ERFAHRUNG, AFFEKT UND HALTUNG – ÜBER BIOGRAPHISCHE ERFAHRUNGSRÄUME, AFFEKTIVE HALTUNGEN UND POLITISCHE POTENTIALE

Alina Brehm[1]

1. Einleitung

Biographische Erfahrungen prägen unsere Haltung zur Welt in Form von Einstellungen, Moralvorstellungen und Lebensentwürfen. In Krisenzeiten werden rationale Einstellungsdimensionen zurückgedrängt, Zustimmungswerte zur Demokratie sinken und menschenfeindliche Ansichten nehmen zu (vgl. z. B. Zick/Klein 2014) – doch zugleich sind Akte der Solidarität und verstärktes prodemokratisches Engagement zu beobachten (vgl. z. B. Borbáth et al. 2021). Die Frage nach affektiven und unbewussten Anteilen von Einstellungen oder Haltungen, ihren emanzipatorischen wie antiemanzipatorischen Potentialen, gewinnt parallel zu ihrer politischen Bedeutung an wissenschaftlicher Relevanz (s. Petrik et al. in diesem Heft).

In diesem Artikel wird anhand von Ausschnitten aus einem biographisch-narrativen Interview dem Zusammenhang von biographischen Erfahrungen, affektiven Haltungen und politischem Handlungspotential nachgegangen. Dieses Verhältnis ist insbesondere deswegen interessant, weil affektive Impulse nicht immer der manifest artikulierten (politischen) Einstellung entsprechen, dieser vielleicht sogar zuwiderlaufen, aber dennoch handlungsleitend sein können (vgl. z. B. Adorno 1976). Diese Impulse kommen nicht aus dem Nichts, sondern sind verknüpft mit der Art und Weise, wie jemand die Welt fühlend wahrnimmt und welche Potentiale und Bereitschaften zum Fühlen, Denken und Handeln darin liegen – etwas, das ich in meiner Forschung mit dem Arbeitsbegriff affektive Haltungen beschreibe. Gemeint ist damit die affektive Ebene der grundlegenden, verleiblichten Weisen des Welt- und Selbstbezugs. Diese Ebene ist in vielen Konzepten zu Sozialisation oder biographischen Verarbeitung lebensgeschichtlicher Erfahrungen mehr oder weniger stark mitgedacht (meist aber wenig systematisch ausgearbeitet). Affektive Haltung akzentuiert dabei drei Aspekte: die Affektivität, das Unbewusste und das handlungsleitende Potential dieses affektiven Erlebens. Der Fokus des Beitrags liegt auf der Potentialität jener Affektivität für (politische) Handlungen.

Im Folgenden gehe ich davon aus, dass ein durch biographische Erfahrungen geprägtes Selbst- und Weltverhältnis auf der affektiven Ebene eine je spezifische Ansprechbarkeit nach sich zieht.

Die Affektivität färbt das Erleben und verschafft sich verschiedentlich Gehör. Sie macht ansprechbar für das eine und weniger für das andere und kann dabei auch in einer Weise handlungsleitend wirken, die bewussten Einstellungen und dem eigenen Selbstbild widerspricht. Um sich ihrer Entstehung, ihrer Transformation und ihren Auswirkungen zu nähern, sind die Konzepte des Habitus (Bourdieu 1987), der Interaktionsformen (Lorenzer 1981) und der affektiven Intentionalität (Slaby 2011a) hilfreich. Diese theoretischen Perspektiven werden im Kontext des Artikels exemplarisch auf das Phänomen der Provinzialität bezogen, das Bernd Belina (2021, 2022) im Anschluss an Theodor W. Adorno ausgearbeitet hat. Dafür werden zunächst die genannten Zugänge kurz umrissen bevor einige Szenen des Interviews genauer betrachtet und zuletzt die verschiedenen Ebenen noch einmal ausführlicher zusammengeführt werden.

2. Zugänge

2.1 Habitus

Der Habitus wie Pierre Bourdieu ihn gefasst hat, beschreibt lebensgeschichtlich sedimentierte und verleiblichte Muster vergangener Erfahrungen, die ihre Struktur der Umwelt verdanken, in welcher sie durchlebt wurden und die wiederum das eigene künftige Wahrnehmen und Verhalten prägen (vgl. Bourdieu 1987). Das geschieht in Abhängigkeit zu sozialen Feldern und Klassen über die dort verinnerlichten sozialen Erfahrungen. So entstehen spezifische Schemata, „die die Handlungen, Wahrnehmungen und das Denken der sozialen Akteurinnen und Akteure strukturieren“ (King 2022, 35). Als Resultat ergibt sich beispielsweise so etwas wie ein akademischer Habitus, ein kleinbürgerlicher Habitus, ein fußballerischer Habitus oder ein geschlechtsspezifischer Habitus. Diese spiegeln sich sowohl in körperlichen Ausdrucksformen als auch im Geschmack oder in den Einstellungen. Der Habitus berührt dabei die Ebenen des Denkens, Fühlens und Handelns.

Bei Bourdieu ist jedoch sowohl der affektive Aspekt unterbestimmt (vgl. Threadgold 2020) als auch insbesondere die Frage danach, wie genau der Prozess abläuft, in dem sich der Habitus bildet (vgl. Brehm/Petrik 2021; King 2022). Alfred Lorenzers Theorie der Interaktionsformen kann insbesondere an letzterem anschließen.

2.2 Interaktionsformen

Die Theorie der Interaktionsformen beschreibt, wie sich Interaktionen in die Subjektstruktur einschreiben – aus einer Reihe ähnlicher Interaktionen entsteht dann die Repräsentation dieser Interaktionsform, die kognitiv wie leiblich verinnerlicht wird. Der Habitus ließe sich vor diesem Hintergrund verstehen als Ergebnis der Einschreibung spezifischer Interaktionsformen im Sinne eines Sozialisationsprozesses (vgl. Lorenzer 1973; Schuhmacher 2021, 202).

Lorenzer unterscheidet sinnlich-unmittelbare, sinnlich-symbolische (präsentative) und sprachsymbolische (diskursive) Interaktionsformen. Als sinnlich-unmittelbare Interaktionsformen begreift er unmittelbar sinnliche/körperliche Interaktionen zwischen dem Baby und seinen ersten Bezugspersonen, die noch gar nicht symbolisiert werden können. Sinnlich-symbolische oder präsentative Interaktionsformen sind beispielsweise Musik, Kunst, Fahnen, Rituale, der Geschmack von Rotwein oder Poesie – Symbole, die eine Erlebnisweise zum Ausdruck bringen, die nicht allein in Sprache aufgeht. Sprachsymbolische oder diskursive Interaktionsformen meinen die Sprache an sich, also die Art wie Erleben sprachlich symbolisiert werden kann. Welche sprachlichen Symbolisierungen zur Verfügung stehen, ist dabei sowohl abhängig von gesellschaftlichen Normen im Sinne von Sagbarem als auch individuellen biographischen Verarbeitungen – gibt es in der jeweiligen Sprache überhaupt ein Wort dafür? Darf „man“ das sagen? Und „darf“ ich das sagen? Um zu symbolisieren, braucht es Symbolsysteme (z. B. die Sprache oder die Performanz des Geschlechts).

Lorenzer bezieht dabei die psychoanalytische Erkenntnis des Unbewussten systematisch mit ein: Verleiblichte Interaktionsformen entfalten ihre handlungsrelevante Wirkung unbewusst, solange sie nicht symbolisiert und damit situationsunabhängig gedacht werden können (vgl. Lorenzer 1981). Durch De-Symbolisierung werden dabei Symbole zu Klischees, bei denen „sich das Spiel über den Kopf der Individuen hinweg durchsetzt“ (Lorenzer 1970, 909).

2.3 Affektive Intentionalität

Die Art des affektiven Wahrnehmens der Welt, in dem vor allem mein Erkenntnisinteresse liegt, begreifen sowohl Lorenzer als auch Bourdieu (auch) als Ergebnisse von Habitualisierungsprozessen bzw. Einschreibung von Interaktionsformen. Für die Frage, wie (sozialisierte und sozialisierende) Affekte das eigene Erleben und Verhalten prägen, ebenso wie beispielsweise das Feld im Sinne von Bourdieu über seine (affektiven) Atmosphären wirkt, ist Jan Slabys Verständnis einer affektiven Intentionalität ein hilfreicher Ansatzpunkt. Damit beschreibt er, wie Gefühle als Situierungen im Möglichkeitsraum verstanden werden können (vgl. Slaby 2011a). Gefühle und Affekte erschließen für Slaby das Spektrum von existenziellen Möglichkeiten, d. h. Verhaltens- und Handlungsmöglichkeiten. Manches drängt sich durch sie auf und anderes kann sogar völlig aus dem Bereich des Denkbaren verschwinden (vgl. Slaby 2011a, 32–33).

Beispielhaft sieht man diese Situierung im Möglichkeitsraum an der Wut, die blind machen kann für Ambivalenzen, Zwischentöne oder vermeintlich objektiv Naheliegendes. Aber nicht nur übermannende, intensive Gefühle prägen die Handlungsoptionen im Möglichkeitsraum, sondern auch die sogenannten Hintergrundgefühle. Gemeint sind damit Gefühle, die mit keiner intensiven, sondern mit einer kaum spürbaren Erregung verbunden sind und unabhängig von einem konkreten Objekt über eine längere Zeit wirkungsvoll im Hintergrund das Erleben färben (vgl. Slaby 2011a, 28), wie beispielsweise Melancholie oder Langeweile.

Zuletzt vermessen nicht nur die Gefühle, die mehr oder weniger „in einem selbst“ liegen, die man also in spezifische Situationen biographisch „mitbringt“, den Möglichkeitsraum, sondern auch die Atmosphären, in die man an sozialen oder materiellen Orten „eintaucht“. Diese wirken wiederum zurück auf die eigene Affektivität (vgl. Slaby 2011b).

2.4 Provinzialität

Milieus, Verhaltensweisen, Atmosphären und Interaktionsformen, die sich auf die Entstehung von (affektiven) Haltungen auswirken, können unterschiedliche Qualitäten aufweisen und eine Kombination bestimmter Rahmenbedingungen kann einem Typus zugeordnet werden. Eine (Teil-)Eigenschaft der biographischen Räume im vorgestellten Fall, die sich durch die interpretative Arbeit im Dialog mit dem hier vorgestellten Material aufgedrängt hat, lässt sich mit dem Konzept der Provinzialität fassen.

„Provinzialität“ ist ein Begriff, den Belina im Jahr 2021 im Anschluss an Adorno erstmals systematisch ausgearbeitet hat, um ihn für die Humangeographie fruchtbar zu machen. Als „eine spezifische Verbindung von individueller Geisteshaltung, sozialen Verhältnissen und Raum“ (Belina 2021, 106) ist für die Provinzialität die Überhöhung des eigenen Ortes und ein beständiges Gefühl der Bedrohung von außen ebenso kennzeichnend, wie das Denken in vorgeblich klaren Kategorien (vgl. Belina 2022, 45, 48). Urbanes wird im Lichte der Provinzialität dagegen assoziiert mit den „Zumutungen des Fremden, des Unerwarteten und Unberechenbaren, der hohen Kultur ebenso wie der Subkultur“ (Metz/Seeßlen 2018, 167, zit. nach Belina 2022, 54). Das politische Potential der Provinzialität als Haltung liegt einerseits in ihrer Anschlussfähigkeit für Autoritarismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit über die scharfe Gegenüberstellung von Eigenem und Fremdem (vgl. Belina 2022, 45). Andererseits birgt sie aber auch ein utopisches, emanzipatorisches Moment im Festhalten an Geborgenheit und (Kindheits-)Glück als Gegenentwurf zur urbanen Entfremdung und „Verhärtung“ (vgl. Adorno 1966; Belina 2021, 107–108, 121–122). Wie genau dieses Phänomen in der Lebensgeschichte des Interviewpartners sichtbar wird, steht nach einer kurzen Beschreibung des methodischen Vorgehens im Zentrum der Betrachtung.

3. Methodisches Vorgehen

Das nachfolgend vorgestellte Interview stammt aus dem größeren Gesamtkontext meines Dissertationsprojekts „Affektive Haltungen. Zur biographischen Entstehung affektiver Dispositionen als Potentiale für politische Handlungen“ (Laufzeit: 2021–2024). In diesem Projekt spüre ich der biographischen Entstehung und Transformation affektiver Haltungen nach. Dafür habe ich bislang im Sinne eines explorativen Samplings (Glaser/Strauß 1967) sieben Personen mit verschiedentlichsten Hintergründen und Lebensrealitäten (Schüler*in, Student*in, Rentner*in, Sportler*in; Großstadt, Dorf/Land, Speckgürtel etc.; politisch gar nicht bis stark engagiert und interessiert etc.) zwischen 16 und 78 Jahren aus Österreich und Deutschland interviewt. Weitere, kontrastierende Fälle werden im Sinne eines Theoretical Samplings (Strauß/Corbin 1990) nach vertieften Auswertungen folgen. Ebenso schließen sich einige an die Interviews anknüpfende ethnographische Beobachtungen an, die sich an den biographisch als relevant markierten realen wie sozialen Orten orientieren, um deren Atmosphären und ihren Einfluss auf die Entwicklung affektiver Haltungen in den Blick zu nehmen.

In den biographisch-narrativen Interviews wurden neben der Frage nach der Lebensgeschichte und immanenten Nachfragen auch exmanente Leitfragen, orientiert an potentiell relevanten Themen und Lebensbereichen, gestellt sowie Bilder als Affekt- und Erzählstimuli gezeigt. Perspektivisch werden die Interviews und ethnographischen Beobachtungen im Projekt selbst tiefenhermeneutisch (vgl. Lorenzer 1986; Abd-al-Majeed et al. 2020) und biographisch-rekonstruktiv (vgl. Schütze 1983; Dausien 1996; Rosenthal 2005) ausgewertet. In diesem Artikel folge ich dabei ersten Deutungsspuren im Sinne eines explorativen An-Interpretierens.

4. Der Fall

Am Fallbeispiel „Julian“[2] wird im Folgenden gezeigt, inwiefern Orte und Interaktionen von Provinzialität und Urbanität gekennzeichnet sein können und wie diese sich als Phantasien manifestieren, die auf affektive Ansprechbarkeiten verweisen. Zum anderen wird deutlich werden, wie Widersprüche in und zwischen politisch-moralischen Positionierungen und affektiven Erzählungen aufscheinen.

4.1 Kurzes Fallporträt

Das Interview mit „Julian Kunze“ wurde 2021 per Zoom geführt.[3] Auf zwei Termine verteilt haben wir insgesamt fast sechs Stunden miteinander gesprochen. Zum Zeitpunkt des Interviews war er Ende 20. Julian stammt aus einem Dorf in ländlicher Gegend, die nächste Großstadt ist fast zwei Stunden entfernt. Nach seinem Abitur und einem Fachhochschulstudium arbeitet er im Finanzbereich, während er nebenbei noch ein weiterführendes Studium absolviert. In seiner Freizeit ist er sportlich aktiv. Er hat einen jüngeren Bruder, Tobi, der eine handwerkliche Ausbildung macht. Perspektivisch wünscht er sich Frau und Kinder, hat aktuell aber keine Partnerin. Die Sehnsucht nach einer eigenen Familie ist ein großes Thema. Freund*innen gibt es in seiner aktuellen Lebensphase eher wenige. Die patrilokalen Strukturen in seiner Herkunftsgegend sind so stark ausgeprägt, dass er bereits im Kindergarten in die Position des Fremden oder Außenseiters gedrängt wird, weil die Familie in das benachbarte Dorf umzieht, aus dem seine Mutter stammt, statt im Heimatdorf des Vaters zu bleiben. Die Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem im Alltag, die Konkurrenz zwischen benachbarten Dörfern und die klar festgelegten Geschlechterrollen verweisen auf die provinzielle Struktur von Julians Herkunfts-Lebenswelt. Politisch bezeichnet er sich selbst als „Mitte-rechts“, mit Sympathien für die Monarchie als Staatsform und ist sporadisch lokalpolitisch für eine konservative Partei engagiert. Manifest vertritt er während des Interviews einen konservativen bis liberalen Wertepluralismus, der teilweise jedoch stark in Kontrast steht zu seinen erzählten Affekten und Handlungen.

4.2 Die Szenen

In den Materialausschnitten werden im Rückgriff auf die vorgestellten theoretischen Perspektiven ausschnitthaft vier Bereiche in den Blick genommen: Was für ein Raum des Aufwachsens wird hier geschildert? Was für prägende familiäre Erfahrungen gibt es? Welche Träume und Sehnsüchte äußern sich? Wo und wie zeigen sich Affekte, die womöglich manifesten Einstellungen widersprechen?

Ausdrücke der Provinzialität stehen in jenen vor diesem Hintergrund ausgewählten exemplarischen Szenen – Kirmes, Dorf, Familie, Traum, Stadt – im Vordergrund. Welche Affekte spielen dabei eine Rolle, welches Fühlen legt die Provinzialität nahe? Im daran anschließenden Kapitel folgen dann weitere zusammenfassende Benennungen der möglichen Mechanismen im Sinne von Habitus und Interaktionsformen und die Frage: Was bedeutet all dies für die affektive Ansprechbarkeit des Interviewpartners und das Potential für zukünftige biographische Entwicklungen?

4.2.1 Kirmes: „Das ist halt komplett frauenfei-, frauenfreie Zone.“

Eine biographische Erfahrung, die Julian bereits in seiner Eingangserzählung als wichtig markiert, ist das sogenannte „Kirmeshalten“. Kirmeshalten ist in seinem Heimatdorf nach einer einjährigen Vorbereitungszeit der Höhepunkt eines komplexen Initiationsritus für die männliche Jugend, die damit in die Gesellschaft der Erwachsenen eingeführt wird. Die Gruppe von jungen Männern, die in einem bestimmten Jahr Kirmes halten wird, wird bestimmt durch den Zeitpunkt ihrer Einschulung in die örtliche Grundschule. Zur Kirmes sind sie dann ungefähr 17 bis 18 Jahre alt.

Das rituelle Zelebrieren von Männlichkeit spielt bei diesem Ritual eine zentrale Rolle. Der Teil, um den es in der folgenden Szene geht, findet am Morgen der Kirmes im Wald statt, wenn der Kirmes-Baum geschlagen wird:

Aber morgens im Wald ist halt immer, das ist halt komplett frauenfei-, frauen-freie (hadert beim Aussprechen) Zone, wup komisches Wort. Ähm, also da sind Frauen... hah (seufzt)... illegal ist falsch, aber ich sage mal sehr unerwünscht //mhm//, ähm, weil, das ist halt wirklich, das ist dann so reiner Männerhaufen. Ich glaube auch nicht, dass eine Frau sich da wirklich lange wohlfühlen würde. Muss ich auch dazu sagen, weil da wird halt... ja im Prinzip alles gemacht, was man so klischeemäßig oder auch höflichkeitsmäßig nicht in der Gegenwart von einer Frau macht. Also da wird, öh, ja eigentlich gepinkelt, wo man steht, da wird gerülpst, gefurzt, äh dummes Zeug geschwätzt also... ähm und auch in ner Sprache wo du dir so als normaler Mensch (I[4] lacht), wenn du da vorbeigehst, denkste, okay, das ist-, sind die absoluten Kernassis. (J1, Z. 812–821)

Es fällt Julian schwer, das männerbündische und Frauen exkludierende Moment dieses Rituals in Worte zu fassen („frauenfei-, frauen-freie“). Frauenfeindlichkeit ist in der Interviewsituation manifest verpönt und nicht aussprechbar.

Nach erfolgreicher Kirmes und Übergabe an den nächsten Jahrgang sitzt die Kern-Gruppe der Männer im Morgengrauen zusammen:

Und wenn irgendwann die Promillezahl erreicht ist, merkst du halt auch nicht, dass um dich rum nur noch fünf Grad oder so was sind //mhm//. Ja und da saßen wir da mit vier Leuten und, ähm... ja, wir waren dem Tod eigentlich näher als dem Leben. Also das war... Grenzwertig. […] Und da war ich vollkommen am Ende. Uund... was ich eben schon gesacht hab, so dieser Zusammenhalt, das hat sich halt bis dato jetzt bewahrheitet. (J1, Z. 900–908)

Das gemeinschaftliche Ritual ist individualitätsfeindlich. Massenpsychologisch zelebriert der „Männerhaufen“ im Wald regressiv-enthemmt die Nichtbeachtung der Regeln intersubjektiver Wahrung der Intimsphäre und „unzivilisierte Männlichkeit“. Ab der weiterführenden Schule hatte sich die Gruppe des gemeinsamen Grundschuljahrgangs in ihren Lebenswelten sozial gemischt mit Personen aus umliegenden Dörfern oder ganz anderen Städten. Nun besinnen sie sich wieder auf die ursprüngliche lokal eingegrenzte Gemeinschaft. Während des Einschwörens dieser Gemeinschaft wird gleichzeitig mal spielerischer, beispielsweise bei Besuchen anderer Kirmessen in den umliegenden Dörfern, und mal ernster die Abgrenzung oder Feindschaft zwischen dem Eigenen und dem Fremden, Männern und Frauen, Initianden und Passanten, „die da vorbeigehen“ inszeniert. Diese Unterscheidung von Eigenem und Fremdem ist ein Kernelement des Provinziellen.

Im „frauenfreien“ Wald werden sie zum (affektiv auch frauenfeindlichen) „Haufen“ anstelle von höflichen, disziplinierten Subjekten und erleben zusammen ein waghalsiges Abenteuer, wie die (zumindest imaginierte) Nahtoderfahrung am Morgen nach der Kirmes. Für Julian sind der Zusammenhalt, der Stolz und die Gemeinschaftserfahrung, in der sie alle zusammen, nach erfolgreich getaner Arbeit und im Exzess dem Tode nahe waren, affektiv von besonderer Bedeutung. Die intensive Erfahrung im sozialen Feld bindet auch an die weiteren zugehörigen sozialen Regeln und Werte, welche prägend für die Provinzialität sind und Spuren im Habitus (Bourdieu) hinterlassen. Als sinnliche, hochgradig ritualisierte Praxis können jene Rituale im Sinne Lorenzers auch als präsentativ-symbolische Interaktionsformen verstanden werden, über die sich die Werte der Dorfgemeinschaft in die Haltung zur Welt einschreiben.

4.2.2 Dorf: „Weil ich ihnen vielleicht irgendwie mal nützlich bin.“

Es gibt aber auch Aspekte des Provinziellen, die Julian affektiv abstoßen:

Also... ich kann Leute nicht leiden, die, ääh, was mit mir zu tun hamʼ, weil ich ihnen vielleicht irgendwie mal nützlich bin oder sowas //mhm//, beispielsweise jetzt mit Blick aufs Finanzamt //mhm//, ähm... ich bin halt so ʼn bisschen kommunalpolitisch auch unterwegs, wenn da dann irgendwie auch was isʼ //mhm//, äähm sowas kann ich halt leiden wie Fußpilz. Wenn sonst, gucken die Leute halt mich miʼm Arsch nicht an, auf gut deutsch //mhm// und dann auf einmal, ja, kannste nicht, willste nicht, und und und. (J1, Z. 1689–1694)

Julian genießt es einerseits, im Dorf bekannt zu sein, wie er an anderer Stelle in Zusammenhang mit der Kirmes und seinen weiteren Vereinstätigkeiten erzählt, kann es aber nicht ausstehen, wegen seiner privaten oder beruflichen Funktionen von „falschen Freunden“ ausgenutzt zu werden – er will um seiner selbst willen gemocht werden. Die Nutzung von Beziehungen zur Erreichung politischer oder wirtschaftlicher Zwecke aber ist typisch für provinzielle Strukturen (vgl. Belina 2022, 53).

Provinzielle Seilschaften der beschriebenen Art, Geklüngel und Opportunismus, sind Julian zuwider, er kritisiert die Vorteilnahme und ist abgestoßen davon. Auf der affektiven Ebene entlarvt er so den Rausch der Gemeinschaft als zweckrationales Beziehungsgeflecht. Das kann er so gut leiden wie „Fußpilz“. Fußpilz ist, assoziativ gesprochen, nicht nur überaus nervig und unangenehm, sondern man wird ihn, wenn er einmal da ist, schlecht wieder los – wie die („juckenden“) Zweifel an der Gemeinschaft.

4.2.3 Familie: „Dann bist du auf einmal wieder einfacher Müllfahrer“

Ein wichtiger biographischer Aspekt in Bezug auf Julians familiären Hintergrund ist das (nicht nur) berufliche Scheitern seines Vaters, das zum Zeitpunkt des Interviews sechs Jahre zurückliegt, und von dem er ausführlich erzählt:

Er war, der Papa war zwischendurch war der komplett im Arsch, das... Der hat sein komplettes Leben binnen von... ʼnem halben Jahr hat er eigentlich an die Wand gefahren, also der war relativ, relativ hoch im Betrieb. Der war halt hier beim Abfallbetrieb bei uns in E-Stadt war der halt Betriebsleiter //mhm//, ähm, hatte Firmenauto. […] Aber der ist halt mit der Verantwortung überhaupt nicht klargekommen. Dass er da 20 Leute unter sich hatte. Und das waren auch 20 Leute, nicht so, mit Verlaub, wie du und ich, die halbwegs normal in der Birne waren //mhm//, sondern, ähm, das waren halt hier so […] teilweise Flüchtlinge, das waren teilweise, ähm, ehemalige Straftäter, die halt jetzt in so Resozialisierungsprogrammen wieder sind. Ähm oder auch hier Langzeitarbeitslose //mhm//, also die... ohne da jetzt irgendwie vorurteilsmäßig oder so, aber vielleicht mit Arbeit nicht so ganz aufʼm grünen Zweig stehen //mhm//. So und dann halt mein Vatter, der soʼn bisschen Autoritätsprobleme hat, also Probleme hat, Autorität auszustrahlen //mhm//. Die haben-, sind ihm halt regelmäßig auf der Nase rumgetanzt und... […] Da habe ich dem Papa wie oft gesagt, also wenn der am Montag wiederkommt, drücken ihm Kündigung in die Hand und fertig und dann geht er wieder rein. […] dann hat er also versucht, das Spagat hinzukriegen, äh, unbeugsame Gefolgschaft zu, aber relativ auch strengen Erwartungen, zumindest so, wie ichʼs damals gesehen hab von seinem Chef. Na gut, und dann bist du halt immer in dieser Puffersituation und ich kenne keinen Menschen, der das länger-, längerfristig aushält //mhm//. Und der Papa dann halt, hat sein Ventil im Alkohol gefunden //mhm//. […] Da hat meine-, nachdem er dann halt auch meine Mutter geschlagen hat, hat die dann halt gesagt, okay, jetzt ist Feierabend, jetzt gehste hier raus //mhm// und da ist der halt mit der Polizei auch hier raus //mhm//. Und das haben halt sowohl Tobi als auch ich mitbekommen. Das war halt nicht so, äh, nicht so geil //mhm//. Hmmm. Ja und kurz drauf haben wir dann halt mitgekriegt, da hat er seinen, diesen Betriebsleiterposten hat er dann halt gekündigt […] Das Problem war halt nur, dass er in der Firma geblieben ist //mhm//. Und ja, das Bild ist halt schon ʼn bisschen kacke. Du bist vorher Betriebsleiter, stehst eigentlich so ziemlich direkt unterʼm Geschäftsführer //mhm// und dann bist du auf einmal wieder einfacher Müllfahrer. Und. Ja, die Leut haʼm dem das-, das hat er halt auch öfter gesagt bekommen //mhm//. (J1, Z.1424–1472)

Die Geschichte des Vaters ist eine Abstiegsgeschichte und sein Männlichkeitsentwurf ein gescheiterter. Er wird – auch aus sozialem Mitleid gegenüber Geflüchteten, Straftäter*innen und Langzeitarbeitslosen – zum Versager und „fährt sein Leben an die Wand“, wie Julian es formuliert. Der Vater hat die Aufstiegschance für die ganze Familie in den Sand gesetzt – zumindest symbolisch; finanziell scheint es über die Seite der Mutter keine Probleme zu geben. Aber im Dorf wird der Vater immer wieder auf sein Scheitern angesprochen und Julian deutet dies unter anderem als Grund für dessen Alkoholsucht, als Ventil für die Gefühle von Versagen und Beschämung. Kondensiert wird der enttäuschende Abstieg in dem Bild, das Julian von der Situation zeichnet: „[U]nd dann bist du auf einmal wieder einfacher Müllfahrer“ (J1, Z. 1471). Das Provinzielle kommt hier auch als Autoritarismus ins Spiel – der Vater bietet seinem Sohn keine Möglichkeit zur produktiven Auseinandersetzung mit Autorität, Aggression und Macht. Autoritäre Versuche (wie die Gewalttätigkeit) scheitern; er ist seinem Sohn unterlegen, dem sich so Gefühle von Triumph und Verachtung aufdrängen.

Die Männlichkeit des Vaters wird nach provinziellen Maßstäben biographisch schon früher in Frage gestellt: Dass sie in das Dorf der Mutter ziehen, als Julian drei Jahre alt ist, hat, besonders in der Zeit von Julians Kindheit, etwas Verdächtiges, denn Patrilokalität ist hier die Norm. In ein Haus zu ziehen, das der Familie der Mutter gehört, enttäuscht ein (archaisches) Bild von Männlichkeit und macht die ganze Familie zu „Zugezogenen“, was Julian im Kindergarten zu spüren bekommt.

Die affektiv erinnerten Erfahrungen in dieser Szene sind insgesamt geprägt vom anfänglichen Stolz auf den Vater, unmittelbar gefolgt von Enttäuschung, Verachtung, Beschämung und Angst. Über schockierende (womöglich traumatische) Erlebnisse, wie die Gewalt des Vaters gegenüber der Mutter und dessen Festnahme durch die Polizei, die damit zusammenhängende Angst, die nicht aufgearbeitet wurde – er sagt nur, es war „nicht so geil“ –, schreiben sie sich, mitsamt ihren Abwehrdynamiken, in diese Affektwelten ein. In der Erzählung des beruflichen Scheiterns ist Julian sehr identifiziert mit seinem Vater; man kann sich gut vorstellen, wie er das Gefühl hatte, den Konflikt mit den Untergebenen besser lösen zu können, wenn er an des Vaters Stelle gewesen wäre – und wie das Scheitern gleichsam mit ihm als Sohn identifiziert wird, der ebenso wie der Vater „der Kunze“ ist, über den im Dorf gesprochen wird. Im Erzählen scheint er teilweise mit dem Vater zu verschwimmen und insgesamt ein nahes, entgrenztes Verhältnis zu ihm zu haben. Denn auch über die Anbahnung einer außerehelichen Affäre, die Julians Vater kurz vor seinem Auszug begonnen hat und über die er ebenfalls im Kontext dessen Scheiterns erzählt, ist er bestens im Bilde. Julian wird durch seinen Vater in die Elternrolle gebracht, er berät ihn bei seinem Job und ist über diesen ebenso wie über sein Liebesleben ungewöhnlich gut informiert für einen Sohn. Auch seine Post muss er für ihn öffnen und ihm bei den Finanzen helfen. Damit disqualifiziert sich der Vater selbst als Berater – biographisch beschreibt Julian an anderer Stelle seine Oma als Konstante in dieser Funktion. Auch gegenüber dem kleinen Bruder muss er die Vaterrolle übernehmen, da dieser der Mutter ansonsten „auf der Nase herumtanzen“ würde, wie die Untergebenen seinem Vater.

Wie aber sieht er sich selbst im Familienzusammenhang?

Und mit denen von meinem Vater... Das ist halt soʼn bisschen. Ja. Arrogant gesagt, das ist halt wirklich, ähm, die sind halt nicht die hellsten Birnen im Kronleuchter //mhm//. Das ist halt, wie ich schon gesagt hab, ich habʼ von meiner Art, bin ich eigentlich mehr von der Seite von meiner Mutter und das sind halt alles, oder was heißt alles, aber überwiegend Akademiker //mhm//. Und ähm ja. Bei uns sagt man gescheite Leutʼ, das ist... Klingt jetzt so den anderen gegenüber soʼn bisschen unfair. Aber... Ja, du merkst schon, wenn du mit denen sprichst, das ist ʼn anderes Sprechen als jetzt beispielsweise wir miteinander oder, ähm, ich mit meinen Freunden oder mit meinem normalen Umfeld //mhm//. Die sind halt doch eher so Kneipenslang //mhm//, so böbö (macht nach, wie sie sprechen) und auch soʼn bisschen... Ja populistisch, will ich fast sagen. Also die sind durch die Bank relativ weit rechts //mhm//. (J1, Z. 1609–1619)

Julian unternimmt hier eine Positionierung, unterscheidet die Familie der Mutter, der er sich eher zurechnet, die Akademiker*innen, die in diesem Sinne auch eher „die Guten“ sind, von den „dummen“ Rechten der Seite des Vaters, die weniger gebildet und zivilisiert („Kneipenslang“) sind. Mit seinem Scheitern festigt der Vater dieses Bild seiner Familienseite als der schlechteren, die weniger zum Vorbild geeignet ist und von der es sich besser abzugrenzen gilt.

Durch die Familienkonflikte und sein Verantwortungsbewusstsein wird Julian immer wieder in das Dorf, die enge Provinzialität hineingezogen. Daraus nimmt er sich zeitweise so etwas wie „Urlaub“ in einer WG in einer mittelgroßen Studierendenstadt, um sich auf sich selbst, seine Ziele und seine biographische Entwicklung fokussieren zu können. Durch die Verantwortungsübernahme werden adoleszente Prozesse verlangsamt oder auf Pause gestellt. Julians habituelle Entwicklungen oder Transformationen werden gebremst, weshalb er in manchen Lebensbereichen noch stärker eine suchende Offenheit an den Tag legt, die sonst für frühere Lebensphasen kennzeichnend ist.

4.2.4 Traum: „So ʼne Streuobstwiese“

Ein anderer, phantasmatischer oder utopischer Raum ist die Streuobstwiese, die Julian als idyllische Zukunftsvorstellung beschreibt.

Ich würdʼ, was ich noch so als Traum eigentlich habʼ, bzw. als, ja Ziel, ähm, ich würdʼ gern, ʼne, so ʼne Streuobstwiese machen //mhm// und dann halt mein, auch meinen eigenen, ääh, Apfelwein und Schnaps und sowas keltern //mhm// oder bzw. brennen. Und dann halt so im kleinen Stil auch verkaufen. Das soll halt jetzt nicht Gott weiß wie, dass es sich selbst-, dass es sich halt gradʼ so selbst trägt //mhm//, sag ichʼs mal so. Es soll jetzt keine großartigen Erträge abwerfen aber einfach... weil ich bin halt gern draußen in der Natur und schaffʼ gern was und da findʼ ich, dass das halt, weil da haste am Ende dann halt wirklich ʼnen Produkt. Und du kannst dann halt auch, um zurück zur Familie, ähm... du kannst, nimmst dann halt deine Kinder mit //mhm// aufʼm Traktor und dann können die ʼnen paar Äpfel einsammeln und keine Ahnung was, irgendwann... gut, haʼm ʼse wahrscheinlich nicht mehr so viel Lust, dann musste gucken, wie des machst aber... es soll ja jetzt nicht, wie gesacht, Gott weiß wie groß werden, dass es du... noch zehn Leute brauchst, um des Ding zu bewirtschaften. Also, das will ich nicht. Aber ich will auf jeden Fall, dass ich halt, ja, mich gemütlich dann auch mit meinen Kumpels hinsetzen kann, ääh, jeder den eigenen Apfelwein, den eigenen Schnaps und so trinken und halt... soo... ja, über die alten Zeiten, über, keine Ahnung, Politik über sonst irgendwas schwätzen //mhm//, keine-... einfach dummes Zeug labern auf gut deutsch gesacht. Das ist eigentlich so mein... äh... meine Zielvorstellung so, ich sag mal wenn ich 60, 65 bin //mhm//. (J1, Z. 1668–1685)

Dieser Zukunftstraum ist eine identitäre Situation. Julian weiß, wo er hingehört, ist verwurzelt wie die Apfelbäume. Es gibt keine Einsamkeit und alles Konflikthafte ist abgewehrt – belangloses Sprechen vermeidet Streitigkeiten und man kann angstfrei ohne Feinde beisammen sein. Jeder hat seinen Platz, auch generational. Apfelwein und Schnaps stammen aus eigenem Anbau, von den Enkel*innen bis zu den Großeltern helfen alle mit und die fertigen Produkte werden unter Freund*innen und Nachbar*innen ausgetauscht. In der von ihm entworfenen Zukunftsszene ist er der gleichermaßen potente wie liebevolle Großvater mit seinen Kumpels, dem Traktor und ihren alten Erzählungen. Malerische Apfelbäume, körperliche Arbeit, vermeintliche Authentizität und das Zusammenleben mehrerer Generationen prägen die Atmosphäre. Die Harmonie, Solidarität und Geborgenheit, die sich in dieser Sehnsuchtsphantasie widerspiegeln, sind das, was die Verteidiger*innen des Provinziellen hervorheben, in der Realität laut Adorno (vgl. 1964; Belina, 2022) aber nicht eingelöst werden kann, sondern überschattet wird von Hierarchien, Enge und Gewalt.

4.2.5 Stadt: „Zum Schluss wollte ich eigentlich auch gar nicht mehr so richtig da weg“, „Knallharter Antifa-Linker“ und „Unisex-Toiletten“

Julian hat aber auch urbane Erfahrungen in drei unterschiedlichen Städten gemacht – positive, die ihn für diese Erfahrungswelten nachhaltig geöffnet haben, aber auch negative, mit abstoßender Wirkung, die eher Rückzug und Verhärtung früherer Weltsichten nahelegen.

Das Praktikum – „Zum Schluss wollte ich eigentlich auch gar nicht mehr so richtig da weg.“

Julian studiert an einer Fachhochschule in einer Großstadt, bleibt aber bei den Eltern wohnen und pendelt. Für sein Bank-Praktikum in einer noch weiter entfernten Großstadt muss er dann das erste Mal umziehen und für eine längere Zeit weit weg vom elterlichen Zuhause sein: „[A]m Anfang habʼ ich mich echt nicht wohl gefühlt, weeil, ja, so kleiner Dorfbub in der großen Stadt“ (J1, Z. 126–127).

Er ist konfrontiert mit einer gänzlich neuen Situation: eine unbekannte Stadt, weg von zuhause und ohne Peergroup im gleichen Alter oder mit den gleichen Interessen. Seine Freizeit füllt er mit einem für das Studium erforderlichen Englisch-Sprachkurs, der vorbereitet auf die Weite des womöglich internationalen Berufslebens. Auf der Arbeit und im Sprachkurs fällt es Julian zunächst schwer, innerhalb der seinem Empfinden nach sehr heterogen zusammengesetzten sozialen Gruppen Anschluss zu finden. Aber er bricht das Provinzielle auf, findet nach einiger Zeit doch noch Kontakte und möchte gar nicht mehr weg:

[S]o nach, joa, zwei Monaten warʼs dann echt ganz cool und zum Schluss wollte ich eigentlich auch gar nicht mehr so richtig da weg (I lacht etwas). Aber... naja gut, ich bin dann halt wieder heim, bin dann, ääh, wieder hier daheim eingezogen […] (J1, Z. 133–136).

Nach dem Praktikum muss er allerdings für das restliche Studium und den Berufsanfang wieder zuhause einziehen. Die Erfahrung des Praktikums hat jedoch Spuren hinterlassen – der Wunsch nach Autonomie, neuen sozialen Kontakten und einem städtischeren Leben wächst. Diese Kontrasterfahrung, das an sich Fremde, ist antiprovinziell bzw. urban. Der Impuls zur „Landflucht“, getragen von Neugier, strukturiert die affektive Ebene seiner positiven Erfahrungen. Sie erweitern Julians Handlungsspielraum und wirken in diesem Sinne emanzipatorisch.

Die Stadt seiner Fachhochschule ist ihm jedoch zu abschreckend großstädtisch. So entwirft er die Idee, sich eine WG in einer mittelgroßen Studierendenstadt zu suchen, die für ihn sowohl von seinem Dorf aus als auch von seinem Arbeitsort gut zu erreichen ist. Ein räumlicher Mittelweg zwischen Provinz und Urbanität, der seinen biographisch gewachsenen Vorlieben entspricht.

An diesem neuen Wohnort macht er, vor dem Hintergrund seiner eigenen politischen Positionierung („Ich würde zu mir selbst sagen, wenn ich mich so politisch-, so Mitte-rechts, also mit links kann ich mich nicht so wirklich anfreunden, mit der ein oder anderen Idee ja aber, ähm.“), allerdings schlechte Erfahrungen mit Linken aus dem Universitätsmilieu.

Die WG – Knallharter Antifa-Linker

[J]etzt in der neuen WG […] war soʼn bisschen Hausparty mäßig und da war dann auch soʼn Kasper und dem habʼ ich halt auch gesacht, ja, ich bin eher Mitte-Rechts und das war halt so ʼn richtig knallharter Antifa-Linker //mhm//. Und... soll jeder sein, was er will, um Himmels Willen aber als er dann angefangen hat „Ja, scheiß Nazi!“ und keine Ahnung was, äh, da bin ich halt aufgestanden und bin gegangen //mhm//. Da ist der dann noch an die Decke und da habʼ ich gesacht, Junge, halt einfach dein Maul, isʼ mir doch scheißegal, du kannst jetzt vom Zug überfahren werden und das einzige was ich mache, ist, den Notruf wählen, und das auch nur, weil ich muss. //mhm//. Mehr habʼ ich mit dir nicht mehr am Hut. So und äh, ja, dann wollt er noch mit Menschenwürde und keine Ahnung was mit mir anfangen aber da habʼ ich ausgeschaltet und bin gegangen. //mhm//. Und das sind halt so Sachen... Ja, wer halt meint, so zu denken, von mir aus, wie gesacht, ich überlassʼ jedem seine politische Meinung, jeder kann schwul, trans, was weiß ich mittlerweile sein, ähm... aber wer meint mich dann halt dementsprechend, weil ich das halt nicht so ganz verstehe, sagʼ ich ganz ehrlich //mhm//, Homosexualität verstehʼ ich noch, Transsexualität hörtʼs bei mir schon... eigentlich schon auf. Aber... solangʼ die Leute mich in Ruhe lassen, isʼ mir des scheißegal, da sollen ʼse machen, was ʼse wollen. (J1, Z. 1714–1729)

Wie die Szene sich im Einzelnen abgespielt hat, erzählt Julian nicht, nennt aber die groben Themen, die den Konflikt vorantreiben bis zum Wunsch, dass der andere vom Zug überfahren wird: Homosexualität und Transsexualität. Ambivalenzen mischen sich in das zunächst positive Erleben. Die Stadtbevölkerung weckt seine gehemmte Wut, weil sie die Idylle kontrastiert und Julians Anschauungen und Träume in Frage stellt. Plötzlich geht es um Transsexualität und Nazis anstelle von heiler, traditioneller Gemeinschaft und Apfelbäumen. Die Zug-Phantasie ist vernichtend, technisch und übermächtig. Ihn selbst mit eigenen Händen zu schlagen, diesen Impuls hat (oder erzählt) er nicht, dieser würde auch nicht zu seiner Selbstdarstellung als grundlegend Gewalt ablehnender Mensch passen, die er an anderen Stellen im Interview ausführt. Wut, das Gefühl, sich verteidigen zu müssen, Hass und gleichzeitig unterschwellige Bewunderung für den knallharten Anderen sowie eigene Gehemmtheit sind die vorherrschenden Affekte in dieser Situation. Sein kognitiv vertretener konservativer Wertepluralismus trifft affektiv auf Gewaltphantasien infolge imaginärer Gegner*innenschaft.

Im Dorf sind die Grenzen des Sagbaren andere; Politik ist manchmal nur „dummes Zeug“, über das man zum Zeitvertreib diskutiert. Julian trifft aber auf eine urbane Szene, die Äußerungen – welche genau bleibt unklar, aber sie werden von dem „Antifa-Linken“ als Angriff auf die Menschenwürde verstanden – nicht toleriert. Vor dem Hintergrund seines eigenen Selbstverständnisses und der Abgrenzung zur rechten, ungebildeten Familienseite wird er die Bezeichnung „Nazi“ als besonders diffamierend oder beschämend empfunden haben. Auch Homosexualität, noch mehr aber Transsexualität, stellt Männlichkeit bloß, indem sie sie als krisenanfällige Performanz enttarnt.

Julian muss den anderen begrifflich so stark machen, ihn als „knallharten Antifa-Linken“ bezeichnen, weil er selbst so stark reagiert. Wenn jemand derart heftige Gefühle hervorruft, muss er der absolute Gegner sein. Er projiziert die Aggression so stark ins Außen, als würde er selbst nur reagieren und keine aggressiven Affekte mit hineinbringen. Aber wie wird jemand imaginär zu diesem „Gegner“? Assoziativ fällt ihm unmittelbar im Anschluss eine Situation auf der Toilette in der Großstadt-FH ein:

Die Unisex Toiletten – Wo soll das nur hinführen?

Das einzige, wo ich mich mal soʼn bisschen dadrüber geärgert hatte, war, da war ich in der FH in A-Stadt, in der Bib. Und die hamʼ ja schon seit 2017 oder was hamʼ die ja Unisex Toiletten //mhm//. Uuund... gehʼ ich in diese Toilette rein. Und da siehste noch so schön die Umrandung vom Pissoir, aber das Pissoir isʼ weg. //mhm// Da habʼ ich gedacht, na super, da geht das jetzt schon so weit, dass die uns-, dass die das Pissoir abnehmen und dann war ja jetzt halt nur noch ʼn Klo. Es ist eigentlich ʼne Banalität, aber da habʼ ich halt echt mal so gedacht... wo führt das noch hin? (J1, Z. 1729–1735)

Julian ist selbst etwas erstaunt über seinen Affekt der Empörung, den damit verbundenen Sorgen und den Aggressionen, in die er dann gleich wieder eintaucht. Er kommt unmittelbar zurück auf die Phantasie aus der vorherigen Erzählung:

Wie gesacht, es soll jeder machen, wie er will, solangʼ er mich in Ruhe lässt. Und manche, die des halt nicht verstehen, die sind mir dann halt relativ scheißegal, und wie dann gesacht... die sind mir dann halt auch wirklich egal. Die können da liegen, ich ruf ʼnen Notarzt und das warʼs //mhm//. Und das halt auch wirklich aus dem Grund, weil ichʼs muss, weil ich keinen Bock habʼ, dass ich dann irgendwie so wegen unterlassener Hilfeleistung oder so drangenommen werdʼ. Ansonsten... das kann man jetzt sicherlich auch moralisch, äh, angreifen aber würdʼ ich die auch da liegen lassen. (J1, Z. 1737–1749)

Julian betont wiederholt, dass jeder sein und denken könne, was er wolle, aber affektiv gibt es für ihn noch eine andere Welt, in der Feind*innen existieren, die man gnadenlos niederkämpfen muss, mit blanker Brutalität einen Zug über sie fahren lassen will. Diese Phantasie wiederholt er mehrfach und wird dabei affektiv sehr in seine Wut verstrickt.

Die Provinz, so wurde bereits zu Anfang erwähnt, sieht sich strukturell immer von außen bedroht. Geschlechtergetrennte Toiletten sind strukturell provinzieller, die Auflösung der dichotomen Einordnung ist urbaner. Auf affektiver Ebene ist die freiwillige Bindung an dieses ordnende Zwangskorsett provinziell. Das abgenommene Pissoir steht symbolisch dafür, dass das Angestammte einem weggenommen wird – sein Fehlen bedroht die Ordnungen männlicher Herrschaft, die konstitutiv für den männlichen Habitus ist (vgl. Bourdieu 1998).  Deshalb erinnert es Julian auch wieder an die Wut aus der vorherigen Szene, die nur zum Teil der konkreten Person und ihren Aussagen galt, sondern vielmehr einem Weltsystem, das aus Julians Perspektive potentiell die Aussicht auf eine Zukunft bedroht, die er seinen Vorstellungen von einem „guten Leben“ entsprechend gestalten kann:

Ein Feind muss keiner sein, der mir etwas getan hat, nicht einmal einer, der mir etwas tun könnte, sondern einer, er zu Unrecht da ist, der ein Leben inmitten meines Lebens beansprucht, der meine Grenzen, meine Ordnungen, meine Geschichte, meine Bilder, mein Narrativ stört, durch das bloße Dasein. (Metz/Seeßlen 2018, 167, zit. nach Belina 2022, 54)

Es geht nicht um reale Gegner*innen und konkrete Erfahrungen, sondern um die imaginierte Sorge des Angriffs von außen, der potentiell dazu einlädt, sich affektiv in ihn hineinzusteigern und die Welt in (imaginäre) Gegner*innenschaften einzuteilen.[5] Die Frage, ob es auf der Alltagsebene vorgängige Erfahrungen gibt, die diese starken Affekte, diese Gegner*innenschaft produzieren und auf denen eine spätere politische Mobilisierung erst aufbauen könnte, wird im folgenden Kapitel aufgegriffen.

5. Zusammenfassende Schlussfolgerungen

Einige von Julians biographischen Erfahrungen mit ihren spezifisch gefärbten Atmosphären und sozialen Regeln legen Provinzielles, tendenziell Antiemanzipatorisches nahe. Das Dorf, in dem ein großer Teil der prägenden Lebenszeit von Julian stattfand, ist politisch in dichotomen Welteinteilungen organisiert. Auch extrem rechte Affektwelten sind ihm familiär nicht fremd. Während des Aufwachsens, zum Beispiel bei Familienfeiern, haben sie das soziale Feld, den Raum durch entsprechendes Verhalten mitgeprägt und Atmosphären erzeugt, die auch auf der affektiven Ebene sozialisierende Spuren hinterlassen haben. Die „akademischere“ Seite ist vermutlich kein gänzlich anders orientierter progressiver Gegenpol, sondern inhaltlich konservativ. Es gibt aber in Julians Leben auch gegenläufige, urbane Erfahrungen, die Ambivalenz erzeugen und emanzipatorisches Potential haben. Der Wunsch nach Geborgenheit wird herausgefordert von Neugier und Autonomie. In seiner Affektwelt existieren sowohl idyllische Träume und Phantasien als auch solche von Gewalt und Gegner*innenschaft. Julian verbindet mit dem Dorf weitestgehend positive Aspekte: die Kirmes, die Gemeinschaft im enthemmten Männerbund, der Spaß und der Zusammenhalt bei Erfahrungen, die mit Selbstwirksamkeit und Anerkennung verknüpft sind. Doch auch die Urbanität hatte schöne Erlebnisse zu bieten, wie das Kennenlernen neuer, interessanter Menschen und die Erfahrung, an diesem zunächst verunsichernden sozialen Ort Beziehungen aufbauen zu können. Außerdem ist die Stadt für ihn assoziiert mit Freiheit und Intellektualität. Julian schildert an anderer Stelle beispielsweise das Aufweichen seiner politischen Einstellung in Bezug auf die Arbeitsteilung bei der Kindererziehung. Ein Sinneswandel, der sicherlich auch mit seinen weiblichen Kolleginnen auf der Arbeit zusammenhängt, die er anerkennt und als potentielle Partnerinnen nicht uninteressant findet.

Mit Bourdieu lässt sich begreifen, wie die habituellen Einschreibungen in und über gegensätzliche Erfahrungsräume wie Dorf und Großstadt, „bildungsferne“ und „akademische“ Familienseite, linke WG-Party und konservative Jura-/BWL-Fachkulturen wirken. Sein Habitus ist weiterhin stark geprägt durch das Dörfliche, Provinzielle; aber auch das Städtische, Urbane hat Spuren hinterlassen. Julian steht habituell und affektiv zwischen Dorf und Stadt wie zwischen dem „ungebildeten“ Arbeiter-Hintergrund seines am Aufstieg gescheiterten, gewalttätig gewordenen Vaters und dem intellektuellen, konservativen Akademiker mit Frau und Kindern, der er werden will. Vielleicht wäre er dafür zur Not sogar bereit, traditionelle Geschlechternormen aufzuweichen und zuhause bei den Kindern zu bleiben, wenn seine Frau ihre Karriere verfolgen möchte – sofern die Einschreibungen der männlichen Herrschaft in seinen Habitus (vgl. Bourdieu 1998), wie sie insbesondere in der Männerbund-Szene deutlich wurden, sich nicht als zu träge oder widerständig erweisen. In der WG-Szene wird Julian als „Nazi“ diffamiert, sozial aus der Party-Gemeinschaft ausgeschlossen und bloßgestellt wegen seiner gesellschaftspolitischen Äußerungen. Sein Habitus passt nicht zum sozialen Feld. So sehr diese Nichtpassung das Potential für eine Veränderung bereit hält, so sehr ist sie als negative krisenhafte Erfahrung auch im Stande, den Habitus zu verfestigen: „Statt einer Neuanpassung […] kann auch ein Orientierungsverlust eintreten, der zu einer reaktiven Verstärkung der unangepassten Habitusformation führt“ (Haubl/Schülein 2016, 43). Diese negative Erfahrung im urbanen Kontext könnte ihn also potentiell – affektiv wie real – wieder zurück ins Dorf treiben.

Mit Lorenzer lässt sich die Verinnerlichung dieser widersprüchlichen Haltungen genauer fassen – durch die Beschreibung der Interaktionsformen, die kennzeichnend waren für die Räume, die biographisch von Julian durchschritten wurden. Sprachsymbolisch kommt dabei beispielsweise die Ausdrucksweise ins Spiel (die „abschreckende“ der väterlichen Seite oder die gezielt „unzivilisierte“‘ im Männerbund), aber auch die Inhalte konkreter Diskurse, auf die Julian in den Räumen trifft, wie zu Care-Arbeit, Gender etc. Sinnlich-Symbolisches drückt sich über die Musik, die alkoholischen Getränke oder präsentative Symbole wie den Kirmesbaum, die Streuobstwiese oder die entfernten Pissoirs auf den Unisex-Toiletten aus. Das Konzept der Interaktionsformen hilft im Fallbeispiel zudem, insbesondere konkrete Beziehungsdynamiken und ihre Spuren in Form von späteren Wiederholungen, wie sie in der Vater- und Antifa-Szene sichtbar werden, zu verstehen. Der Zusammenhang zwischen familiären (und ebenso kulturell vorgeformten) Interaktionsformen, affektiver Ansprechbarkeit und Handlungspotential zeigt sich dort eindrücklich an Julians Art des Umgangs mit Bloßstellung und Beschämung. Sie treibt ihn zur Weißglut. Julians Vater wird als Versager bloßgestellt und sucht das Ventil im Alkohol, als Aggression/Gewalt gegen sich selbst und dann als Aggression/Gewalt gegen die Mutter. Julian lässt in der Antifa-Szene in seiner gewaltvollen Phantasie einen Zug über seinen Kontrahenten fahren und sieht ihm beim Sterben zu, nachdem dieser ihn als „Nazi“ bloßgestellt hat. Gegen Ende des Interviews erzählt er auf meine Frage hin, ob er einmal etwas getan habe, bei dem er von sich selbst überrascht gewesen sei, sogar eine Szene, bei der er trotz seiner starken Ablehnung von Gewalt das erste und bislang einzige Mal einem anderen wirklich ins Gesicht geschlagen habe. An den Inhalt der Auseinandersetzung erinnert er sich nicht mehr, an die affektive Dynamik dafür umso besser. Es müsse darum gegangen sein, dass er von diesem anderen, der eigentlich sein Kumpel war, „bloßgestellt“ worden sei, ist er sich sicher. Für das Erleben von Scham hat Julian kein Repertoire an sprachlichen Symbolisierungen. Bis auf eine einzige Verwendung des Wortes „bloßgestellt“ tauchen das ganze Interview über keinerlei Begriffe wie Scham, schämen, Fremdscham, Beschämung etc. auf, obwohl Scham inhaltlich in vielen Szenen durchaus eine Rolle spielt, wie vielfach in Interpretationssitzungen angemerkt wurde. Die unbenennbare Scham in eruptiven Angriff und Wut umzusetzen, die sich gegen alles richtet, was seinen Traum in Frage stellt (zweckrationale Beziehungen in der Dorfgemeinschaft ebenso wie antifaschistische Kritik und Unisex-Toiletten), entspricht der affektiven Struktur der provinziellen Haltung zur Welt.

Für die Gesamtbetrachtung politischer Potentiale ist aber selbstverständlich nicht nur das Affektive und Unbewusste relevant, sondern ebenso die manifesten Einstellungen. In seinen politischen Äußerungen vertritt Julian einen konservativen bis liberalen Wertepluralismus, der Teils jedoch stark in Kontrast steht zu seinen erzählten Affekten und Handlungen. Dass er die Monarchie als beste Staatsform ansieht, wie er gegen Ende des zweiten Interviewteils ausführte, ist dem im Provinziellen verankerten Wunsch nach einer starken Führungsfigur zugeneigt. Insgesamt bewegt sich Julian häufig gedanklich sehr in seiner individuellen Vorstellungswelt in Hinblick auf politische Diskurse. Wenn sein Wertepluralismus im sozialen Feld der Großstadt-Uni-WG auf gefestigtere oder geschlossenere politische Einstellungen trifft, wirkt dieser dort etwas deplatziert „naiv“. Auch darin zeigt sich eine Differenz der Erfahrungswelten in Provinzialität und Urbanität – im kleineren Kreis, in dem alle einander kennen, ist das Politische viel personenbezogener und wird damit inhaltlich-ideologisch weniger konsequent zur Grenzziehung verwendet. Individuelle (partei-)politische Überzeugungen treten hinter die Person, ihre soziale Stellung und die jeweilige Beziehung zu ihr zurück (vgl. Belina 2022, 53). In Bezug auf politisch-moralische Positionierungen kann das Selbstbild ein vermittelnder Faktor sein zwischen der eigenen Affektwelt, den Handlungsimpulsen und der manifest geäußerten Einstellung (vgl. z. B. Köbel 2018, 269). Julian positioniert sich Mitte-rechts, will aber nicht „ganz weit rechts“, d. h. „rechtsextrem“ wie die „ungebildeten“‘ Personen auf der Familienseite seines Vaters, sein. Dazu gehört auch die vordergründige Ablehnung von Gewalt, da er diese mit Bildungsferne assoziiert, was seiner Selbstpositionierung als akademisch und intellektuell widerspräche. Die affektiven Anteile, die dem eigenen Selbstbild widersprechen, bleiben, aufgrund ihres Potentials handlungsleitend zu wirken, aber dennoch wichtig. Bei Julian wäre das beispielsweise das phantasmatische (der Feind wird vom Zug überfahren) oder reale (der Kumpel wird geschlagen) Gewaltpotential. Dieser Widerspruch kann auch in Richtung des Versuchs einer Integration gelöst werden, bei der das Selbstbild nicht angegriffen wird – wie kann ich trotz meiner „unmoralischen“ Affekte der Gute bleiben? Der Aufbau einer imaginären Gegner*innenschaft, wie in der Antifa-Szene beschrieben, kann ein Lösungsversuch sein. In Affekten, die schlecht oder gar nicht (sprachlich) symbolisiert werden können, liegt womöglich das größte negative/destruktive politische Potential, wie auch in biographischer Forschung zu rechten Sozialisationsprozessen immer wieder deutlich wird (vgl. z. B. Lohl 2021; Berg 2022).

Leid kann autoritäre oder progressive Prozesse anstoßen – je nachdem, wie es symbolisiert werden kann und wird. Im Negativen macht es bereit, anders zu fühlen, feindseliges Erleben zu verstärken und danach sprachlich oder real zu handeln. Auch dann, wenn beispielsweise die eigenen Träume und Sehnsüchte, das, was man sich für ein gutes Leben erhofft, in Gefahr sind – bei Julian also die traditionelle Familie und die idyllische Streuobstwiese. Strategische Politisierungsversuche schließen an diese Sehnsüchte und Ansprechbarkeiten an, indem sie gezielt versuchen, sie in Form von (Zukunfts-)Versprechen zu bedienen, die nicht selten auch eine Aufwertung des individuellen wie kollektiven Selbstwerts oder die eigene Überlegenheit zum Inhalt haben, wodurch sich in Teilen die affektive Attraktivität rechtspopulistischer Propaganda ergibt (vgl. z. B. Lohl 2017a, 2017b; Brehm/Gies 2019). Jedoch ist man diesen Impulsen nicht hilflos ausgeliefert – Bourdieu und Loïc Wacquant halten bezüglich des Habitus fest: „Die erste Neigung des Habitus ist schwer zu kontrollieren, aber die reflexive Analyse, die uns lehrt, daß wir selber der Situation einen Teil der Macht geben, die sie über uns hat, ermöglicht es uns, an der Veränderung unserer Wahrnehmung der Situation und damit unserer Reaktion zu arbeiten.“ (Bourdieu/Wacquant 1996/2017, 170) Zudem können über Anforderungen des (Um-)Felds Habitustransformationen angestoßen werden, indem die erlebte Nichtpassung einen „kreativen Lernprozess“ initiiert (El-Mafalaani/Wirtz 2011). Diese Transformation betrifft auch die affektive Ebene des Denkens, Wahrnehmens und Handelns. Betrachtet man mit Lorenzer potentielle Wandlungsprozesse genauer, kann man festhalten: Neue Erfahrungen können neue Symbole und damit auch Interaktionsweisen nahelegen (vgl. Lorenzer 1972) – konkret verdichtet passiert das beispielsweise innerhalb von Psychotherapien (vgl. Lorenzer 1973; Schuhmacher 2021), aber auch im normalen Alltag über neue soziale Räume und Milieus, in denen es andere sprachsymbolische und sinnlich-symbolische Interaktionsformen gibt, die sich angeeignet werden können und so Ausdrucksformen für (leidvolles) Erleben bieten, das sich vorher nur über Handeln oder Agieren Gehör verschaffen konnte. Affektive Haltungen können sich also biographisch ändern. Insbesondere durch Momente, die man beispielsweise mit Adorno (1970) als „Erschütterung“ bezeichnen kann. „Schuldhafte“ Provinzialität ortet Adorno da, wo man sich willentlich diesen Veränderungsprozessen verschließt (vgl. Belina 2021, 116). Sie ist bewusste Reflexionsverweigerung (Belina 2021, 116). Im Sinne der Situierung durch Gefühle im Möglichkeitsraum (vgl. Slaby 2011) gilt es also, diesen möglichst weit zu halten durch Reflexion, die zum einen durch Bildung, viel wichtiger aber noch durch Erfahrung ermöglicht wird (vgl. Adorno 1971; Belina 2021) – Erfahrungen, die ansprechbar machen für die Entfaltung eines emanzipatorischen Interesses, das unabdingbar ist für die Ermöglichung von Mündigkeit und nichtautoritären Haltungen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass im Artikel angedeutet werden konnte, welches Potential der vorgestellte Ansatz bereithält, um das Zusammenspiel von Habitus, Interaktionsformen und ihrer Entsprechung auf der affektiven Ebene weiter auszudifferenzieren. Offene Fragen hinsichtlich der Konzepte des Habitus sowie der Interaktionsformen – vor allem mit Blick auf ihre Genese und Transformation sowie das Zusammenspiel von Sozialem und Psychischem (vgl. King 2022) – könnten daran anschließend aus affekttheoretischer Sicht, unter Bezugnahme auf Diskurse des affective turn, insbesondere Ansätze aus der Phänomenologie (Schmitz 1998; Böhme 2013), näher bestimmt und integriert werden (vgl. auch Threadgold [2020] zu Bourdieu und Affekt). Eine ausführliche tiefenhermeneutische Analyse sowie biographische Fallrekonstruktion stehen noch aus und versprächen vertiefte Einsichten über biographische Zusammenhänge sowie hinsichtlich weiterer (Lebens-)Themen jenseits der Frage nach der Provinzialität. Denkbar wäre darüber hinaus, die Tiefenhermeneutik und Biographieforschung methodologisch mit der Habitusanalyse (vgl. Bremer/Teiwes-Kügler 2013) im Anschluss ins Gespräch zu bringen, um auf der methodischen Ebene weitere Ansätze auszuloten, die dem theoretischen Zusammendenken von Lorenzers Interaktionsformen und Bourdieus Habitus Rechnung tragen. Für Forschung explizit im Bereich der Politisierung kann die Fokusebene der affektiven Haltungen bezüglich ihrer Potentiale für politische Handlungen fruchtbar gemacht werden – sowohl in Bezug auf die Bestimmung vorherrschender Empfänglichkeiten für antidemokratische Angebote als auch hinsichtlich der Frage, welche Eigenschaften Erfahrungsräume mitbringen müssen, um emanzipatorische, nichtautoritäre Ausdrucksweisen für affektiv stark besetztes Erleben entwickeln zu können.

Literatur

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[1] Ich danke den Gutachter*innen für ihre sorgfältigen Anmerkungen, die, sofern sie nicht innerhalb des Artikels umgesetzt werden konnten, auch darüber hinaus hilfreich waren.

[2] Alle Namen und Orte des Fallbeispiels sind anonymisiert.

[3] Der virtuelle Zoom-Raum bringt eigene Vor- und Nachteile mit sich, die ihn von der Live-Begegnung unterscheiden. Für eine ausführliche methodische Diskussion dazu siehe z. B. Nicklich et. al (2023). Im Kontext dieses Interviews konnte auch im digitalen Raum eine offene und vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre hergestellt werden.

[4] I = Interviewerin

[5] In Interviews und Gruppendiskussionen, die Lena Inowlocki in den 80er-Jahren mit rechten Jugendlichen – von deren manifesten Inhalten Julian natürlich weit entfernt ist – geführt hat, lag strukturell etwas ähnliches vor. Ihren feindseligen Phantasien lagen keine realen Erfahrungen zugrunde – es hat sich um lediglich imaginäre Gegner*innenschaften gehandelt, die nichtsdestotrotz als Wirklichkeitskonstruktion die Handlungen der Jugendlichen strukturierten (vgl. Inowlocki 2000, 282).