folge“ entsprochen werden (Ruff 2021).

[6] Ähnlich wie in der Analyse der Scham selbst stellt sich auch für die Analyse der Schamabwehr vor allem die Frage nach der Bedeutung des Ichs, nach dessen Konstitution, Genese, Natürlichkeit, Intentionalität und Handlungsspielraum. Aufgrund der Länge des vorliegenden Beitrags findet an dieser Stelle jedoch weder eine systematische Trennung oder Gegenüberstellung der verschiedenen Perspektiven noch eine Problematisierung der dahinterstehenden Prämissen statt.

[7] Mit dem Begriff der Somatik wird auf ein Verständnis körperlich-leiblicher Einschreibungen verwiesen, in denen die soziale Einbindung von Körpern (und damit auch: Emotionen, Affekten, Gefühlen, Wahrnehmungen, Sinnen) normierungskritisch reflektiert wird, und das „somatische Subjekt“ als „Durchgangspunkt von Ereignissen, Erfahrungen, Spürbarem und Gespürtem“ (Wuttig 2016, o. S.) zum Gegenstand einer kritischen Analyse wird. Die Soma-Studien, wie sie etwa bei Wuttig (2016) eingeführt werden, verbinden dabei verschiedene disziplinäre Zugänge (insb. neurowissenschaftliche, kognitionswissenschaftliche und sozialwissenschaftliche), wobei insbesondere Figurationen der Subjektivierung und Traumatisierung verknüpft werden (Wuttig 2016, 168 ff.).

[8] Es stellt ein Desiderat dar, zu untersuchen, wie trans*geschlechtliche und nichtbinäre Kinder und Jugendliche vergeschlechtlichte Logiken der Scham und Schamabwehr integrieren und bewältigen. 

[9] Zu vertiefen wäre hier, wie die Politisierung der Situierung in symbolischen Gewaltverhältnissen bzw. die Verhandlung derselben im gesellschaftlichen Diskurs den Umgang mit Scham in politischer Bildung beeinflusst. Besonders spannend wäre hier zu untersuchen, auf welche Weise und mit welchen (impliziten und expliziten) Zielsetzungen politische Bildner*innen mit (konkreten) Bezügen und Verhältnissetzungen arbeiten.