SENSIBILITÄT ALS KATALYSATOR FÜR GESELLSCHAFTLICHE UND INDIVIDUELLE EMANZIPATIONS- UND TRANSFORMATIONSPROZESSE?
Hendrik Kasper Schröder
Ist die Entwicklung von sozialer und politischer Sensibilität eine Voraussetzung für gesellschaftliche und individuelle Emanzipations- und Transformationsprozesse? Werden Gesellschaften immer sensibler und damit auch zunehmend emanzipierter oder ist womöglich eher das Gegenteil der Fall? Können wir zu sensibel werden und damit das soziale Miteinander zerstören? Der nachfolgende Diskussionsbeitrag geht diesen Fragen anhand von kurzen Thesen nach, die bewusst zur Diskussion gestellt werden, und möchte dazu einladen, verschiedene Perspektiven zu betrachten, um ein tieferes Verständnis für die komplexen Zusammenhänge von sozialer und politischer Sensibilität sowie ihrer Bedeutung für individuelle und gesellschaftliche Emanzipations- und Transformationsprozesse zu entwickeln.
Wer etwas erreichen will, muss sich im Leben durchsetzen. Im Wettkampf werden schließlich nicht das sensible Miteinander, sondern die Spitzenplätze honoriert und die erreicht man bekanntlich am besten durch strategisches Denken, Hartnäckigkeit und den unbedingten Willen, seine Ziele zu erreichen – wenn es sein muss auch auf dem Rücken anderer. Als sensibel bezeichnet zu werden, oder gar als Sensibelchen zu gelten, ist im alltäglichen Sprachgebrauch daher nicht unbedingt ein Kompliment (Reckwitz 2019, 56). Das trifft auch auf die Semantik zu, welche dem Wort Sensibilität zugemessen wird. So übersetz die Dudenredaktion (2010, 949) Sensibilität etwa mit Empfindlichkeit, Feinfühligkeit oder Empfindsamkeit und der empfindliche, feinfühlige Mensch wird schnell als dünnhäutiger Feingeist betrachtet, der den Anforderungen der Realität nicht gewachsen ist. Dabei kann ein solches Verständnis von Sensibilität leicht übersehen, wie wirkmächtig die „Sensibilisierung des Subjektes“ (Reckwitz 2019, 56) für soziale und gesellschaftliche Transformationsprozesse war und ist. Die soziale und politische Sensibilität, die sich auf soziale und politische Phänomene bezieht, so die Hintergrundannahme dieses Beitrags, ist dabei von zentraler Bedeutung. Dabei wird Sensibilität hier primär als ein emotionales Erleben verstanden, das durch individuelle Sozialisationserfahrungen und (epi-)genetische Einflüsse geprägt wird. So lässt sich auch erklären, warum Menschen unterschiedlich empfindlich oder feinfühlig auf Situationen und Phänomene reagieren und keine objektive Form von Sensibilität existiert. Stellen wir uns Sensibilität analytisch hingegen als ein Kontinuum vor, lässt sich zumindest zwischen verschiedenen Sensibilitätsgraden unterscheiden. In diesem Bild, erstreckt sich Sensibilität entlang eines Spektrums, dessen gegensätzliche Pole einerseits durch Formen von Hochsensibilität, gekennzeichnet sind (durch eine übermäßige Empfindlichkeit gegenüber internen und/oder externen Reizen bis hin zur Pathologie) und andererseits durch Ausprägungen einer verkümmerten oder verrohten Sensibilität (also einer eingeschränkten Reizverarbeitung) definiert sind (Bischof-Köhler 2009, 57; Roemer 2021, 9).
1. Wir werden immer sensibler...
Sensibilität ist kein statischer Zustand. Vor allem in den westlichen Wohlstandsgesellschaften lässt sich eine stetig wachsende soziale und politische Sensibilität beobachten, die durch eine zunehmende Regulation von Trieben und Affekten und den Einbezug von vormals marginalisierten Gruppen gekennzeichnet ist. Die erste These lautet daher: Die Menschheitsgeschichte ist auch eine Geschichte fortschreitender sozialer und politischer Sensibilität. Ihre Spuren lassen sich in vielen soziologischen und historischen Schriften bis in die Gegenwart nachverfolgen (de Tocqueville 1840/1956; Simmel 1903/2023; Elias 1939/2021; Geißler 2011; Reckwitz 2019). In seinem Werk „Über die Demokratie in Amerika“ beschrieb etwa Alexis de Tocqueville (1840/1956) die bestehenden Wechselwirkungen zwischen der von ihm in den Vereinigten Staaten studierten demokratischen Gesellschaft und einer damit verbundenen fortschreitenden Sensibilisierung. Im Vergleich zu anderen Staaten würden deren Mitglieder ein beträchtlich höheres Maß an sozialer und politischer Freiheit genießen (de Tocqueville 1840/1956, 66–69), wodurch es zu einer Angleichung der bestehenden Gesellschaftsschichten komme: „Der Adelige sinkt auf der sozialen Stufenleiter, der Bürger steigt auf“ (de Tocqueville 1840/1956, 19 f.). Die Gesellschaft wird sozial und politisch egalitärer. Dabei wird „[d]er Haß der Menschen gegen das Privileg [...] um so größer, je seltener und unbedeutender die Privilegien werden, so daß man zu sagen versucht ist: die demokratischen Leidenschaften entbrennen in den Zeiten besonders heftig, in denen sie am wenigsten Nahrung finden“ (de Tocqueville 1840/1956, 184) – ein Prozess der heute als Tocqueville-Paradox bekannt ist (vgl. exemplarisch Geißler 2011, 301). Die Philosophin Svenja Flaßpöhler (2021, 201) fasst dies in ihrem Buch „Sensibel“ wie folgt zusammen: „Je gleichberechtigter Gesellschaften sind, desto sensibilisierter werden sie für noch bestehende Ungerechtigkeiten und damit verbundene Verletzungen.“
Gut hundert Jahre nach der Untersuchung von de Tocqueville beschrieb der deutsch-britische Soziologe Norbert Elias (1939/2020, 1939/2021) in seinem zweibändigen Werk „Über den Prozess der Zivilisation“ unter anderem historische Muster der gesellschaftlichen Affektkontrolle. Elias (1939/2020], 170 f.; 1939/2021, 377) analysiert dabei, wie im 15. und 16. Jahrhundert das Absterben des freien Rittertums zu einer höfischen Vergesellschaftung führte, aus der sich die Höflichkeit entwickelte. Höflichkeit und soziale als auch politische Sensibilität stehen dabei in einem engen Verhältnis, denn höflich kann nur sein, wer sensibel genug ist, die eigenen Leidenschaften und Affekte zu regulieren, die Bedürfnisse Anderer zu achten und die soziale und politische Etikette zu wahren.
In der heutigen globalisierten Welt, dürften vor allem die (soziale) Medien erheblich zu einer fortschreitenden sozialen und politischen Sensibilisierung beigetragen haben (Daub 2022, 18). Die allabendlichen Fernsehbilder des Vietnamkriegs in den 1960er-Jahren führten (nicht nur) im Westen zu politischen Protesten (Bulig 2007, 37). Bewegungen wie #MeToo, #Black Lives Matter, Fridays for Future oder rechte Netzwerke wie die Reichsbürger*innen, QAnon oder die National Socialist Resistance Front nutzen ganz gezielt (soziale) Medien, um für ihre politischen Anliegen zu sensibilisieren. Und die weltweite Vergleichbarkeit von Lebensstandards ermöglicht einen immer sensibleren Blick in Bezug auf die eigenen sozialen und politischen Freiräume und Verwirklichungschancen, was sich auch in der messbaren Steigerung von sozialen und politischen Ansprüchen in Bezug auf individuelle und gesellschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten ausdrückt (Pries 2010, 476 f.). Über die zeitliche Achse betrachtet, so die hier vertretene These, lässt sich so für alle gesellschaftlichen Teilbereichen (Politik, Wirtschaft, Bildung, Erziehung, Kultur, Gesundheit, Technologie, Umwelt, Soziales, Religion, Medien usw.) eine Zunahme an sozialer und politischer Sensibilität beobachten. Im Folgenden werden ein paar Beispiele genannt: Im pädagogischen Bereich betrifft dies unter anderem sowohl die Lernziele als auch den zwischenmenschlichen Umgang zwischen den Lernenden und den Lehrenden (Fend/Berger 2019). Im politischen Bereich sind gesteigerte Partizipationsmöglichkeiten und Rechte von vormals marginalisierten Gruppen auszumachen (El-Mafaalani 2020); Stichwörter wären hier etwa: Frauenrechte, Staatsverträge mit religiösen Gruppen, die Loslösung von binären Geschlechterrollen, aber auch neue Flexibilisierungsmodelle, die den Arbeitnehmer*innen Freiheiten etwa in Bezug auf die gewählte Arbeitszeit oder den Arbeitsort ermöglichen und damit sensibel auf veränderte Rollen- und Familienmodelle reagieren – bis hin zu dem am 01. Januar 2023 in Deutschland in Kraft getreten „Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten“ (BMAF 2023), das als Ergebnis gewachsener politischer Sensibilität gegenüber wirtschaftlichen Externalisierungsstrategien gelesen werden kann (Lessenich 2015, 24).
2. …, aber nicht alle gleichzeitig!
Der Prozess einer immer weiter fortschreitenden Sensibilisierung verläuft jedoch keinesfalls linear oder ohne Brüche, und zwar auch, weil eine sensibler werdende Gesellschaft immer höhere Ansprüche an ihre Mitglieder stellt. Die zweite These lautet daher, dass die wachsende soziale und politische Sensibilität auf der individuellen Ebene die Spielregeln der normativ zulässigen sozialen Praxen verändert und damit zu Konflikten führt. So können beispielsweise erlernte Verhaltensmuster, verinnerlichte Sprechweisen oder vertraute Klassifizierungen, die in der Kindheit noch anerkannte Verhaltensmuster gewesen sein mögen, plötzlich in die Kritik geraten. Wer an ihnen festhält, kann so leicht den Verdacht auf sich ziehen, unsensibel gegenüber dem Leid von Dritten zu sein und einen Toposverstoß zu begehen. Sensibilität ist daher nicht nur ein Treiber für Transformationsprozesse, sondern kann auch leicht zum Reizthema avancieren – auch, weil sie keine Grenzen zu kennen scheint, von der Kinderbuchlektüre über die Entwicklung eines historischen Unrechtsbewusstseins, dem geschlechtergerechten Sprachgebrauch, bis hin zu der von Theodor W. Adorno (1951/2003, 43) formulierten Sentenz „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“ spannt sie einen Bogen über sämtliche Lebens- und Kulturbereiche. Je sensibler in sozialer und politischer Hinsicht dabei einzelne Gruppierungen werden und je vehementer sie auf Veränderungen von sozialen oder politischen Praxen drängen, umso mehr Konfliktpotenzial entsteht in einer Gesellschaft. Dahinter steckt der einfache Zirkelschluss, dass in offenen, heterogenen Gesellschaften Aushandlungsdiskurse pluralistischer, perspektivreicher und somit kontroverser verlaufen als in geschlossenen Gesellschaften, in denen die (angenommene) Majorität den Meinungsdiskurs dominiert und vermeintliche Minoritäten weitgehend ungehört bleiben. In diskursiven Gesellschaften, die ein hohes Maß an sozialer und politischer Sensibilität zulassen, finden sich daher auch mehr Konflikte. Schließlich geraten Menschen, die ein höheres Maß an sozialer und politischer Sensibilität einfordern, schnell mit privilegierten Gruppen aneinander. Dies geschieht zum einen, weil die fortschreitende soziale und politische Sensibilisierung innerhalb einer Gesellschaft den Anpassungsdruck auf ihre Mitglieder erhöht, was subjektiv mitunter als Zwang zur Selbstdisziplinierung und -regulierung empfunden wird, wodurch Abwehrreaktion hervorgerufen werden können. Zum anderen, weil die privilegierten Gruppen innerhalb einer Gesellschaft es gewohnt sind, Deutungsdiskurse zu dominieren und ihre eigenen Maßstäbe für Normalität, Recht und Zumutbarkeit zu setzen. Um ihre eigenen Interessen zu schützen, versuchen sie daher, die Diskurse über soziale und politische Sensibilität für ihre Zwecke zu monopolisieren oder zu delegitimieren (Daub 2022, 328–341). Nichtsdestoweniger wohnt den Spannungen und Konflikten, welche durch die nicht lineare Entwicklung von sozialer und politischer Sensibilität in einer Gesellschaft hervorgerufen werden, auch ein transformatorisches Potenzial inne, schließlich sind es gerade Konfliktbearbeitungen und -bewältigungen, die eine Gesellschaft vorantreiben.
3. Werden wir zu sensibel?
Können wir vielleicht auch zu sensibel werden und damit das soziale Miteinander zerstören? Der Soziologe Andreas Reckwitz (2019) argumentiert diesbezüglich in seinem Aufsatz „Dialektik der Sensibilität“. Spätestens seit der späten Moderne sei Sensibilität eng mit dem Programm der positiven Psychologie und damit mit dem Wunsch verbunden, alles Negative zu vermeiden und lediglich positive Emotionen wahrzunehmen (Reckwitz 2019, 60). Der stetig sensibler werdende Mensch reagiere demnach mit Aversionen und Gereiztheit auf negative Empfindungen und fühle sich rasch angegriffen, wodurch der soziale Zusammenhalt bedroht werde, so Reckwitz (2019, 56–61). Nach dieser Logik, so die dritte These, könnte soziale und politische Sensibilität individuelle und gesellschaftliche Emanzipations- und Transformationsprozesse auch erschweren oder gar blockieren, um etwaige negative Emotionen auf der subjektiven Ebene zu vermeiden. Sensibilität ließe sich dann auch als ein Phänomen verstehen, welches das Subjekt in ein Spannungsverhältnis zwischen politischer und sozialer Konformität und Emanzipation setzt. Reckwitz (2019) möchte die Kultivierung von Sensibilität daher mit der Kompetenz der Ambiguitätstoleranz verbunden wissen. Das erscheint sinnvoll, denn wer feinfühlig auf soziale und politische Phänomene reagiert, dürfte sich auch empfindsam in Bezug auf damit verbundene Leiden und Ungerechtigkeiten zeigen. Sollen individuelle und gesellschaftliche Emanzipations- und Transformationsprozesse nicht blockiert werden, darf soziale und politische Sensibilität demnach nicht als Wohlfühlphänomen missverstanden werden. Wie genau eine solche Verbindung jedoch gefördert werden könnte, ist bislang noch weitgehend offen. Sicher ist hingegen, dass die Förderung einer Ambiguitätstoleranz nicht bedeuten darf, dass jede negative Valenz hingenommen werden muss, ansonsten würde die soziale und politische Sensibilität allzu leicht ihrer emanzipatorischen Potenzialität beraubt. Oder wie Flaßpöhler (2021, 25) dies zum Ausdruck bringt: „Nicht jeder Schmerz muss ausgehalten, aber auch nicht jeder Schmerz gesellschaftlich verhindert werden“, denn nicht jegliche Unterschiede oder Differenzen sind automatisch als Ungerechtigkeiten zu interpretieren. Es bleibt daher in einer demokratischen Gesellschaft ein offener und fortwährender Aushandlungsprozess, was gesellschaftlich geregelt und wo auf die individuelle Verantwortung verwiesen werden sollte.
4. Sensibilität ≠ individuelle und gesellschaftliche Emanzipation?
Die vierte These lautet: Die These einer immer sensibler werdender Gesellschaft darf nicht gleichgesetzt werden mit der grundsätzlichen Überwindung von unethischen Potenzialen, die in den Menschen schlummern und die unter Umständen jederzeit erwachen können. Immanuel Kant (1797/1978, 668) bestimmte das radikal Böse als eine anthropologische Grundkonstante des menschlichen Seins, Hannah Arendt (1964/2013) sprach von der Banalität des Bösen und die experimentelle Psychologie hat vorgeführt, dass Menschen leicht zu unethischen/bösen Handlungen zu verführen sind (Milgram 1961/2013, 199). Schon die gefühlte Ferne zu einer kontrollierenden zivilisatorischen Instanz, wie etwa im Internet oder noch stärker in einem Kriegsgebiet, kann offensichtlich zur Folge haben, dass Menschen, die sich gerade eben noch in den geregelten Kontexten der Zivilisation unauffällig eingefügt haben, zu abscheulichen Monstern werden (Jünger 1920/2006; Milgram 1961/2013, 208–218; Reese 2003). Trotz allen Fortschritts und feingliedrigen sozialen Regelungen können wir das Böse immer nur in einem Verlies aus Sand einschließen (Freud 1920/2000, 41), vermutlich auch, weil der maßgebliche Druck, sensibel zu handeln, primär von außen und nicht von innen entsteht. So ist, sich sensibel zu verhalten, nicht zwangsläufig ein internistisches Bedürfnis. Soziale und politische Sensibilität konstruiert in erster Linie einen öffentlichen Erwartungsrahmen für das, was als angemessenes Verhalten innerhalb von Gesellschaften oder Gruppen gilt und was nicht. Abhängig von der Gesellschaft, Gruppe und dem Kontext, kann dieser Rahmen variieren. Im Krieg gelten andere Vorstellungen von sozialer und politischer Sensibilität als im Frieden, in geschlossenen Gesellschaften andere als in offenen usw. Überwacht wird der gesetzte Rahmen in demokratischen Gesellschaften maßgeblich durch die Judikative, aber auch mithilfe der sogenannten Bio-Politik, wonach soziales und politisches Verhalten durch den emotionalen An- oder Ausschluss aus einer Gruppe/Gemeinschaft belohnt oder sanktioniert wird (Foucault 1981/1995, 39 f.). Generell, kann soziale oder politische Sensibilität auch gezielt als Werkzeug eingesetzt werden, um gesellschaftliche und individuelle Emanzipationsprozesse zu unterdrücken und beispielsweise soziale Transformationsprozesse zu bekämpfen. So können Menschen ihre sensiblen Fähigkeiten etwa nutzen, um andere zu manipulieren, zu demütigen, zu erniedrigen oder auszunutzen. Sensibilität ist daher nicht an sich mit emanzipatorischen Prozessen wie der Überwindung von Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten gleichzusetzen, sondern kann auch zu deren Aufrechterhaltung und Stabilisierung beitragen.
Schlussbetrachtung
Die soziale und politische Sensibilität hat in den westlichen Wohlstandsgesellschaften im Laufe der letzten Jahrhunderte ein bemerkenswertes Wachstum verzeichnet. Interessanterweise kann Sensibilität dabei als ein sich selbst perpetuierendes und sich stetig steigerndes Phänomen aufgefasst werden, das sich selbst immer wieder neu hervorbringt. Je differenzierter und einfühlsamer der Blick auf soziale und politische Phänomene fällt, umso mehr Nuancen werden sichtbar. Ein neues Bild von sozialer und politischer Wirklichkeit entsteht, welches sich abermals durch die Brille der Sensibilität betrachten lässt. So entsteht eine Spirale der Steigerung. Ein Prozess, der sich zudem auch noch stetig zu beschleunigen scheint, denn eine in sozialer und politischer Hinsicht sensibler werdende Gesellschaft zeichnet sich durch die immer weitere Kultivierung ihres Gespürs für Differenzen aus und eröffnet damit stetig neue und weitere Diskursräume. Hierdurch erklärt sich auch, warum eine sensibler werdende Gesellschaft durch die Zunahme von sozialen und politischen Konflikten gekennzeichnet ist, denn der Einbezug von immer mehr Perspektiven in soziale und politische Diskurse verdeutlicht nicht nur die Diversität innerhalb einer Gesellschaft, sie erhöht auch die Komplexität der Entscheidungsfindung und erschwert somit die politische Kompromissfindung. Vor allem demokratisch verfasste Gesellschaften stehen daher vor der Herausforderung, den politischen Zusammenhalt vor dem Hintergrund sich immer weiter parzellierender sozialer und politischer Strukturen und Bedürfnisse sicherzustellen.
Ungeachtet dessen birgt die Zunahme von sozialer und politischer Sensibilität das Potenzial, individuelle und gesellschaftliche Emanzipationsprozesse voranzutreiben und damit zum sozialen Fortschritt beizutragen, denn eine wachsende Feinfühligkeit in Bezug auf Ungleichheiten, Unterdrückungssituationen, Abhängigkeiten oder Einschränkungen kann als entscheidender Faktor zu deren Überwindung aufgefasst werden. Darin liegt auch die transformatorische Kraft der sozialen und politischen Sensibilität, die unter anderem politische Neuorientierungen ermöglicht. Allerdings ist das Vorhandensein von Sensibilität alleine noch kein Garant für emanzipatorische oder transformatorische Prozesse im Sinne eines sozialen Fortschritts. So fragt Reckwitz (2019, 56–61) beispielsweise danach, wie die Verantwortlichkeiten in Hinblick auf eine stetig zunehmende gesellschaftliche soziale und politische Sensibilität zwischen den Subjekten und staatlichen Akteur*innen innerhalb einer Gesellschaft zu verteilen seien, und weist darauf hin, dass die stetig wachsende Sensibilität auch das soziale Miteinander zerstören könnte. Sensibilität hat zudem auch eine dunkle Seite und kann gezielt missbraucht werden, um emanzipatorische und damit verbundene transformatorische Entwicklungen zu erschweren oder zu blockieren (vgl. hierzu auch Breithaupt 2017). Eine mögliche Antwort könnte sein, soziale und politische Sensibilitäten in Bezug auf ihre Positionierung zu universalistischen Wertvorstellungen wie der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen zu diskutieren (vgl. hierzu unter anderem Daub (2022); Neiman 2023). Bei aller berechtigten Kritik und der Mahnung zur Vorsicht, so die abschließende Synthese, sind gesellschaftliche und individuelle Emanzipationsprozesse, im sozialen oder politischen Bereich, nicht ohne eine entsprechende Entwicklung von sozialer oder politischer Sensibilität vorstellbar. In diesem Sinne muss soziale und politische Sensibilität, wenn nicht als Katalysator zumindest als eine Voraussetzung für gesellschaftliche und individuelle Emanzipations- und Transformationsprozesse verstanden werden.
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