KOMPENSATORISCHE BEMÜHUNGEN IN DER ERWACHSENENBILDUNG – SPÄTE EINSICHTEN ZU UNGLEICHHEITEN IM SCHWEIZER BILDUNGSSYSTEM

Kushtrim Adili und Miryam Eser Davolio

1. Erwachsenenbildung, Grundkompetenzen und die Bildungsoffensive des Bundes

Ungenügende Grundkompetenzen in Lesen, Schreiben und Rechnen sowie fehlende digitale Skills sind in der Schweiz ein weitverbreitetes Problem und betreffen rund 800'000 Erwachsene, wovon allein im Kanton Zürich ca. 140'000 Personen sind, deren Zugang zu Weiterbildung, Arbeit und gesellschaftlicher Teilhabe meist erheblich beeinträchtigt wird (MBA 2023, 8). In diesem Zusammenhang wurde die Bildungsoffensive des Bundes lanciert, deren Ziel die Förderung von Grundkompetenzen bei Erwachsenen ist. Mit dem Anreiz einer 50:50-Finanzierung durch den Bund und die Kantone wird die Schaffung kantonaler Bildungsprogramme gefördert (EDK/SBFI 2020, 7). Die Bildungsoffensive des Bundes findet Niederschlag in den kantonalen Strategien und Massnahmen für Erwachsene mit ungenügenden Grundkompetenzen, in denen je nach Ressourcen und Voraussetzungen der Kantone unterschiedliche Programme entworfen und umgesetzt wurden.

Erwachsene, die nicht ausreichend lesen, schreiben und rechnen oder neue Informations- und Kommunikationstechnologien in Alltag und Beruf nutzbringend einsetzen können, sehen sich mit besonderen Herausforderungen in der Alltagsbewältigung konfrontiert und laufen Gefahr, aus dem Erwerbsprozess auszuscheiden. Eine gezielte Förderung soll sie daher zum (Wieder-)Einstieg in die Weiterbildung und zum Nachholen eines Sekundar- oder Berufsabschlusses befähigen. Das Bundesgesetz über die Weiterbildung (WeBiG) vom 20. Juni 2014 sieht die Stärkung der Weiterbildung als Teil des lebenslangen Lernens im Bildungsraum Schweiz vor (vgl. WeBiG 2014, Art. 1–3). Das WeBiG bezieht sich als Rahmengesetz auf die gesamte non-formale Bildung und damit auf alle Weiterbildungsangebote, die nicht zu einem staatlich anerkannten Abschluss führen, und definiert die entsprechenden Aufgaben von Bund und Kantonen. Im Kontext einer Kultur des lebenslangen Lernens werden sogenannte bildungsferne Erwachsene mittels kantonalen Grundkompetenz-Förderprogrammen bei der Bewältigung von Herausforderungen in Alltag und Berufsfeld unterstützt. Das Ziel der Programme besteht in der Förderung des Wiedereinstiegs in die persönliche Bildungslaufbahn und der Möglichkeit zur beruflichen Nachholbildung und unterstützt die Nutzung von digitalen Mitteln (MBA 2023, 4). Auf der Grundlage des WeBiG wurden die jeweiligen, kantonal unterschiedlich ausgestalteten Weiterbildungsprogramme lanciert. Dabei zeigt sich, dass es nicht einfach ist, Erwachsene mit unzureichenden Grundkompetenzen mit den spezifischen Angeboten zu erreichen. Es braucht eine Informationsoffensive der Gesamtgesellschaft mittels Öffentlichkeitsarbeit sowie eine Sensibilisierung möglicher Vermittlungspersonen (wie etwa Mitarbeitende der regionalen Arbeitsvermittlungsstellen RAV, Sozialarbeitende etc.), da der Wissensstand bezüglich der Verbreitung und Formen von ungenügenden Grundkompetenzen häufig dürftig ist (Mey et al. 2022, 89 ff.). Darüber hinaus werden eine Professionalisierung und ein Wissenstransfer im Erwachsenenbildungsbereich ebenso wie die Koordination und Zusammenarbeit mit Kanton, Bund und Partner*innen benötigt, um die Massnahmen und Dienstleistungen zu steuern, Projekte aufzubauen sowie Angebote niederschwellig und dezentral anzubieten (Mey et al. 2022, 16 f., 91 f.).

Die Grundkompetenzen-Programme haben folglich die wichtige Aufgabe, Lücken im System zu schliessen und Bildungsangebote für Erwachsene mit unzureichenden Grundkompetenzen zu entwickeln. Dabei gilt es, neben bereits bestehenden Angeboten und Institutionen weitere Angebote für die Zielgruppen bereitzustellen, wie etwa Alphabetisierungskurse oder Basiskurse für digitale Kompetenzen, Kurse für Lesen und Schreiben sowie Lernstuben-Angebote für die individuelle Unterstützung in der Alltagsbewältigung. Es hat sich als zentral erwiesen, dass die Programme sehr niederschwellig sind, sowohl was deren Kosten, Zugänglichkeit und unverbindliche Teilnahme betrifft, damit etwa auch die Zielgruppe der Working Poor, die über wenig Lernkapazitäten und Budget für Weiterbildungen verfügt, erreicht wird (Mey et al. 2022, 86 ff.). Eine weitere Zielgruppe, an die sich die Programme richten, sind nicht mehr arbeitstätige Mütter, welche aufgrund ihrer Auszeit für die Betreuung der Familie befürchten, mit dem technologischen Wandel in ihrem Berufsfeld nicht mehr Schritt halten zu können. Hier setzen die Grundkompetenzen-Programme an, indem die Betroffenen angeleitet werden, Anforderungen im Alltag zu bewältigen, wieder in ihre persönliche Berufslaufbahn einzusteigen, den Anschluss über eine berufliche Nachholbildung zu finden oder sich digitale Kompetenzen anzueignen, um bessere Bewerbungschancen zu haben und sich im Alltag mit Behördenkontakten u. a. zurechtzufinden (Mey et al. 2022, 30 ff.).

2. Transversale Kompetenzen als Grundanforderungen auch für niedrigqualifizierte Berufsfelder

Im Rahmen dieses Artikels werden auf der Basis von Ergebnissen empirischer Studien zu Massnahmen zur Förderung transversaler und (Grund-)Kompetenzen niedrigqualifizierter Erwachsener hinterfragende Überlegungen angestellt. Diese übergreifende Reflexion des Bedarfs an Nachholbildung schliesst Befunde zu Ursachen der ungenügenden Grundkompetenzen von Erwachsenen mit ein, indem Fragen der Bildungsungleichheit mit Blick über die Schweizer Grenzen hinaus kritisch diskutiert werden.

Verschiedene Studien zeigen, dass transversale Kompetenzen (Scharnhorst 2021, 18), wie etwa Grundkompetenzen in Mathematik, Lesen und Schreiben, die Nutzung digitaler Technologien sowie Problemlöse- und Sozialkompetenzen, ebenso wie (formale) Qualifikationen für die Beteiligung am Arbeitsmarkt entscheidend sind. Fehlen diese Kompetenzen, steigert dies das Risiko für prekäre Arbeit oder Arbeitslosigkeit (Nadai et al. 2021; OECD 2021). Es geht somit auch um die Übertragbarkeit von Kompetenzen auf neue Berufsfelder und die Versatilität in einer Wissensgesellschaft, in der sich Arbeitsfelder ständig weiterentwickeln und mit der zunehmenden Digitalisierung auch im niedrigqualifizierten Bereich solche Grundkompetenzen voraussetzen (Aschwanden et al. 2015; Scharnhorst 2021). Das Zusammenspiel von Ausbildung und Arbeitsmarktintegration wird jedoch durch unterschiedliche Ungleichheitsfaktoren, wie Gender, Alter, Herkunft und Wohnregion geprägt. So sind etwa Personen in strukturschwachen Regionen stärker von Arbeitslosigkeit betroffen (Heidenreich 2018), ebenso wie Frauen, welche im europäischen Vergleich eine geringere Arbeitsmarktintegration als Männer aufweisen (OECD 2021). Gleichzeitig ist ein Rückgang von Arbeitsstellen mit geringem Anspruchsniveau festzustellen, welcher in der Schweiz im Vergleich zu anderen industrialisierten Ländern besonders stark ausfällt (Can/Sheldon 2017; Nathani et al. 2017; OECD 2019). Dies erhöht den Druck auf Personen mit geringer Qualifikation, um auf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können (Nadai et al. 2021), zumal früher erworbene Qualifikationen an Wert verlieren können und gleichzeitig prekäre oder flexible Beschäftigungsverhältnisse zunehmen (Krenn 2015; Hassler et al. 2019).

Angesichts ihrer oft prekären Beschäftigungsverhältnisse und Lebenslagen sind die Betroffenen darauf angewiesen, dass die Bildungsangebote niederschwellig, flexibel nutzbar und gut erreichbar sind. Damit die Betroffenen von den Bildungsangeboten erfahren und auf sie aufmerksam gemacht werden, braucht es meist auch eine Bezugsperson, die sie zu deren Besuch ermutigt, damit sie ihre inneren Widerstände überwinden und die Angebote auch effektiv nutzen. Deshalb braucht es eine intensivierte und kontinuierliche Schnittstellenbewirtschaftung der Förderprogramme für Grundkompetenzen, damit etwa die Sozialberatung die Kompetenzlücken der Zielgruppe erkennt und sie in die Angebote vermittelt oder etwa Arbeitgebende und Temporärbüros von den Programmen wissen und Personen gezielt dorthin schicken, damit sie die geforderten Kompetenzen für die vorgesehenen Arbeitstätigkeiten mitbringen können. Hier steht dann folglich die Verbesserung der Kompetenzen in direktem Bezug zur Employability der Zielgruppe und kann so als wechselseitiger Anreiz wirken (Mey et al. 2022, 70 f.). Erschwert wird dieser Zugang jedoch dadurch, dass die Teilnahmebereitschaft der betroffenen Personen, die die obligatorische Schule in der Schweiz absolviert haben, teilweise durch Schamgefühle und fehlendes Selbstbewusstsein gebremst wird. Personen mit ungenügenden Grundkompetenzen möchten sich nicht outen und haben gleichzeitig Strategien entwickelt, um ihre fehlenden Kompetenzen zu überdecken (Mey et al. 2022, 56, 87; zu Erkenntnissen bzgl. Deutschland vgl. Tröster 2010; Sprenger/Sprenger 2014). Der Zusammenhang zwischen Nichtinanspruchnahme von Angeboten und Schamgefühlen wird auch in anderen Untersuchungen bestätigt (Salentin 2002). Hingegen ist bei der Zielgruppe, welche Deutsch als Zweitsprache gelernt hat, der Grundkompetenzmangel in Bezug auf die lokale Landessprache oder digitale Skills weniger schambehaftet, da sie bereits Sprachkurse besucht und weitere Unterstützungsangebote, wie etwa Schreibdienste, aufgesucht und somit die Hürde oder Scheu bereits zu überwinden gelernt hat. Deshalb ist diese Zielgruppe durch solche Angebote einfacher zu erreichen (Mey et al. 2022, 38 ff.).

Blickt man in die Schweizer Angebotslandschaft zur Umsetzung der Bildungsoffensive des Bundes (Mey et al. 2022), so zeigt sich ein heterogenes Bild in der Umsetzung: Während der Kanton Zürich insbesondere zielgruppennahe, niederschwellige Lernstuben mit individuell ausgerichteten Unterstützungsangeboten sowie eine weiterführende Angebotspalette an der Erwachsenenbildung Zürich (EBZ) aufgebaut hat, setzt der Kanton Luzern auf das Verteilen von Bildungsgutscheinen, die bei bereits bestehenden Erwachsenenbildungsangeboten eingelöst werden können. Der Kanton Wallis andererseits fördert die bestehenden Angebote der Volkshochschule und die Kantone Baselstadt und Baselland priorisieren individuelle Unterstützungsangebote in Bibliotheken.

Nach Pretto und Aschwanden (2015) machen viele der Erwachsenen mit ungenügenden Grundkompetenzen den Schritt in Bildungsangebote nicht eigenständig, folglich braucht es Vermittlungspersonen, welche die Mankos erkennen und ansprechen können. Hierzu gehören insbesondere RAV-Beratende, Sozialarbeitende und Berufsberatende, welche in Kontakt mit den Betroffenen stehen und ihre ungenügenden Grundkompetenzen wahrnehmen können. Doch zeigte sich in der Befragung dieser Berufsgruppen von Pretto und Aschwanden (2015), dass auch sie sich schwer damit tun, die bemerkten Defizite anzusprechen. Ebenso schätzen sie die Gründe für die ungenügenden Grundkompetenzen, insbesondere was das Lesen und Schreiben betrifft, oft falsch ein, indem sie eine Schulgrundbildung im Ausland, Lernbehinderungen oder fehlenden Einsatz während der Schulzeit vermuten und daraus schliessen, dass es sich um ein Problem der Integration oder der Schule handelt (vgl. Pretto/Aschwanden 2015, 118). So nehmen sie eine Etikettierung vor und verkennen, dass es sich dabei um eine sehr heterogene Gruppe handelt, die von Illettrismus betroffen ist, welche über alle Altersstufen, sozialen Schichten, Berufe und Bildungsniveaus reicht (vgl. Pretto/Aschwanden 2015, 118). Dieses unzureichende Verständnis sowie die Schwierigkeit, solche ungenügenden Kompetenzen festzustellen respektive sich dafür zuständig zu fühlen, führen nach Pretto und Aschwanden (2015) dazu, dass es ein Tabuthema bleibt und die Ursachen respektive Schuldzuweisungen ebenfalls generalisiert werden. Daraus lässt sich ableiten, dass es Aufklärungsarbeit und Sensibilisierung der Fachpersonen bräuchte, damit diese einerseits erkennen, dass die Betroffenen keine Schuld trifft und sich diese nicht für ungenügende Kompetenzen zu schämen brauchen. Andererseits sollten die Fachpersonen im Austausch mit den Betroffenen erkennen, ob diese ungenügende Grundkompetenzen aufweisen, und auch wissen, wie sie das heikle Thema ansprechen können, um die Betroffenen an geeignete Unterstützungsprogramm weiterzuleiten (Pretto/Aschwanden 2015. Darüber hinaus braucht es aber auch ein gesellschaftliches differenziertes Verständnis der Missstände, damit keine verkürzten Schlussfolgerungen und Schuldzuweisungen vorgenommen werden.

3. Scham und soziale Schichtung

Das oben beschriebene Phänomen der Entmutigung und die damit verbundene Scham bilden einen zentralen Faktor, weshalb Betroffene Erwachsenenbildungsprogrammen fernbleiben. Dies hat tiefliegende Ursachen. Scham als Gefühl ist unabdinglich mit gesellschaftlichen Normen verbunden. Die Nichterfüllung oder Übertretung dieser Normen kann zu Schamgefühlen führen, sodass Individuen sich schämen. Dieses individuelle Sichschämen stellt Neckel (2001) direkt in Bezug zu gesellschaftlichen Statuszuweisungen. Scham ist somit nicht nur ein Übertreten von gesellschaftlichen Normen, sondern auch eine Nichterreichung von Statuspositionen. Scham ist somit neben gesellschaftlicher Normierung auch an soziale Ungleichheit geknüpft. Das Schamgefühl in Zusammenhang mit sozialer Ungleichheit tritt insbesondere bei der individuellen Empfindung von Unterlegenheit dahingehend auf, dass soziale Ungleichheit individualisiert und Unterlegenheit zu einer persönlichen beschämenden Position wird (Neckel 1991). Weiter übernimmt Scham in modernen Gesellschaften die Funktion der sozialen Schichtung und ist „als Phänomen der symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit zu begreifen“ (Neckel 1991, 137). Mit dem vermeintlich egalitären Leistungs- und Erfolgsprinzip sowie dem Kampf um gesellschaftliche Anerkennung werden soziale Ungleichheiten gerechtfertigt, die Erfolgslosigkeit wird als selbstverschuldet dargestellt, weil die Betroffenen sich nicht besser aus eigener Kraft positionieren konnten (Becker/Gulyas 2012). Dabei stellt die Beschämung eine Machtausübung dar, die bei den Betroffenen zu Ohnmacht führt (Neckel 1991). Mit der Beschämung kommt ein Machtaspekt der Scham hinzu. Die Beschämung kann als Instrument zur Aufrechterhaltung der „aktuellen Strukturen der ungleichen Statusverteilung“ verstanden werden (Becker 2011, 161). Gemäss Becker und Gulyas (2012), die im Zusammenhang von Exkludierten und dem aktivierenden Sozialstaat von einer „Politik der Scham“ sprechen, wird Beschämung als Disziplinierungsinstrument eingesetzt. Die Beschämten verinnerlichen die Statusnormen – durch Prozesse der Institutionalisierung und Internalisierung – (Parsons 1951 zit. in: Neckel 1991, 141) und die damit einhergehenden Narrative des individuellen und schuldhaften Versagens: „Wer sich schämt, teilt zugleich die Normen, die er möglicherweise selbst aufgrund sozialen Abstiegs, Leistungsbezugs etc. nicht mehr erfüllt“ (Becker/Gulyas 2012, 94). Becker und Gulyas (2012) können in Ihrer qualitativ angelegten Studie „Armut und Scham – über die emotionale Verarbeitung sozialer Ungleichheit“ aufzeigen, wie Beschämung im institutionellen Rahmen stattfindet. Das Phänomen der Scham bei Schulerfolg ist noch wenig erforscht. Es gibt Studien zu Ungleichheiten im Schulsystem, die Bildungsverlierer*innen produzieren (vgl. hierzu Quenzel/Hurrelmann 2010), oder zu Schulentfremdung (Hadjar et al. 2010), die das Phänomen der Scham peripher berücksichtigen.

Die Schweiz mit ihrer frühzeitig einsetzenden schulischen Selektion und ihrem hochstratifizierten Bildungssystem fördert die Reproduktion von Bildungsungleichheit (Hadjar/Becker 2016; Schaffner et al. 2022) und damit auch von Scham. Dass die Bildungsverlierer*innen von sich selbst sagen, dass sie sich schämen, lässt auf eine Internalisierung von wirkmächtigen Narrativen eines individuellen und schuldhaften Versagens vermuten. Diese ungleichheits- und machttheoretischen Ausführungen sollen den Verdienst der Bildungsoffensive des Bundes zur Förderung der Grundkompetenzen bei Erwachsenen nicht schmälern, denn es ist wichtig, dieser Zielgruppe eine Chance zu eröffnen, anschlussfähig an die Erfordernisse der Erwerbsarbeit zu bleiben und gleichzeitig auf ihre Schulentfremdung Rücksicht zu nehmen, indem mit Lernstuben niederschwellige Angebote ausserhalb des mit negativen Erfahrungen konnotierten Schulkontextes geschaffen werden. Im Weiteren gilt es die derzeit bestehende Chancenungleichheit insbesondere der Bevölkerung im ländlichen Raum bzgl. Zugang zu vermindern, da sich die Angebote meist im städtischen Raum oder in der Agglomeration befinden und die Zielgruppe mit ungenügenden Grundkompetenzen häufig nicht sehr mobil ist (Mey et al. 2022).

Die vorhandenen Bildungsdefizite weiter Bevölkerungskreise dürfen nicht totgeschwiegen werden und ihre Anschlussfähigkeiten für die Mindestanforderungen im Arbeitsbereich – aber auch ihr Recht auf gesellschaftliche Teilhabe in allen Bereichen des Zusammenlebens – gilt es gebührend zu berücksichtigen.

4. Bildungsungleichheit und nachfolgende Kompensationsbemühungen – Von der Schwierigkeit, Entmutigte zu bilden

Im Zuge der Bildungsdiskurse um lebenslanges Lernen oder auch lebensbegleitendes Lernen wird die Notwendigkeit der Erwachsenenbildung durch den Zusammenhang von sich verändernden ökonomischen und gesellschaftlichen Anforderungen begründet. Um diese verändernden ökonomischen und gesellschaftlichen Anforderungen und den damit einhergehenden zukünftigen Anforderungen im Berufsleben gewachsen zu sein, herrscht die Vorstellung vor, dass die Bildungsdefizite von Erwachsenen kompensiert werden müssen (Nolda 2008; Sprung 2011). Dabei besteht die Gefahr, dass immer mehr Bedarfe an die Weiterbildung insbesondere von niedrigqualifizierten Erwachsenen herangetragen und sie zur Lösungsinstanz deklariert werden, sozusagen als „Reparaturbetrieb für alle Defizite der Gesellschaft“ (Faulstich/Zeuner 2006, 237). Dazu kommt das Risiko, dass die grundlegenden Ursachen dieser Passungsdiskrepanz zwischen den Kompetenzen der Arbeitnehmenden und den arbeitsmarktlichen Erfordernissen individualisiert werden, anstatt die strukturellen und institutionellen Zusammenhänge und Verantwortlichkeiten zu thematisieren (Sprung 2011). Hier gilt zu beachten, dass der Impetus für lebenslanges Lernen abgesehen von neoliberalen und ökonomischen Konzepten der Verwertbarkeit von Subjekten in allen Lebensbereichen (Rubenson 2009) auch als emanzipatorische und „lebensentfaltende Bildung“ (Faulstich 2003) verstanden werden kann – auch wenn dieses emanzipatorische Verständnis sich den Bedarfen des Arbeitsmarkts unterordnen muss.

Die Untersuchung zum erschwerten Zugang armutsbetroffener Erwachsener zu Bildung in der Schweiz, welche im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherung (BSV) durchgeführt wurde (Mey et al. 2022), zeigt als relevante lebensweltliche Faktoren 1) das Alter, das den Zugang und das Lernen erschwert, 2) die Betreuungspflichten etwa durch (frühe) Mutterschaft oder als Alleinerziehende, 3) den Migrationshintergrund, welcher sich insbesondere bei fehlender landessprachlicher Sprachkompetenz oder einem unsicheren Aufenthaltsstatus (wie etwa Status F) negativ auf Bildungszugänge auswirkt, 4) die gesundheitlichen Belastungen oder Einschränkungen, insbesondere psychische Problematiken, die Bildungswünsche behindern und auch soziale Partizipation gefährden, 5) die familiären Konflikte und Sorgen, 6) eine prekäre Wohnsituation sowie 7) die fehlenden Grundkompetenzen und Ausbildungsabschlüsse, welche die Stellensuche oder etwa den Zugang zu betriebsinternen Weiterbildungen behindern (Mey et al. 2022, 68). Faktoren wie Skepsis, Ängste, Scham und spezifische Einstellungen gegenüber der Schule erscheinen meist biographisch und milieuspezifisch geprägt zu sein, etwa aufgrund belasteter Erfahrungen im Bildungssystem. Sie führen dazu, dass der Besuch von Erwachsenenbildungsangeboten nicht in Betracht gezogen wird oder auch der diesbezügliche Informationsstand meist beschränkt oder dürftig ist.

Gleichzeitig besteht auf der Angebotsseite der Erwachsenenbildung eine grosse Vielfalt und Unübersichtlichkeit unterschiedlichster Weiterbildungen (Gieseke 2022), was die Wahl passender Angebote voraussetzungsvoll macht. Hier wird Bildungspartizipation gerade für Menschen, welche negative Bildungserfahrungen in der bisherigen Lebensspanne gemacht haben, aufgrund ihrer Vermeidungstendenz und Ausweichstrategien unwahrscheinlich, da die Lust auf Lernen mit positiven Bildungserlebnissen korreliert. So hat sich gezeigt, dass die Stärkung des Selbstwertgefühls neben dem individuellen Assessment bzgl. Lernlücken und passender Weiterbildungsangebote eine der wichtigsten Vorbedingungen ist, dass Lernprozesse überhaupt möglich werden. Durch entmutigende und zurücksetzende Bildungserfahrungen in der Jugendzeit internalisieren betroffene Erwachsene die Narrative des individuellen und schuldhaften Versagens (Neckel 1991). Sie fühlen sich blockiert, trauen sich wenig zu und schämen sich, ihre Bildungsdefizite offenzulegen (Faulstich 2011), und exkludieren sich selbst (Zeuner 2012) bzw. werden durch die Machtmechanismen der Scham exkludiert (Neckel 1991). Folglich braucht es zuerst einen Vertrauensbildungsprozess, damit die Betroffenen den Lernort und die -angebote nicht angstbesetzt wahrnehmen und sie sich abgeholt und gestützt fühlen, um sich zu öffnen und sich entspannt auf das Lernsetting einzulassen.

Der Fachkräftemangel, welcher sich in der Schweiz bereits seit Längerem abzeichnet, war mit ein Grund für die politische Initiative zur Lancierung der Bildungsoffensive des Bundes. Doch anstatt die Konsequenzen der auf Selektion ausgelegten Schweizer Bildungslandschaft mit ihren Exklusionsrisiken grundsätzlich zu überdenken und die zukünftigen Nachteile weiterer „abgehängter“ respektive nicht anschlussfähiger Bildungsabgänger*innen zu erkennen und zu mindern, wird auf eine kompensatorische Strategie mit niederschwelligen Angeboten für Erwachsene mit geringen Grundkompetenzen gesetzt – und erhofft, dass diese Massnahmen bereits kurzfristig Entlastungen im Fachkräftemangel erzielen werden. Dies soll nicht als Kritik am Ansatz non-formaler Bildungsangebote im Erwachsenenbereich verstanden werden, denn solche Angebote, welche sich an den spezifischen Bedürfnissen der Betroffenen ausrichten und eine individuelle Betreuung gewährleisten, braucht es durchaus und zeigt den Zielgruppen, dass ein Interesse besteht, sie mit niederschwelligen und kostengünstigen Angeboten zu erreichen. Doch müsste die Erkenntnis, dass unsere Wissensgesellschaft es sich nicht leisten kann, Kinder und Jugendliche schulisch zu entmutigen und zurückzulassen, um sie später als Erwachsene mit grossem Aufwand und passenden Bildungsangeboten abzuholen, dazu führen, dass möglichst alle Bildungsabgänger*innen der obligatorischen Schulzeit mit genügenden Grundkompetenzen abschliessen können. Eine solche Chancengerechtigkeit lässt sich auch aus bildungssoziologischer, rassismuskritischer und intersektionaler Perspektive einfach begründen. Das Festhalten und die Legitimation eines selektiven Bildungssystems folgen der Logik des Vorrangs der Besseren, auch wenn in der Schweiz nicht wenige Ressourcen in die Förderung der schulisch Schwächeren und für eine integrative Volksschule investiert werden. Denn diese Anstrengungen mindern die Auswirkungen von Selektion nur bedingt, da Ausgesonderte dies meist als Entmutigung erfahren und einen deutlichen Motivationsverlust erleiden (Hadjar et al. 2010). Die Selektionsmechanismen und der Zugang zu Bildungsressourcen in der Schweiz folgen weiterhin der einfachen Dichotomie von Inkludierten und Exkludierten und von Bildungsniveau als individueller Bringschuld – anstatt den Blick auf inklusivere und diversitätssensible Bildungssysteme im Ausland zu richten, an denen sich die Schweiz orientieren könnte. Hier zeigt etwa die PISA-Studie von 2022, dass die Schweiz zwar gute durchschnittliche Mathematikleistungen im Vergleich zu den anderen Ländern aufweist, nämlich an vierter Stelle hinter Japan, Korea und Estland liegt, dass aber gleichzeitig 24 % der 15-Jährigen nur das erste Niveau in Leseleistung erreichen und in Bezug auf die Bildungsgleichheit im Schlussfeld abschneiden (Edelstein 2024). Gleichzeitig zeigt dieser internationale Vergleich auf, dass kein Zielkonflikt zwischen guten Leistungen und Bildungsgleichheit besteht, weil es durchaus Länder gibt, die beides miteinander vereinbaren können (Edelstein 2024).

5. Über die politische Legitimation von Nachholbildung für Erwachsene zu einer chancengerechteren Bildungspolitik

Der Fachkräftemangel stellt ein Phänomen dar, welches die Wichtigkeit von Bildungsanstrengungen gerade auch im Erwachsenenbereich herausstreicht und aufgrund seiner Dringlichkeit und ökonomischen Tragweite auch eine hohe Relevanz über weite Teile des politischen Spektrums erhält, was sich positiv auf die Bereitschaft zur Bereitstellung der notwendigen finanziellen Ressourcen auswirkt. Die Grundkompetenzen-Programme sollen gemäss WeBiG bestehende Lücken schliessen, dort wo es noch keine Angebote gibt, wie etwa arbeitsmarktliche Angebote oder kantonale Integrationsmassnahmen für zugewanderte Personen oder solche mit Fluchthintergrund. Folglich sollen Erwachsene, insbesondere solche, die ihre Schulbildung in der Schweiz absolviert haben und aufgrund ihrer Bildungsdefizite einen erschwerten Zugang zu Bildung und Arbeit aufweisen, von den Angeboten profitieren können. Wie bereits erwähnt, stellen diese Defizite in den Grundkompetenzen meist eine schmerzliche Erfahrung dar, die sie bestmöglich zu verbergen suchen, was das Erreichen dieser Zielgruppe zu einem schwierigen Unterfangen werden lässt. Gleichzeitig haben Personen, die ihre Schulbildung weitgehend im Ausland absolviert haben, ein unverkrampfteres Verhältnis zu Nachholbildung und sind über den Erwerb von Deutsch als Zweitsprache bereits so sozialisiert, dass sie ihre Bildungsdefizite weniger schambesetzt wahrnehmen und Unterstützungsangebote aufsuchen.

An dieser Stelle muss auch die grundsätzliche Frage aufgeworfen werden, ob die Bildungsoffensive tatsächlich hilft, genügend Fachkräfte heranzubilden, welche in absehbarer Zukunft die Lücken in den relevanten Wirtschaftsbereichen füllen könnten. Denn in unserer hochspezialisierten und wettbewerbsorientierten Berufswelt wird ein stetiger Kompetenzaufbau vorausgesetzt und das Nachholen von Bildung im fortgeschrittenen Erwachsenenalter braucht Zeit, Durchlässigkeit und vor allem ausreichende finanzielle Mittel (wie etwa Stipendien oder wirtschaftliche Sozialhilfe), um den Erwerbsausfall von meist prekarisierten Personen während der Ausbildungszeit zu überbrücken. Die Arbeitsmarktorientierung mit der beruflichen Sekundärbildung und die Durchlässigkeit des Schweizer Bildungssystems mit ihren Passerellen und Nachholbildungsmöglichkeiten schafft zwar eine hohe Passung zwischen arbeitsmarktlichem Angebot und Nachfrage. Doch wie die beschämten Bildungsverlierer*innen und die Pausierenden (durch Mutterschaft) mit Qualifizierungslücken ins Arbeitsleben reintegriert werden sollen, bleibt eine grosse gesellschaftliche Herausforderung. Dieser ist nur mit einem Paradigmenwechsel hin zu einer inklusiveren und chancengerechteren Bildungspolitik zu begegnen, die weniger Entmutigte produziert.

Literatur

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