ELEMENTE EINER THEORIE POLITISCHER SOZIALISATION – SYSTEMATIK, REICHWEITE, LEERSTELLEN, ABGRÜNDE
Björn Milbradt
1. Leerstellen der Forschung
Schon lange beschäftigt sich Forschung zu politischer Sozialisation auch mit solchen Ausprägungen von Sozialisationsverläufen, die zu antidemokratischen Haltungen führen. So untertitelte Wilhelm Heitmeyer seine „Bielefelder Rechtsextremismus-Studie“ mit dem Zusatz: „Erste Langzeituntersuchung zur politischen Sozialisation männlicher Jugendlicher“ (Heitmeyer et al. 1992); Heitmeyer et al. (1989) gaben einen Sammelband zum Thema „Jugend – Gewalt – Staat“ mit dem Untertitel „Politische Sozialisation von Jugendlichen, Jugendpolitik und politische Bildung“ heraus, und die Forschungen von Peter Rieker (1997) sowie Christel Hopf et al. (1995) verbanden Sozialisations- und Bindungsforschung mit dem Entstehen politischer Orientierungen, Moralentwicklung und Gewalt. Nach dieser Welle von Publikationen und Forschungen, in denen politische Sozialisationsforschung mit Gewalt-, Ethnozentrismus- und Extremismusforschung verbunden wurde, war es viele Jahre relativ still um solche und ähnliche Ansätze. Mit der rasanten Entwicklung der Radikalisierungsforschung zu Beginn der frühen 2000er-Jahre und unter dem Eindruck des islamistischen Terrors in der Folge des 11. Septembers 2001 entstand zwar eine Vielzahl von Untersuchungen, Theorien und empirischen Arbeiten, die sich Entwicklungen, Bedingungsfaktoren und Modellierungen des Entstehens radikaler und extremistischer Weltbilder und politischen Gewalthandelns widmete (Milbradt et al. 2022). Gleichzeitig suchten diese Ansätze und wissenschaftlichen Akteur*innen kaum Anschluss an die politische Sozialisationsforschung und auch selten an die Jugendforschung, (analytische) Sozialpsychologie, Entwicklungspsychologie, Biographieforschung oder Gesellschaftstheorie (vgl. überblicksartig Schmid 2013; Milbradt et al. 2022). Tendenziell eher getrennt von der Radikalisierungsforschung erlebt derzeit allerdings auch die Forschung zu politischer Sozialisation ein kleines Revival. So legte jüngst Jessica Lütgens (2021) eine biographische Studie zu linker Politisierung in der Adoleszenz vor, und Arnd-Michael Nohl (2022) unternimmt anhand qualitativer Interviews den Versuch der Formulierung einer an Grundannahmen der dokumentarischen Methode angelehnten Theorie politischer Sozialisation.
In einem von Monika Oberle et al. (2023) vorgelegten „Systematic Review“ zum internationalen Forschungsstand wird jedoch deutlich, dass insgesamt Arbeiten zu politischer Partizipation, politischem Interesse oder „Political Efficacy“ und zahlreichen anderen Einzelelementen von politischer Sozialisation vorherrschen und diese Einzelelemente auch selten in einen expliziten Sozialisationskontext gestellt werden – sie werden also auch nicht als Elemente politischer Sozialisation beforscht. Eine ähnliche Feststellung macht bereits Bernhard Claußen (1996, 20), wenn er ausführt, dass „Forschung zur politischen Sozialisation in mannigfacher Weise wiederkehrend auf die Ausstattung nur einzelner Variablen oder Verbindungen zwischen einigen wenigen von ihnen sich kapriziert“. Dies ist immer noch weitgehend gültig und die genannten Werke von Nohl oder Lütgens stellen eher Ausnahmen von der Regel dar. Diese Zurückhaltung bezüglich einer umfassenden Theoretisierung und Begriffsbildung und einer damit einhergehenden Empirie mag insbesondere am komplexen und nur schwer handzuhabenden Charakter des Begriffs „politische Sozialisation“ liegen. Als ein ausgesprochener Verlaufsbegriff verlangt er in empirischer Hinsicht nach quantitativen und qualitativen Zeitreihen bzw. Panel- und Verlaufsstudien – und dies idealerweise über längere Zeiträume, da sich die Entwicklung politischer Haltungen und Dispositionen genau in solchen de facto abspielt. Und er wird dadurch zu einem ausgesprochen komplexen Begriff – im Unterschied zu leichter handhab- und operationalisierbaren Begriffen wie „politisches Wissen“, „Kompetenz“, „Einstellung“ oder „Engagement“ –, dass durch den Bezug auf Sozialisationsprozesse eine Fülle von latenten und manifesten, vorpolitischen, gesellschaftlichen, sozialen, emotionalen und Persönlichkeitsaspekten aufgerufen wird, die tendenziell alle einen Einfluss auf politische Sozialisation haben können bzw. zu ihren Elementen gehören. Die Definition von Bernhard Claußen und Rainer Geißler (1996, 9 f.) macht dies deutlich:
Als politische Sozialisation lassen sich alle bewußten und unbewußten Prozesse der Wechselwirkung zwischen Personen und ihrer direkt politischen oder zumindest politisch relevanten sozialen, kulturellen, ökonomischen und zivilisatorischen Umgebung bezeichnen. Sie betreffen die geistigen, emotionalen und operativen Komponenten interagierender Persönlichkeiten, die einen Bezug zur Politik als Herrschaft im allgemeinen oder als spezifisches gesellschaftliches System im besonderen mit all ihren jeweiligen Ausformungen und Ebenen haben. Dabei erweist sich die Politisierung des Menschen als ein nicht nur phasen- oder bereichsweise wirksamer Stimulus und Effekt, sondern als ein lebenslang andauernder diffiziler und facettenreicher Vorgang, der alle Momente, Voraussetzungen, Bedingungen, Manifestationen und Flankierungen politischen Bewußtseins, Empfindens und Handelns umgreift. An ihm ist eine große Fülle von planmäßigen und zufälligen Einflüssen wie Aktivitäten der unterschiedlichsten Art beteiligt.
Etwas polemisch könnte man zusammenfassen: Es geht um alles. Daher sind Eingrenzungen, wie sie von Peter Noack und Burkhard Gniewosz (2009, 137) vorgenommen wurden, nur allzu nachvollziehbar. Sie sehen
Merkmale im Vordergrund, die im direkten Sinn für die Auseinandersetzung mit öffentlichen Angelegenheiten bedeutsam sind. Sie können abgegrenzt werden von allgemeinen, inhaltlich nicht spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen wie Intelligenz, Offenheit für Neues oder Gewissenhaftigkeit, die nur mittelbar Bedeutung für die politische Teilhabe erlangen.
In Anlehnung an Claußen (1996) geht es ihnen um „Wissen, Orientierungen und Fähigkeiten, die die Teilhabe am gesellschaftlich-politischen Geschehen ermöglichen“, und es geht ihnen auf der Subjektebene um die Menschen als „staatsbürgerliche Wesen“ (Noack/Gniewosz 2009, 137). Der Begriff der politischen Sozialisation wird auf diese Weise handhabbarer und anschlussfähiger an die quantitative Einstellungsforschung, erziehungswissenschaftliche Wissens- und Kompetenzforschung, Kognitionspsychologie oder auch politikdidaktische Unterrichtsforschung. Die Identifizierung zentraler Aspekte und Faktoren erleichtert außerdem die Operationalisierung in quantitativen Designs und die Ermittlung von Kausalitäten in Veränderungsprozessen im Rahmen von Wirkungsforschungen.
Gleichzeitig geht aber mit dieser Zerlegung in Einzelfaktoren und der Orientierung an Staatsbürgerlichkeit – und das ist die zentrale Ausgangsthese für den vorliegenden Text – das gesellschaftstheoretische, analytische und kritische Potential des Begriffs teilweise verloren und macht ihn tendenziell ununterscheidbar von engeren Konzepten wie dem der politischen Bildung oder eben auch Wissens- und Kompetenzmodellen des Politischen.
Einen deutlich offeneren und breiter angelegten Ansatz wählt Nohl (2022, 47), indem er „als politisch all jene Komponenten von Sozialisation“ versteht, „bei denen Interaktionen, konjunktive Erfahrungsräume und Rollenorientierungen einen Bezug zu ein Kollektiv bindenden, durch Macht durchsetzbaren Entscheidungen haben“. Damit ist einerseits eine größere Offenheit in Bezug auf unbewusste, latente, insgesamt protopolitische Aspekte politischer Sozialisation gewahrt und andererseits etwa auch in Bezug auf den Einsatz rekonstruktiver Forschungsstrategien – wie Nohl sie selbst anwendet – eine bessere Grundlage geschaffen. Auch hier legt aber die Fokussierung auf Macht und Entscheidungen eine starke Orientierung an politischem Engagement und dem politischen System nahe.
Beide hier idealtypisch kurz dargestellten Ansätze politischer Sozialisationsforschung – Noacks wie Nohls – sollen hiermit nicht grundlegend kritisiert werden, denn sie leisten selbstverständlich ihre je spezifischen Beiträge, um Mosaiksteine zum Bild politischer Sozialisation hinzuzufügen. Gezeigt werden soll jedoch auf den folgenden Seiten, dass diese derzeit gängigen Blickwinkel auf Prozesse politischer Sozialisation deutlich ergänzungsbedürftig sind. Dies soll an zwei Argumentationsfiguren beispielhaft dargestellt und begründet werden. In der ersten Argumentationsfigur (A) wird gezeigt, inwiefern Sprache und Denken in ihrer Allgemeinheit immer auch (vor-)politische Aspekte von politischer Sozialisation berühren. Dies betrifft insbesondere Fragen von Gegenstandsangemessenheit und Wahrheit bzw. Erkenntnisfähigkeit. Jene spielen in der derzeitigen Theoriebildung und Forschung zu politischer Sozialisation nahezu keine Rolle. Dies ist insofern überraschend, als dass a) Phänomene wie Fake News und Desinformation als zentrale Bedrohungen für demokratische Gesellschaften wie auch für die Mündigkeit von Subjekten gelten und b) solche „großen“ Begriffe es ersichtlich ermöglichen würden, Anschluss an sozialphilosophische Theorietraditionen zu finden, die aktuell in der politischen Sozialisationsforschung nahezu vergessen scheinen. Wohlgemerkt geht es aber mit solchen Erweiterungen der Theoriebildung nicht darum, einer Entgrenzung im Sinne einer weitgehenden Aufweichung des Konzeptes das Wort zu reden – sondern auf systematische Leerstellen und verschüttete Theorietraditionen aufmerksam zu machen, deren Vergegenwärtigung durchaus auch für die Analyse zeitgenössischer Phänomene und auch Bedrohungen erneut fruchtbar sein kann.
In der zweiten Argumentationsfigur (B) wird – aufbauend auf der ersten – diese Argumentation zugespitzt auf Zustände politischer Sozialisation, die man geneigt ist, als komplett gescheiterte zu bezeichnen. Dies geschieht mit Blick auf Rechtsterrorismus und rechtsextreme Radikalisierung, denn sie stellen gewissermaßen beispielhaft das Andere gelingender politischer Bildung und Sozialisation dar. Sie orientieren sich nicht an Beteiligung, Interessenausgleich, herrschaftsfreiem Diskurs oder mündiger Staatsbürgerschaft in demokratischen Gemeinwesen, sondern an deren Gegenteil: Ausgrenzung, Unterdrückung, totalitäre Herrschaft, Gewalt und Vernichtung. Man könnte eine Beschäftigung der Forschung mit politischer Sozialisation mit solchen Phänomenen ablehnen, weil sie als Ideologie und (Gewalt-)Handeln eben nicht auf im klassischen Sinne Politisches gerichtet sind, auf Aushandlung in einem Gemeinwesen, in einer polis, auf Beeinflussung öffentlicher Angelegenheiten und auf demokratische Teilhabe. Gleichzeitig sind sie aber auch nicht antipolitisch oder a-politisch. Dies sind beispielsweise politische Gewalt wie etwa Terrorismus oder Straßengewalt allein schon deshalb nicht, weil sie – auf teils perverse Weise – auf den politischen Diskurs gerichtet sind, auf (massive) Einflussnahme in demokratischen Gesellschaften und auf staatliche Institutionen und Prozesse. Sie – und der zu ihnen führende (Radikalisierungs-)Weg – würden also zumindest teilweise unter beide oben aufgeführte Definitionen von politischer Sozialisation fallen. Und auch die zeitgenössische Radikalisierungsforschung betrachtet bei genauerem Hinsehen Aspekte von politischer Sozialisation, von Aneignungsprozessen des Politischen und auch von persönlicher politischer Emanzipation in der Radikalisierung (Frank/Scholz 2022) – die dann allerdings persönlich wie politisch fatale Konsequenzen hat und schlimmstenfalls in den Abgrund führt. Solche Prozesse sind jedoch gleichzeitig insofern antipolitisch, als dass sie tendenziell auf das Verschwinden des Politischen als Politisches gerichtet sind – dies ist die letzte Konsequenz totalitärer Weltanschauungen (Milbradt 2018, 2020). Man wird ihnen jedoch nicht gerecht, wenn man sie nur unter diesen Aspekten betrachtet, also als gegen das Politische gerichtete. Ebenso wenig wird man der Vielgestaltigkeit, Gegenläufigkeit und Widersprüchlichkeit von Prozessen politischer Sozialisation gerecht, wenn man ihnen entgegengesetzte bzw. sie unterlaufende Phänomene aus der Forschung zu politischer Sozialisation ausblendet. Vor diesem Hintergrund hat der vorliegende Artikel auch das Ziel, politische Sozialisation von ihrem Abgrund her zu betrachten und damit der Theoriebildung und empirischen Forschung einige Aspekte hinzuzufügen, die bisher noch wenig ausgeleuchtet scheinen. Der Anspruch liegt somit darin, konzeptionell wie auch ein Stück weit experimentell den nun explizierten Zusammenhang zu betrachten und einer zukünftigen weiteren Analyse und Bearbeitung zugänglich zu machen.
2. Argumentationsfigur A: Sprache, Denken und Stereotypie
Eine zentrale Herausforderung nicht nur für das Verständnis gegenwärtiger Bedingungen, Einflussfaktoren und Verläufe politischer Sozialisation, sondern auch für politische Bildung ist sicherlich die Verbreitung von Falschinformationen, Fake News und Propaganda (Bussemer 2008; Pomerantsev 2019). Propaganda, so Thymian Bussemer (2008, 33), zeichne sich unter anderem dadurch aus, dass sie Veränderungen in den subjektiven Realitätskonstruktionen der Menschen vornehme, die dann allerdings zu Realitätsveränderungen führen könnte. Propaganda ziele auf Überredung. Sie
will Menschen davon überzeugen, zu einer spezifischen Frage eine bestimmte Haltung einzunehmen und auch nach dieser Überzeugung zu handeln. Oft geht es auch darum, Menschen in einer bestehenden Einstellung zu bestärken, einmal erzeugte Weltbilder also konsistent zu erhalten. In der Regel propagiert sie ein bestimmtes ideologisches Programm, dessen konkrete Ausprägung sich aber Machtgewinnungs- oder Machterhaltungsansprüchen unterordnet. (Bussemer 2008, 33 f.)
Bei Ideologie und Propaganda geht es also nicht um Verständigung, Welterkenntnis, Angemessenheit, Wahrheit oder Vernunft, sondern um Macht und instrumentelle Beeinflussung von Menschen. Sie „will nicht mit konkurrierenden Botschaften in einen Diskurs um die beste Lösung eingehen, sondern den Menschen ihre Handlungsprogramme aufzwingen. Kompromisse werden von ihr nur aus taktischen Gründen in Betracht gezogen“ (Bussemer 2008, 34). Auch habe sie zur Wahrheit nur ein rein instrumentelles Verhältnis, setze diese nur dort ein, wo sie für die eigenen Anliegen von Nutzen ist oder – paradoxerweise – mit ihr die Entdeckung von Lügen verhindert werden soll.
Propaganda berührt damit die Unterscheidung von richtig und falsch, von Wahrheit und Lüge. Jenseits konkreter politischer Inhalte bzw. ihnen vorgelagert setzt sie also Subjekte voraus, die zu lebendiger Erkenntnis in der Lage sind, zu einem gegenstandsangemessenen Denken, zur prinzipiellen Unterscheidung von Wahrheit und Lüge und zur Kritik von Propaganda. Wo diese Fähigkeit sich nicht mehr ausprägt oder verschwindet, sind Einfallstore für Willkür geschaffen – und die Politik und Propaganda gegenwärtiger autoritärer und diktatorischer Regime ist genau auf dieses Verschwinden von Wahrheit gerichtet: „Nothing is true and everything is possible“ (Pomerantsev 2017, 268).
Nach Konstruktivismus und Dekonstruktion kann allerdings auch nicht mehr davon ausgegangen werden, dass es möglich ist, eine Wahrheit in Bezug auf die Gegenstände der Erkenntnis, auf Weltbilder oder politische Haltungen zu ermitteln. Milbradt (2017, 60) argumentiert diesbezüglich mit Hegel, dass ein nichtrelativistischer und nichtessentialistischer Gegenstandsbezug eine Grundvoraussetzung für gelingende Selbst- und Weltbezüge sei, weil er sowohl eine völlige Willkür im Denken verhindert als auch eine Erstarrung des Denkens in Stereotypie. Dies beruht auf der Annahme, dass Gegenstände des Denkens und der Erkenntnis im Wortsinne dem Denken entgegenstehen, uns also Herausforderungen im Denken und Erkennen stellen, da sie eine Existenz auch jenseits von diesem haben, die wir in unsere Erkenntnis hereinholen müssten, um diesen Gegenständen im Denken gerecht zu werden. Sowohl stereotypes (d. h. erstarrtes) Denken als auch Willkür (etwa durch das Leugnen einer möglichen Gegenstandsangemessenheit) verhindern solche Erkenntnis.
Gegenstands- und Weltbezüge, die nicht in Willkür oder Stereotypie abgleiten, sind dabei keine rein erkenntnistheoretischen Probleme, sondern „gelingende Erkenntnisvollzüge sind […] nur in einer sie ermöglichenden Gesellschaft denkbar“ (Milbradt 2017, 61). Mit Blick auf das Problem der politischen Sozialisation lässt sich diesbezüglich argumentieren, dass das Politische in der Sozialisation nicht erst mit dem expliziten Politikbezug beginnt. Die Fokussierung der Forschung und Theoriebildung auf Einzelfaktoren evoziert damit mindestens eine Einbettung in solche größeren und grundlegenderen Überlegungen und den Anschluss an entsprechende Theorietraditionen. Man kann also das Vor-Politische nicht ohne Verluste ausblenden:
Denn ob das Subjekt der Erkenntnis zu dieser Erkenntnisleistung in der Lage ist, hängt im Wesentlichen nicht nur von individuellen Faktoren ab, sondern auch und gerade davon, ob die Gesellschaft diese Erkenntnisrelationen tendenziell eher ermöglicht oder eher verhindert. Insbesondere in der frühen kritischen Theorie der Frankfurter Schule wird diese […] Erkenntnisrelation eingebettet in eine Gesellschaftstheorie, die den Verfall von Vernunft und das Scheitern der Aufklärung in der zunehmenden Erstarrung von Selbst- und Weltbezügen und in einem stereotypen Denken mit einer entsprechenden stereotypen sozialen Praxis sieht. (Milbradt 2017, 60)
Anschlüsse für die Theoriebildung und empirische Forschung zu politischer Sozialisation lassen sich damit nicht nur zur frühen Kritischen Theorie knüpfen, sondern beispielsweise auch zu Anerkennungs- und Verdinglichungstheorien (Honneth 2006, 2021), die immer mit gelingenden und scheiternden Vorstellungen von Welt- und Selbstbezügen arbeiten. In der frühen Kritischen Theorie jedoch wurden solche Überlegungen am explizitesten mit Phänomenen von Autoritarismus, Stereotypie und Projektivität verknüpft und auch mit der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Autoritäre Persönlichkeiten richten – und dies
ist das stereotype Element des Autoritarismus – im Grunde ihre gesamte Weltsicht, ihre Beziehungen und ihre Handlungen nach dem Prinzip von Über- und Unterordnung ein, und sie besetzen diese stark emotional. Das Verhältnis zu den Eltern, zu den Vorgesetzten, das Verhalten in hierarchischen Situationen, der Umgang mit Ungewissheit und Ambiguität, die Sicht auf Politik, die Gestaltung von (Liebes‑)beziehungen, das Verhältnis zu Sexualität oder Kirche sind nach diesem Prinzip organisiert, das gedankliche Freiheit und Autonomie massiv beschränkt. Deutlich wird daran, dass im autoritären Syndrom auf eine bestimmte Art und Weise gewissermaßen auch der Kontakt zur Welt verlorengeht, dass das ‚Postfaktische‘ hier bereits angelegt ist. Die Sprache dient nicht mehr den vielfältigen Zwecken der Verständigung und Erkenntnis, sondern […] wird eindimensional auf Beschwörung und Befehl ausgerichtet. (Milbradt 2020, 61 f.)
In der Kritischen Theorie sind solche Prozesse des Verfalls von Selbst- und Weltbezügen und Erkenntnisfähigkeit systematisch zusammengedacht mit Projektivität, die bis hin zur (extremen) Gewaltförmigkeit von individuellem und gesellschaftlichen Handeln reichen kann. Eine breitere, gesellschaftstheoretisch informierte Sicht auf politische Sozialisation würde also im Grunde ein Kontinuum mit den Extrempolen gelingender und scheiternder Sozialisation beschreiben – und sich nicht „nur“ Einzelaspekten politischen Engagements oder politischer Haltungen zuwenden. Das „Kippen“ bzw. der Abgrund politischer Sozialisation in die Gewaltförmigkeit soll nun in einer zweiten Argumentationsfigur beschrieben werden.
3. Argumentationsfigur B: Der Abgrund politischer Sozialisation
Radikalisierungsprozesse hin zu Ideologie und politischer Gewalt – das belegt die Radikalisierungs- und Extremismusforschung immer wieder – sind auch Prozesse politischer Sozialisation. Sie beinhalten persönliche Annäherungen an Politik und das Politische, die Entwicklung und Veränderung politischer Haltungen, Sichtweisen auf lokale und globale Konfliktgeschehen, die politische Verarbeitung von Ungerechtigkeitserfahrungen und lebensgeschichtlichen wie auch gesellschaftlichen Krisen. Dies zeigen Modellierungen von Radikalisierungsverläufen (Schmid 2013) ebenso wie biographische Studien (Inowlocki 2000; Köttig 2004; Rommelspacher 2006; Frank/Glaser 2018) und theoretische Einordnungen (Eckert 2020). Schaut man sich die Biographien von Rechtsterrorist*innen an – also solchen Männern (und wenigen Frauen), die ihre totalitären, antisemitischen und rassistischen Ideologien in entsetzliche Taten haben münden lassen – so wird schnell klar, dass wir es hier mit politischen Sozialisations- und gleichzeitigen Ent- oder Desozialisierungsprozessen zu tun haben. Åsne Seierstad (2016) beschreibt in ihrer bedrückenden und faszinierenden Biographie des norwegischen Rechtsterroristen und Massenmörders Anders Behring Breivik dessen Lebensweg und politische Betätigung bis hin zu den Radikalisierungsprozessen, die dann letztlich in den Terroranschlägen von Oslo und Utoya mündeten. So war Breivik bereits im Alter von 19 Jahren für einige Jahre Mitglied der Jugendorganisation der Fremskrittspartiet, einer Partei am rechten Rand des norwegischen Parteienspektrums. Von hier aus bewegte er sich ideologisch immer weiter zu rechtsextremen, rassistischen und antisemitischen Ideenlehren und Organisationen. Seine Politisierung lässt sich beschreiben als ein Prozess der persönlichen Aneignung des Politischen, als ein mindestens in jungen Jahren auch auf Teilhabe am politischen System ausgerichtetes Denken und Handeln und als ein zunehmendes Abgleiten in Ideologien und hin zu Akteur*innen, die im Grunde totalitäre Motive und Ausrichtungen haben und damit als dem Politischen – verstanden als von Macht und unterschiedlichen Interessen geprägte Prozesse in heterogenen Gemeinwesen – entgegengesetzt gelten können.
Man würde jedoch deutlich zu kurz greifen und die dahinterliegenden Prozesse nicht zureichend verstehen, wenn man – und hier zeigt sich die Stärke eines umfassenderen Begriffs der politischen Sozialisation im Vergleich zu Begriffen, die sich auf Wissen, Kompetenzen, politische Selbstwirksamkeit oder Engagement beschränken – sich lediglich auf der Ebene von Kognition und politischer Ideologie bewegt. Vieles der Theorie und Empirie, die sich mit rechtsextremem Terrorismus oder rechtsextremer Ideologie und ihren Elementen beschäftigt, arbeitet seit langem die Verwobenheit von persönlichem Lebensumfeld, familialer und geschlechtlicher Sozialisation, Anerkennung, Emotion und psychologischer Entwicklung heraus. Viele dieser Aspekte würden in der gegenwärtigen Forschung zu politischer Sozialisation vermutlich gar nicht in den Blick geraten, da ihr Zusammenhang mit der politischen Entwicklung von Menschen ausgeklammert wird. Im Falle Breiviks sind dies etwa das berufliche Scheitern, ein problematisches familiales Umfeld, das Abgleiten in Kleinkriminalität, das Scheitern intimer Beziehungen und letztlich auch das Scheitern der persönlichen Verselbstständigung mit dem Wiedereinzug in der Wohnung seiner Mutter, bei der er dann bis zum Attentat lebte.
Eine der nach wie vor eindrücklichsten Studien zum Zusammenhang von Psyche, Emotion und politischer Sozialisation bzw. Ideologisierung ist die Arbeit „Männerphantasien“ von Klaus Theweleit (2000). Theweleit untersucht dort Freikorpssoldaten mittels der Analysen von Briefen, Bildern, Tagebüchern, Biographien und anderen Lebenszeugnissen und kommt zu einer Illustration und Analyse der Genese des faschistischen Mannes, verstanden als eine Art Sozialtypus mit bestimmten psychischen und psychosozialen Eigenschaften. In psychoanalytischem Vokabular lassen sich jene beschreiben als in ihren Objektbeziehungen weitgehend unentwickelte Charaktere, deren Ich kaum vorhanden und unfähig zur Vermittlung von äußerer Welt, Über-Ich und Es ist. Theweleit führt diesen Zustand zurück auf bestimmte, insbesondere frühkindliche Sozialisationsbedingungen, durch die sich in letzter Konsequenz eine Angst vor allem Unordentlichen, Unbekannten, Fremden, vor Sinnlichkeit und Körperlichkeit installiert. Der von ihm beschriebene Typus des soldatischen, faschistischen Mannes benötigt nicht nur rigide psychische und körperliche Abwehrmechanismen gegen diese „Zumutungen“, er geht auch – als erwachsener Mann – in die Bekämpfung und Vernichtung all dessen über, was er als bedrohlich empfindet.
Die im gesamten Werk entfaltete These lautet letztlich, dass dieser faschistische Typus nicht nur seine interpersonalen Beziehungen in dieser Weise gestaltet, sondern letztlich die Welt als eine erstarrte einrichtet – dies betrifft etwa die faschistische Sprache, Architektur, Geschlechterbeziehungen, Umgangsformen, das Soldatische und eben auch die Feindbilder sowie das, was dem Faschisten als vernichtenswert erscheint.
Man kann mit Fug und Recht in Frage stellen, ob diese Analyse jenseits ihres historischen Wertes und ihres analytischen Bezugspunktes der Sozialisationsbedingungen von Freikorpssoldaten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts für die Untersuchung gegenwärtiger Phänomene von großer Relevanz ist. Theweleit (2015) selbst hat in Bezug auf Rechtsterrorist*innen jedenfalls eine solche Übertragung auf gegenwärtige Kontexte gewagt. Die Relevanz der Theweleit’schen Überlegungen für den hier zur Debatte stehenden Blick auf politische Sozialisation ergibt sich jedoch nicht so sehr aus der Analyse gegenwärtiger Sozialisationsbedingungen, sondern als ein Gegenbild dessen, was man sinnvoll als gelingende politische Sozialisation verstehen kann. Im Grunde kommt der von Theweleit beschriebene Typus überhaupt nicht erkenntnis- und erfahrungsmäßig und lebendig mit der Außenwelt in Kontakt: Dies gilt für sämtliche seiner Weltbeziehungen, seien sie zwischenmenschlicher, emotionaler, sexueller, künstlerischer oder eben auch politischer Natur. In politischer Hinsicht zieht Theweleit eine Linie von der frühkindlichen Sozialisation zu den Schreckenstaten der erwachsenen Männer, die sich in steter Abwehr des Lebendigen in der Außenwelt befinden und jene möglichst so stereotyp, erstarrt und letztlich tot einrichten wollen, dass sie ihnen im psychoanalytischen Sinne nicht mehr gefährlich werden können. Ersichtlich besteht hier ein epistemologischer Zusammenhang zwischen allgemeiner Sozialisation, Erkenntnis- und Empathiefähigkeit und politischer Haltung. Man könnte auch sagen, dass es sich um eine gefährliche und potentiell tödliche Form persönlicher und politischer Sozialisation handelt, die Theweleit hier beschreibt - einer, die letztlich auf die Abschaffung des Politischen (verstanden als ein lebendiger Diskurs und ein lebendiges Spiel der Ansichten und Interessen) gerichtet ist.
4. Politische Sozialisation, Erkenntnis und Gesellschaft
In seiner Analyse des Breivik’schen „Manifests“ – einer ca. 1000-seitigen Collage von Sekundärquellen, Internetseiten und eigenen Gedanken – kommt Rainer Just (2011, 72) zu dem Ergebnis, es handele sich hier nur noch um die
Farce eines aufgeklärten Denkens, in der sich der Imperativ zur radikalen Kritik – und das heißt immer auch zur Selbstkritik – bis zur Unkenntlichkeit pervertiert hat. So wie das Text-Konvolut frei von jeder selbstkritischen Reflexion und nur mehr die pseudointellektuelle Maskerade aus Name-Dropping und Wikipedia-Wissen zur Schau stellt – eine Maske, die nichts mehr verbirgt, weil sie überhaupt nicht mehr weiß, was sie verbergen soll – so lässt sich auch noch auf der Seite der Tat die groteske Verzerrung des aufklärerischen Prinzips der Selbstkritik erkennen: das Massaker richtete sich gegen die eigenen Reihen: die Gewalt, die den Fremden meinte, exekutierte sich zu allererst am eigenen „Volkskörper“ und zwar, so könnte man Isolde Charim (2011) paraphrasieren, um sich selbst und eben jenem „Volk“ wieder eine „volle“ Identität zu ermöglichen, die der Attentäterin oder dem Attentäter sonst nicht möglich erscheint. Solchen (rechts-)terroristischen Taten eignet etwas Halluzinatorisches, weil die Verbindung der Täter zur Welt gestört ist und psychisches Bedürfnis, Ideologie und Handeln zusammenfallen, um die Welt (gewaltvoll) den eigenen Vorstellungen anzugleichen.
Für Forschung und Theoriebildung zu politischer Sozialisation deutet sich hier – wie bereits in der ersten Argumentationsfigur grundgelegt – die Möglichkeit an, stärker als bisher Anschluss an die soziologische und sozialphilosophische Theoriebildung zu finden. Dies würde auch den – durch die oben genannte Aufsplittung in Einzelphänomene, Variablen und Indikatoren nicht unbedingt immer beförderten – Bezug auf breitere Sozialisations- und Gesellschaftstheorien erlauben, der in der politischen Sozialisationsforschung derzeit kaum ausgeprägt ist. In Bezug auf ältere theoretische Entwürfe würde sich dies etwa bei der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule anbieten. So werden in der „Dialektik der Aufklärung“ (Horkheimer/Adorno 1987) Antisemitismus und faschistische Gewalt nicht nur mit „großen“ gesellschaftlichen Tendenzen in Verbindung gebracht, sondern auch mit einem als damit verbunden gedachten Scheitern von Erkenntnis- und Objektbezügen:
Wahrnehmung ist nur möglich, insofern das Ding schon als bestimmtes, etwa als Fall einer Gattung wahrgenommen wird. Sie ist vermittelte Unmittelbarkeit, Gedanke in der verführerischen Kraft der Sinnlichkeit. Subjektivität wird von ihr blind in die scheinbare Selbstgegebenheit des Objektes verlegt. Einzig die ihrer selbst bewußte Arbeit des Gedankens kann sich diesem Halluzinatorischen wieder entziehen. (Horkheimer/Adorno 1987, 224)
Im Grunde gehen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno hier davon aus, dass Empathie- und Reflexionsfähigkeit mit der Fähigkeit des Subjektes zusammenhängen, Objekte und Subjekte der Außenwelt zu erkennen und auch das Projektive und Halluzinatorische reflektieren zu können, das ihrer Ansicht nach allen menschlichen Weltbezügen notwendigerweise innewohnt. Aus dieser theoretischen Sicht wären also Antisemitismus und Rassismus oder faschistische Ideologie Gefahren, die mit allgemeinen Prozessen der Sozialisation verbunden sind und deren Möglichkeit in stereotyp erstarrtem Denken (Milbradt 2018) angelegt und mit Projektivität verbunden ist:
Das zwanghaft projizierende Selbst kann nichts projizieren als das eigene Unglück, von dessen ihm selbst einwohnenden Grund es doch in seiner Reflexionslosigkeit abgeschnitten ist. Daher sind die Produkte der falschen Projektion, die stereotypen Schemata des Gedankens und der Realität solche des Unheils. Dem Ich, das im sinnleeren Abgrund seiner selbst versinkt, werden die Gegenstände zu Allegorien des Verderbens, in denen der Sinn seines eigenen Sturzes beschlossen liegt. (Horkheimer/Adorno 1987, 224)
Die Analogien zur Analyse von Theweleit liegen hier deutlich zu Tage, auch wenn jener seine Überlegungen nicht in eine soziologische Gesellschaftstheorie eingebettet hat. Beide Entwürfe gehen davon aus, dass politische Gewalt und menschenfeindliche Ideologien sowohl in der Ontogenese als auch in der Phylogenese begründet sind. Man muss den Autoren in ihren Analysen nicht folgen, sie dienen hier lediglich dazu, einen argumentativen Zusammenhang zwischen individueller Sozialisation und Gesellschaft zu verdeutlichen und die Aufmerksamkeit auf die Relevanz von sozialisatorischen Aspekten zu lenken, die – wie eingangs ausgeführt – nicht unbedingt im Fokus gegenwärtiger Forschung liegen.
Für die allgemeine Sozialisationsforschung lässt sich allerdings konstatieren, dass sie diesen Zusammenhang schon länger sieht und beschreibt (Abels 2015; Veith 2015), auch wenn sie sich mit dem Zusammenhang von Mikro-, Meso- und Makroaspekten der Sozialisation ebenfalls nicht leichttut. So konstatiert auch Matthias Grundmann (2020, 27):
Tatsächlich scheinen die bisherigen Sozialisationstheorien an ein vorläufiges Ende gekommen zu sein. Zwar konnten sie die sozialen Konstruktionsbedingungen menschlicher Entwicklungen plausibel nachzeichnen und begründen, wie sich Individuen in modernen Gesellschaften sozial einbinden und sich in ihr entfalten können […]. Zugleich aber stecken diese Theorien in einer kognitivistischen und kausalanalytischen Falle. Denn sie basieren weitgehend auf der Frage danach, wie Mensch über die Genese von Handlungswissen gesellschaftsfähig wird, sich also als Teil eines sozialen Gemeinwesens sozial reflektiert und schließlich – vor allem kommunikativ – einbringen kann. Die Frage nach den Prozessen des Sozialisierens als Prozesse steter Bezugnahme und der damit einhergehenden Selbst- und Weltkonstruktion wird weitgehend ausgeblendet.
Ähnliches ließe sich sicherlich für die Theoriebildung und auch empirische Forschung zu politischer Sozialisation nachweisen, insbesondere mit Bezug auf kognitivistische oder auch kausalanalytische Fokussierungen. Ohne deren Sinnhaftigkeit für bestimmte Kontexte in Frage stellen zu wollen, ergäbe sich so doch aus einer Einbeziehung breiterer gesellschaftlicher Kontexte und gesellschaftstheoretischer Überlegungen nicht nur die Möglichkeit, diese Einschränkungen zu vermeiden. Angesichts aktueller gesellschaftlicher Krisenerscheinungen und politischer Radikalisierungs- und Polarisierungsprozesse, von Demokratien und liberalen Gesellschaften unter erheblichem Druck, von erstarkendem und teils gewalttätigem und massenhaft unterstütztem Antisemitismus oder auch der Frage nach den Auswirkungen von Desinformation und Propaganda auf politische Haltungen und politische Sozialisation erscheint es naheliegend und dringend notwendig, die Betrachtung von politischer Sozialisation nicht nur auf Wissen, Kompetenz und Kognition zu beschränken.
5. Schluss und Ausblick
Denn diese entwickeln sich nicht im luftleeren Raum, sondern weisen für sich genommen wiederum gesellschaftliche Bezüge und einen Zeitkern auf, der die gesellschaftstheoretische Reflexion umso notwendiger macht. Gleichzeitig lässt sich aus den Überlegungen von Grundmann auch für die Forschung zu politischer Sozialisation ableiten, neben einer stärkeren Bezugnahme auf Gesellschaftstheorie die „Prozesse des Sozialisierens“ verstärkt empirisch in den Blick zu nehmen. Dies würde neben expliziten, formalen und nonformalen Bildungskontexten auch informelle Bildung und proto-politische Sozialisation in Familie (Geißler 1996) und Peer Groups, im Umgang mit digitalen Medien oder in der Rezeption von weltpolitischen Ereignissen – und viele andere Sozialisationsfacetten mehr – betreffen. Ableiten lässt sich daraus auch, dass es verstärkt langfristig angelegte Zeitreihenuntersuchungen braucht, die sowohl quantitative wie auch qualitative Methoden anwenden und beispielsweise junge Menschen über längere Zeiträume auch in ihren Sozialisationskontexten begleiten.
Der in diesem Artikel versuchsweise eingenommene Blick auf den „Abgrund“ politischer Sozialisation – also auf solche Prozesse, die auf Homogenisierung, Unterdrückung, Gewalt und Vernichtung zielen – kann verschiedene Impulse liefern. Theoriesystematisch erlaubt er, die seit einigen Jahren in rasanter Entwicklung begriffene Radikalisierungsforschung verstärkt mit der Forschung zu politischer Sozialisation zusammenzudenken. Dabei geht es nicht um die Ineinssetzung beider Forschungsansätze, sondern um den theoretischen Dialog. Wie eingangs gezeigt wurde, gab es Zeiten in der Forschung zu politischer Sozialisation, in denen dieser Zusammenhang stärker ausbuchstabiert wurde. Denn im Grunde hat man es nicht mit komplett verschiedenen Gegenstandsbereichen zu tun, sondern mit unterschiedlichen Verlaufsformen, die sich in einem Kontinuum zwischen persönlicher, emotionaler, erkenntnismäßiger und politischer Erstarrung und Projektivität auf der einen Seite und einer (idealtypischen) politischen Mündigkeit auf der anderen Seite einordnen (Milbradt 2018) und sowohl historisch als auch lebensphasenspezifisch variieren können.
Normativ wird hier nicht nur angedeutet, dass es einen Unterschied zwischen gelingenden und scheiternden Prozessen politischer Sozialisation gibt, sondern jene sind beispielsweise auch an Fragen von gelingenden und scheiternden Objektbezügen und damit verbundenen emotionalen und erkenntnisbezogenen Entwicklungen und Transformationen geknüpft.
Dass das Verhältnis der Subjekte zum Politischen und zur Politik nicht auf Kontexte der informellen, nonformalen oder formalen politischen Bildung beschränkt ist, findet in diversen Sozialtheorien seinen Niederschlag. Zu nennen wären hier neben der bereits angeführten Kritischen Theorie etwa die Anerkennungstheorie Axel Honneths (2021), psychoanalytische Theoriebildungen über das Verhältnis von Emotion und Fremdheit (Streeck 1993), über Entfremdung (Jaeggi 2005) oder auch erziehungswissenschaftliche Theorien der Subjektivierung (Alkemeyer et al. 2013). Angesichts einer absehbar weiterhin oder zunehmend krisenhaften gesellschaftlichen Entwicklung scheint es ratsam, neben der Selbstbeobachtung der Gesellschaft durch Einstellungsuntersuchungen, theoretisch und empirisch verstärkt auch wieder langfristige Prozesse der „Politisierung des Menschen“ (Claußen/Geißler 1996) in ihrer Komplexität in den Blick zu nehmen. Eine Betrachtung auch von ihren Abgründen her kann hilfreich sein, um ein vertieftes Wissen über Elemente des Gelingens und Scheiterns politischer Sozialisation zu erlangen und dabei nicht nur Momentaufnahmen anzufertigen, sondern Prozesse von De- und Repolitisierung, politischer und emotionaler Transformation, Erstarrung oder Verlebendigung zu beschreiben.
Literatur
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