REZENSION ZU: DAHMEN, STEPHAN/DEMIR, ZEYNEP/ERTUĞRUL, BARIŞ/KLOSS, DANIELA/RITTER; BETTINA (HRSG.) (2024): POLITISIERUNG VON JUGEND.
Weinheim: Beltz Juventa - 268 Seiten, ISBN: 978-3-7799-7170-2, 36,00 €
Ninja Bandow
Der Forschungsgegenstand der politischen Sozialisation hat sich in den letzten Jahren intensivierter Forschung stark ausdifferenziert (vgl. u. a. Lütgens 2021; Kruse 2022; Nohl 2022). Lange dominierten in erster Linie Meinungsumfragen und Einstellungsmessungen – Mixed-Methods- und teilqualitative Studien, wie die von Nicolle Pfaff (2006), die sich mit jugendkulturellen Praktiken und politischen Orientierungen auseinandersetzt – waren eher eine Seltenheit. Fruchtbar zeigen sich für das Forschungsfeld der letzten Jahre die Zunahme an qualitativ-explorativen Studien und die Öffnung von starren Politikdefinitionen. Obwohl die Kindheit und Familie als besonders prägend für die politische Sozialisation gesehen werden (vgl. Reinders 2016), hört politische Sozialisation hier nicht auf. So führen auch viele spannende Fragen ins Jugendalter und in die Peerforschung. Aktuell zeichnet sich das Feld durch viel Bewegung aus: beispielsweise laufen aktuell zwei Forschungsprojekte an der Universität Zürich[1] und an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg,[1] die Jugendalter und Politisierung ins Zentrum stellen. Der neue Sammelband von Dahmen, Demir, Ertuğrul, Kloss und Ritter (2024), kürzlich im Beltz Verlag in der Reihe Jugendforschung erschienen, rückt ebenso die Politisierung von Jugend mit 13 Beiträgen in den Fokus. Nicht nur finden sich hier theoretische und empirische Artikel, die neue, lebensweltliche Perspektiven eröffnen, die Publikation zeigt darüber hinaus, wie sich die Forschungsbemühungen der letzten Jahre intensiviert haben und unterstreicht die prozessuale Ebene von Politisierung.
Kritisch stellt der Sammelband von Dahmen et al. (2024) zu Beginn normative Vorstellungen von Jugend und politischem Engagement in Frage. Hierbei verlassen einige Autor*innen der Beiträge Orte etablierter politischer Organisationen und richten auch den Blick auf (ästhetische) Lebenswelten von jungen Erwachsenen. Neben diesem breiteren Verständnis von Engagementformen in den Einzelbeiträgen und in der Einleitung der Herausgeber*innen, wird auch die Diskussion über eine weite, lebensweltliche Politikdefinition, aufgenommen, die allerdings stärker ausbuchstabiert sein könnte. Ins Auge fällt zudem direkt eine interdisziplinäre Ausrichtung des Bandes, was der Komplexität des Gegenstandes gerecht wird. Der Sammelband gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil beschäftigen sich die Autor*innen mit Theorieproblemen in Hinblick auf die Politisierung von Jugend. Im Gleichklang wird hier wieder für einen möglichst breiten Begriff des Politischen plädiert (Walther) und die Grenzen zum Begriff des Sozialen, also der allgemeinen Vorstellung von Sozialisation, werden ausgelotet (Scherr). Auch wird das Nachdenken über jugendliches Engagement aus einer Erwachsenenperspektive kritisch reflektiert (Schelling). Neben den grundlagentheoretischen Beiträgen erweitert auch der zweite Teil des Bandes unter dem Titel „Politisierung in Biografie und Lebens(ver)läufen“ aktuelle Theoriediskussionen und fokussiert auf die prozessuale Ebene politischer Sozialisation. Hierbei wird die Komplexität des Gegenstandes durch die multiperspektivischen Forschungszugänge nachvollziehbar abgebildet. Nicht nur werden verschiedene Method(odologi)en – bspw. dokumentarische Methode und Diskursanalyse – angewendet, sondern auch die Gegenstandstheorien reichen von gruppenbezogener Abwertung und Rassismus (Pfaff, Hertel, Hübscher, Kaddor, Bilgi und Fischer) über linke Politisierung (Lütgens), generationale Konflikte (Ertuğrul und Isenberg Lima) und Sozialisationsinstanzen (Zschach und Sauermann) bis hin zu raumtheoretischen Zugängen (Schott und Häring). Die Autor*innen des dritten Teils beschäftigen sich aus verschiedenen gegenständlichen Kontexten mit „Politisierung in Fremd- und Selbstpositionierungen“. Hier werden generalisierte Stimmen von verschiedenen Jugendbewegungen untersucht (Van de Velde), es geht um Partizipation und institutionelle Ordnung (Klingler), Partizipation und Engagement von postmigrantischen Jugendlichen aus türkischen Familien in Deutschland (Demir, Bayad, Uysal, Düzen und Zick), Stabilisierung politischer Kollektive (Posmek) und ästhetische Artikulationen in Fan-Kulturen (Babenhauserheide).
Die einzelnen Beiträge zeichnen sich durch Themen mit hohem Aktualitätsbezug aus und geben spannende Impulse für die weitere Forschung am Thema Politisierung und Jugend(en). Da nicht alle Beiträge im vollen Umfang besprochen werden können, konzentriere ich mich im Folgenden auf zwei Artikel, welche Emotion und Politik thematisieren. Cécile Van de Velde betont in ihrem englischsprachigen Beitrag zu sozialen (Jugend-)Bewegungen die Rolle von Emotion in Hinblick auf Politisierung. Van de Velde diskutiert zunächst drei Facetten generationstheoretischer Überlegungen – Unzufriedenheit bzw. Ungerechtigkeit, Identität und Emotionen. Diese bilden die Basis der Analyse von Protestslogans (verbal und textlich) verschiedener (Jugend-)Bewegungen, die miteinander verglichen werden. Leider spielen die zu Beginn aufgestellten Analyseeinheiten – wie auch Emotion – dann in der Auswertung kaum mehr eine Rolle. Allerdings stellt Van de Velde in ihrer Analyse die generationalen Implikationen der untersuchten Bewegungen vor dem Hintergrund starker Politisierung und intergenerationaler Ungleichheiten als Befund heraus. Einen größeren Stellenwert bekommen Emotionen bei Jessica Lütgens. Diese widmet sich einer biografischen Perspektive auf Politisierung im Jugendalter und diskutiert anhand eines exemplarischen Falls aus ihrer Dissertation die Frage, wie genau sich eine politische Aktivwerdung vollzieht. Der Einblick in die elaborierte Fallrekonstruktion unterstützt dabei die anschließende theoretische Diskussion, welche Lütgens anhand von Bezügen zur kritischen Theorie entfaltet. Neben aufschlussreichen Erkenntnissen wie der Verwobenheit von „allgemeiner“ Sozialisation und politischer Sozialisation entwickelt die Autorin neue, spannende Ansätze zum Weiterdenken. Hierbei stellt sie Affekte und Emotionen als „immanenten Bestandteil“ (Lütgens 2024, 107) von politischer Sozialisation als Rekonstruktionsergebnis heraus, was anschließende Fragestellungen an der Schnittstelle zur Sozialpsychologie eröffnet und gleichzeitig erneut auf die Brisanz biografisch-lebensweltlicher Ausdrücke des Politischen verweist.
Liest man die einleitenden Worte der Herausgeber*innen, wird deutlich, wie viel sich seit der Publikationsflaute der 2000er- bis 2010er-Jahre getan hat. Die Autor*innen des Sammelbands zeichnen ein weitaus optimistischeres Bild von Jugend und Politik, geben Ausblicke auf offene Fragen zur Konstruiertheit des Jugendbegriffs und fordern einen reflektierten Umgang von Forschenden mit juvenilen Thematiken in Bezug auf generationale Ordnung. Gleichsam bleibt wie so oft die informelle Ebene der politischen Sozialisation auch im vorliegenden Sammelband eher ein Randthema. Zwar benennen die Herausgeber*innen bspw. das Chillen als erkenntnisstiftende Praxis in diesem Zusammenhang (vgl. Dahmen et al. 2024, 15), allerdings wird auf wichtige Arbeiten nicht verwiesen (z. B. die kürzlich erschienene Studie von Mengilli 2022). Der Sammelband gibt dennoch zahlreiche theoretische und empirische Anstöße für weitere Forschung in dem Feld Jugend und Politik. Die Pluralität jugendlicher Lebenswelten, welche in der Einleitung durch die Überlegung zur Konzeption von Jugenden betont wird, wird definitiv herausgearbeitet. Gleichzeitig sollten ausgemachte Desiderate, wie die Rolle von Emotionen in Politisierungen, weiterverfolgt werden, wobei alltägliche Aushandlungsprozesse stärker zum Gegenstand werden müssten.
Literatur
Kruse, Merle-Marie (2022): Politik, Medien und Jugend. Politikverständnisse und politische Identität im mediatisierten Alltag Jugendlicher. Bielefeld: Transcript.
Lütgens, Jessica (2021): ‚Ich war mal so herzlinks‘ – Politisierung in der Adoleszenz. Eine biographische Studie. Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich.
Mengilli, Yağmur (2022): Chillen als jugendkulturelle Praxis. Wiesbaden: Springer VS.
Nohl, Arnd-Michael (2022): Politische Sozialisation, Protest und Populismus. Erkundungen am Rande der repräsentativen Demokratie. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
Pfaff, Nicolle (2006): Jugendkultur und Politisierung. Eine multimethodische Studie zur Entwicklung politischer Orientierungen im Jugendalter. Wiesbaden: Springer VS.
Reinders, Heinz (2016): Politische Sozialisation Jugendlicher Entwicklungsprozesse und Handlungsfelder. In: Gürlevik Aydin/Hurrelmann, Klaus/Palentien, Christian (Hrsg.): Jugend und Politik. Wiesbaden: Springer VS, 85–101.
[1] Das SNF-geförderte Projekt trägt den Titel „Biografische Erfahrungen und politisches Engagement im Jugendalter“ unter der Projektleitung von Prof. Dr. Peter Rieker (Laufzeit 01/2023–12/2026).
[2] Das DFG-geförderte Projekt trägt den Titel „Politische Orientierungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Spannungsfeld von Familie und Peers“ unter der Projektleitung von Prof. Dr. Cathleen Grunert, Prof. Dr. Heinz-Hermann Krüger und Dr. Katja Ludwig (Laufzeit 5/2023–4/2026).
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