DIE (NEO-)PRAGMATISCHE PERSPEKTIVE DER SOZIOLOGIE DER KRITIK AUF HERRSCHAFT, MACHT UND UNGLEICHHEIT IN DER SCHULISCHEN BILDUNG

Mario Steinberg, Kenneth Horvath und Andrea Isabel Frei

1. Einleitung

Resistance stems from individual experience, expressing a disagreement with reality as it is historically constructed within a given social formation (Boltanski et al. 2014b, 602).

Das Problem persistenter Ungleichheiten kann als Leitproblem der Bildungssoziologie gesehen werden. Der vorliegende Beitrag lotet das Potenzial einer spezifischen analytischen Perspektive aus, um zum Verständnis dauerhafter Macht- und Ungleichheitsordnungen in Bildungskontexten beizutragen: die Soziologie der Kritik (Boltanski 2010), die als eine Strömung der französischen pragmatischen Soziologie (Guggenheim/Potthast 2012; Barthe et al. 2016; Diaz-Bone 2018) in den letzten Jahren zunehmend auch in Bildungskontexten aufgegriffen wird (Imdorf et al. 2019). Motiviert wird dieses Vorhaben durch die Art und Weise, wie das Verhältnis von Kritik, Forschung, Macht, Herrschaft und Ungleichheit in diesen Theoriekontexten gefasst wird – mit weitreichenden Implikationen für unser Verständnis davon, was es bedeutet, kritische Sozialforschung zu betreiben.

Eine wichtige Eigenheit einer pragmatischen Analysehaltung besteht im Beharren darauf, zunächst die Rolle kritischer Sozialforschung im Verhältnis zu ihrem Gegenstand und insbesondere im Verhältnis zu anderen Akteur*innen und zu deren Perspektiven auf Fragen von Herrschaft, Macht und Ungleichheit zu bestimmen. Diese Rollenbestimmung bildet den Ausgangspunkt unserer Argumentation (Kapitel 2). Die darauffolgenden Kapitel (3 bis 4) besprechen Kernaspekte der Analysehaltung einer pragmatischen Soziologie der Kritik für die Auseinandersetzung mit Fragen von Herrschaft, Macht und Ungleichheit in der Bildung. Im abschließenden Kapitel 5 rekapitulieren wir das zuvor Gesagte und legen zusammenfassend dar, wie Kritik demokratisiert werden kann, wenn die kritischen Kompetenzen der Akteur*innen ernst genommen werden.

Die Relevanz der besprochenen Punkte wird anhand von Schlaglichtern aus einem laufenden, vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanzierten Projekt (algorithmic-sorting-in-education.net 2023; SNF 2024) veranschaulicht, das sich dem Problem algorithmischer Sortierungen in der schulischen Bildung widmet und den Fragen nachgeht, wie digitale Bildungstechnologien ausgestaltet werden, wie sie im Alltag pädagogischer Praxis angenommen, gedeutet oder herausgefordert werden und welche Folgen sich dabei in puncto Bildungsgerechtigkeit abzeichnen. Die digitale Transformation der Bildung berührt zentrale Aspekte der Organisation schulischer Bildung und des schulischen Handelns und bietet damit einen hochaktuellen und in seiner Komplexität gut geeigneten Rahmen, um darüber nachzudenken, wie wir sozialtheoretisch Fragen der Macht, der Herrschaft und der Ungleichheit in Bildungskontexten beantworten können.

Das Ziel des nachfolgenden Abschnitts ist es, zunächst den Nutzen dieses theoretisch-konzeptionellen Rahmens für eine Rollen- und Aufgabendefinition kritischer Sozialforschung zu bestimmen (Boltanski 2010, 46). Dazu wird veranschaulicht, wie Bildungsprozesse aus (neo-)pragmatischer Perspektive kritisch interpretiert werden können, um das Verständnis für Mechanismen sozialer Ungleichheiten in der schulischen Bildung zu vertiefen. Durch den Text zieht sich der Anspruch, zu demonstrieren, wie dieser Ansatz sozialwissenschaftliche Kritik mit der Lebenswirklichkeit von Akteur*innen verbindet, um Reflexions- und Diskussionsräume zu schaffen, welche die Auseinandersetzung mit Macht- und Ungleichheitsverhältnissen fördern und gesellschaftliche Realitäten transformieren können (Boltanski 2010, 225).

2. Kritische Sozialforschung: Eine pragmatische Rollen- und Aufgabenbestimmung

Im Zentrum dieses Beitrags steht die Frage, was es bedeutet, eine kritische Sozialforschung zu betreiben, die der Komplexität des Zusammenspiels zwischen technologischen Innovationen und alltäglichen pädagogischen Praktiken im schulischen Kontext gerecht wird. Die hier eingenommene (neo-)pragmatische Perspektive kann unter dem Begriff der Soziologie der Kritik (Boltanski 2010) zusammengefasst werden. Diese betont, dass die soziale Welt nicht als ein Gefüge von Strukturen verstanden werden kann, das festen Gesetzen folgt, denen soziale Akteur*innen blind ausgeliefert sind, und durch dessen unsichtbare „Kräfte“ sie hinter ihrem Rücken gesteuert werden (Boltanski/Chiapello 2001, 459). Ausgangspunkt jeder kritischen Untersuchung muss aus einer pragmatischen Sicht vielmehr die Annahme von kompetenten Akteur*innen sein, die aktiv an der Gestaltung der sie umgebenden sozialen Realität teilhaben. Die Aufgabe einer kritischen Sozialforschung liegt aus dieser Perspektive nicht darin, zu entschleiern oder gar zu denunzieren, sondern darin, kritisches Engagement für alle sozialen Akteur*innen zu ermöglichen und die Räume dafür zu erweitern und zu vertiefen (Latour 2004; Boltanski et al. 2014a; Couldry 2020).

Die pragmatische Soziologie der Kritik betrachtet es – explizit in Weiterentwicklung des Programms der kritischen Herrschaftssoziologie Bourdieus – denn auch nicht als ihre Aufgabe, passiv beherrschte Akteur*innen über ihre Beherrschtheit aufzuklären (Horvath/Steinberg 2023). Vielmehr ist es aus dieser Perspektive die Aufgabe kritischer Forscher*innen, soziales Handeln aus der „Empirische[n] Logik der Koordination in realen Situationen ‚von innen heraus‘ zu verstehen und damit die Perspektive der Akteure und nicht diejenige von Wissenschaftlern einzunehmen, die das Verhalten von Akteuren zu modellieren versuchen“ (Diaz-Bone 2018, 374). Damit ist ein Rollenverständnis impliziert, das als „komplexe Innenposition“ beschrieben werden kann (Boltanski 2010). Eine solche Innenposition nehmen Forschende aus pragmatischer Sicht unausweichlich ein – sie sind immer schon moralisch und epistemisch mit dem Gegenstand ihrer Forschung verwoben. Weder können Forscher*innen einen privilegierten Erkenntnisstandpunkt für sich reklamieren, noch können sie sich auf einen absoluten moralischen Standpunkt beziehen, von dem aus sie von außen Kritik an gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen üben könnten.

Diese Idee einer komplexen Innenposition könnte zur Sorge und Frage führen, was Sozialforschung denn noch für einen Beitrag zu kritischen Debatten leisten kann, wenn doch die Fähigkeit zu kompetenter Kritik immer schon (auch) bei anderen Akteur*innen gegeben ist. Eine Antwort lautet, dass sich kritische Forschung darauf konzentrieren sollte, die moralischen und epistemischen Grundlagen und Logiken zu explizieren, auf die in ungewissen Situationen Bezug genommen wird, und Spannungen und nicht intendierte Folgen dieser vielfältigen und häufig widersprüchlichen Bezugnahmen zu identifizieren und damit Möglichkeiten zu schaffen, soziale Phänomene auf eine neue Art und Weise zu problematisieren (Horvath et al. 2023). Eine andere ist, dass sie mit ihrer Forschung die Möglichkeiten der Kritik von Akteur*innen verbessert. Sie erweitert also Kritikräume und trägt dazu bei, bessere Kritik zu formulieren – Kritik, die hält.

Eng verbunden mit diesem epistemologischen Standpunkt ist ein spezifischer Blick auf die zentralen Analysegegenstände der Forschung. Durch die Verschiebung der Blickrichtung hin zu „Disputen oder Auseinandersetzungen“ (Boltanski 2010, 46) rücken die reflexiven Kompetenzen der Akteur*innen und ihr Handeln in Situationen der Unsicherheit in den Mittelpunkt der macht- und ungleichheitskritischen Forschung. So soll sich die Soziologin oder der Soziologe, die oder der kritische Sozialforschung betreibt, zunächst „gewissermaßen naiv“ anschauen, „was die Akteure tun, wie sie die Absichten anderer interpretieren, wie sie ihre Sache argumentativ vertreten“ (Boltanski 2010, 46). Dies ist Grundlage dafür, dass Sozialkritik „solide mit der gesellschaftlichen Realität (verschnürt werden kann)“ (Boltanski 2010, 46).

Ausgangspunkt für das Projekt zu algorithmischen Sortierungen, auf das hier veranschaulichend Bezug genommen wird, war ein Unbehagen im Zusammenhang mit der Erwartung, dass mit dem Einzug von künstlicher Intelligenz in digitale Bildungstechnologien folgenreiche Verschiebungen in puncto Bildungsgerechtigkeit stattfinden könnten, die bislang unzureichend verstanden werden. Anstatt aber nun beispielsweise die Wirkung von bestimmten Technologien auf Lernerfolge zu untersuchen oder im Stil einer kritischen politischen Ökonomie die verborgenen Interessen mächtiger Unternehmen und politischer Verbände offenzulegen, wurde der Weg gewählt, bei den Akteur*innen anzusetzen, die an der Entwicklung und Nutzung solcher Technologien unmittelbar beteiligt sind (allen voran Programmierer*innen, EdTech-Unternehmer*innen und Lehrpersonen). Das kritische Potenzial dieser Forschungsstrategie folgt aus der Identifikation von nicht auf den ersten Blick offensichtlichen, für die involvierten Akteur*innen aber prinzipiell verständlichen und nachvollziehbaren sozialen Folgen, die sich im Zusammenspiel von Technologieentwicklung und pädagogischer Nutzung ergeben können.

Die folgenden Abschnitte erläutern die sozialtheoretischen Überlegungen dieses Vorgehens. Wir diskutieren, wie Akteur*innen ihren unsicheren Alltag meistern, indem sie auf gesellschaftlich verfügbare moralische und epistemische Ordnungen zurückgreifen, um soziale Ordnungen situativ auszuhandeln und ihr Handeln zu koordinieren.

3. Grundannahmen der Soziologie der Kritik

Die folgenden Abschnitte stellen die Grundannahmen der Soziologie der Kritik vor. Zunächst wird das zentrale Konzept der Situation als empirische Analysekategorie eingeführt. Danach werden die Bedeutung und Pluralität von moralischen und epistemischen Konventionen sowie die Heuristik der Prüfungen zur Analyse von Herrschaftsverhältnissen erläutert.

3.1 Kompetente Akteur*innen in ungewissen Situationen

Der epistemologische Standpunkt der pragmatischen Soziologie impliziert, dass in der Analyse gesellschaftlicher Phänomene – etwa des Problems beharrlicher Bildungsungleichheiten – größere Zusammenhänge (die Makroebene) zunächst zurückgestellt werden und die Aufmerksamkeit zunächst auf die konkreten Handlungssituationen gerichtet wird, in denen und durch die hindurch diese Verhältnisse wirksam, aufgegriffen, reproduziert oder verändert werden (Barthe et al. 2016 178). Dieses „Ernstnehmen“ (Barthe et al. 2016, 212) der Argumente aller an einer Situationsdefinition beteiligten Akteur*innen ist das theoretische und zugleich methodische Prinzip, an dem sich das kritische Potenzial der Soziologie der Kritik zur Analyse von Macht und Ungleichheit entfaltet: Die situative Definition von Werten geschieht innerhalb sozialer Situationen.

Der Begriff „Situation“ erschöpft sich in diesem Verständnis nicht in unmittelbaren sozialen Interaktionen (Horvath 2019). Situationen werden vielmehr gedacht als „komplexe Konstellationen von Objekten, kognitiven Formaten, Koordinationsanforderungen (Problemen), institutionellen Arrangements (wie Organisationen), Personen und Konzepten“ (Diaz-Bone 2018, 375) und können ganz unterschiedliche soziale und historische Reichweiten haben. Diese Annahme liegt quer zur traditionellen Unterscheidung von Mikro- und Makroebene und zeichnet sich durch ein konsequent relationales Denken aus, in dem das Größere immer schon gegeben und präsent sein kann, wenn im Kleineren situative Probleme identifiziert und bearbeitet werden. Die Analyseleistung kritischer Sozialforschung besteht nun darin, die konkrete Art und Weise zu bestimmen, in der größere Zusammenhänge in konkreten Handlungssituationen Bedeutung erlangen und etwa zu systematischen Ungleichbehandlungen führen.

Um die Komplexität alltäglicher Situationen bewältigen und Handlungen darin sinnvoll abstimmen zu können, müssen Akteur*innen sich permanent orientieren und koordinieren. Wie soziale Akteur*innen dabei eine Situation wahrnehmen, deuten und definieren, hat Folgen für die Verteilung von Handlungsspielräumen anderer Akteur*innen und die Bewertung von Objekten und Personen in ihren Rollen. Daher unterliegen die Deutungen sozialer Situationen immer potenziell einem Rechtfertigungsdruck – im simplen Umkehrschluss sind sie damit jedoch immer auch Kritik ausgesetzt (Boltanski/Thévenot 2007). Mittels gesellschaftlich etablierter Evaluationspraktiken können Akteur*innen Situationen bewerten, soziale Ordnung ermöglichen und alltägliche Komplexität reduzieren (Boltanski/Thévenot 2007).

Für unser Beispielprojekt ergab sich aus diesem „methodologischen Situationalismus“ (Diaz-Bone 2018) eine Grundirritation: Mit digitalen Bildungstechnologien wird eine vollkommen neue Klasse von Objekten mutmaßlich relevant für schulische Situationen des Unterrichtens und innerschulische wie außerschulische Situationen des Lernens. Zudem wird auch eine neue Gruppe von Akteur*innen Teil pädagogischer Situationen – eine Gruppe, die in sich wiederum alles andere als homogen ist und Start-up-Unternehmer*innen ebenso umfasst wie Softwareentwickler*innen oder Tech-Konzerne. Damit stellen sich zwei Fragen: (1) In welchen Situationen sehen sich die verschiedenen involvierten Akteur*innen eigentlich genau – mit welchen Problemen sind sie konfrontiert, welche Ressourcen stehen ihnen zur Verfügung, welche Objekte und anderen Akteur*innen prägen ihre Lage? (2) Was ergibt sich an Folgedynamiken, wenn Situationen aus der einen Welt – der technologischen – in Situationen in der anderen – der pädagogischen – hineinwirken?

Aus der hier eingenommenen macht- und ungleichheitskritischen Perspektive ist zu fragen, ob neue Akteur*innen im schulischen Feld spezifische Vorstellungen von guter und gerechter Bildung mitbringen und wie diese sich zu den etablierten Vorstellungen von Qualität und Gerechtigkeit bzw. Bildungszielen verhalten. Im Fall von digitalen Bildungstechnologien liegt die Vermutung nahe, dass ökonomische Interessen an Bedeutung gewinnen werden, was Fragen der pädagogischen Implikationen, ihrer „demokratischen Legitimation“ und der daraus resultierenden „Implikationen für Bildungsgerechtigkeit“ (Parreira do Amaral 2016, 458) aufwirft. Diese Fragen erscheinen umso dringlicher, als vorliegende Befunde nahelegen, dass in den Entwicklungs- und Vermarktungsprozessen digitaler Bildungstechnologien pädagogische Überlegungen – wenn überhaupt – nur eine untergeordnete Rolle spielen (Morozov 2022).

Gerade aufgrund dieser fehlenden pädagogischen Rückbindungen stellt sich die Frage, wie Akteur*innen in Schulen mit den von außen kommenden technologischen Angeboten (und Anforderungen!) umgehen, wie sie diese deuten und welche Konsequenzen dies für Gerechtigkeitsfragen hat. Empirische Befunde zeigen, dass im pädagogischen Feld durchaus folgenreiche situative Umwidmungen zu erwarten sind. Steinberg und Schmid (2024) verdeutlichen etwa, dass Lehrpersonen digitalen Lerntools andere Rollen zuschreiben, als dies von den technologischen Entwickler*innen vorgesehen ist. So wird Software, die mit der Individualisierung und Förderung autonomen Lernens beworben wird, in der pädagogischen Praxis zur Überwachung und zur Vermeidung von Störungen eingesetzt. Deutlich wird hier die Spannung, die sich aus den beteiligten situativen Orientierungen von Technologieentwickler*innen und Pädagog*innen ergibt und die sich in einer praktischen Umdeutung technologischer Lösungen materialisiert. Diese Spannungen zu verstehen, ist aus einer herrschafts-, macht- und ungleichheitsanalytischen Perspektive relevant. Wenn beispielsweise durch den situativen Einsatz von Technologien neue Formen der Bewertung oder Sortierung von Schüler*innen eingeführt werden, ist davon auszugehen, dass damit auch Formen der potenziellen Benachteiligung verbunden sind. Diese potenziellen Benachteiligungsdynamiken sind aber unter Umständen für involvierte Akteur*innen kaum noch nachvollziehbar. Eine kritische Auseinandersetzung mit ihnen erfordert, dass zunächst die spannungsreichen Konfigurationen entschlüsselt werden, die sich zwischen Entwicklung und Nutzung von Bildungstechnologien abspielen. Worauf diese Entschlüsselungsarbeit analytisch abzielen kann, ist Gegenstand der folgenden Abschnitte.

3.2 Plurale Konventionen und Welten

In der Bewältigung von unsicheren Situationen können (und müssen) sich soziale Akteur*innen auf gesellschaftlich etablierte – konventionelle – moralische und epistemische Ordnungen stützen, die ihnen als situative Bezugspunkte der Handlungskoordination dienen und an denen sie ihr Handeln orientieren können (Boltanski/Thévenot 2007). Solche Konventionen stellen für Akteur*innen eine Möglichkeit dar, sich „auf allgemeine Prinzipien (Wissensformen, Werte, Ordnungen) zu stützen, um Situationen zu evaluieren, zu bewerten und zu kritisieren“ (Leemann 2019, 267). Konventionen können somit als „kollektiv verfügbare Handlungsordnungen und Koordinationslogiken“ (Diaz-Bone 2011, 23) betrachtet werden, die historisch gewachsen sind, von Akteur*innen situativ mobilisiert und zur Rechtfertigung des eigenen Handelns genutzt werden (Diaz-Bone 2011, 23).

Ein zentraler Grundsatz der französischen pragmatischen Soziologie liegt in der Annahme der Pluralität dieser konventionellen Bezugnahmen. Das bedeutet, dass sich Akteur*innen in unsicheren Situationen auf mehrere – „more than one, less than many“ (Mol 2002) – solcher Ordnungen beziehen können, die allgemein als vernünftig und gerecht anerkannt sind, aber durchaus in Konflikt zueinander stehen können. Jede dieser „Rechtfertigungsordnungen“ (Boltanski/Thévenot 2007) orientiert sich an einer Art, das gesellschaftliche Gemeinwohl zu fassen. Sozialen Akteur*innen wird ein „Gerechtigkeitssinn“ (Barthe et al. 2016, 220) unterstellt, der es ihnen erlaubt, in unsicheren Situationen Argumente als kritisier- oder akzeptierbarer zu beurteilen. „Diskursive Zwänge“ führen jedoch dazu, dass nicht alle Handlungen und Verhaltensweisen als gleichwertig oder akzeptabel gelten können, und einige von ihnen als „skandalös und degradierend verurteilt werden müssen und nicht toleriert werden dürfen“ (Barthe et al. 2016, 220).

Die Pluralitätsannahme ist der Schlüssel, um den Blick der Soziologie der Kritik auf Stabilisierung und Wandel sozialer Ordnungen zu verstehen: Akteur*innen können unterschiedliche Perspektiven mobilisieren, um eine Bestehende zu verteidigen oder zur Veränderung zu drängen. Die Grundannahme der Pluralität geht auch eng mit der oben beschriebenen Anerkennung der komplexen Innenposition einher, aus der heraus Sozialforschung agiert – Forschung kann und muss sich zu diesen pluralen Ordnungen verhalten und positionieren.

Derouet (1992) folgend haben sich im Feld der Bildung fünf moralische Ordnungen oder auch Konventionen historisch durchgesetzt und gehalten. Diese fünf Konventionen verweisen auf je eigene „Schulwelten“ (Imdorf 2011), denn abgesehen von der Begründung, Rechtfertigung und Kritik von situativen Bewertungen und Handlungen prägen sie Aspekte des gesamten Schullebens. Sie nehmen etwa Einfluss darauf, wie didaktische Arrangements aussehen, welche Prüfungsformate als angemessen gelten, wie das ideale Verhältnis von Lehrpersonen und Schüler*innen entworfen wird oder wie der Schulunterricht räumlich ausgestaltet wird (Imdorf et al. 2019, 9 ff.). In jeder Schulwelt wird Dingen, Personen oder Situationen gemäß anderen Prinzipien Wert zuerkannt. Tabelle 1 (siehe am Ende dieses Beitrags) zeigt die für das Feld der Bildung relevanten Konventionen/Schulwelten sowie die damit verbundenen Vorstellungen der Qualität von Bildung.

Diese Schulwelten haben weitreichende Konsequenzen: Sie bestimmen, welches Bild einer guten und gerechten Schule von Akteur*innen situativ erzeugt wird. Damit nehmen sie auch implizit Einfluss darauf, nach welchen Kriterien schulische Klassifizierungs- und Sortierungsprozesse vorgenommen werden (Frei et al. 2023, 133). Schulwelten kommen aber – und das ist wesentlich – niemals in isolierter Reinform vor. Zu erwarten sind immer mehr oder weniger spannungsreiche Konfigurationen von schulweltlichen Bezügen, die als Kompromisse zwischen verschiedenen, koexistierenden pädagogischen und bildungspolitischen Perspektiven und Positionen gelesen werden können.

Für die Auseinandersetzung mit Bildungsungleichheiten ergibt sich eine grundlegende Herausforderung: Jeder Schulwelt liegt ein eigenes Verständnis von Gerechtigkeit und unterschiedliche Vorstellungen von Indikatoren für Ungleichheit und Benachteiligung zugrunde. Während beispielsweise in einer staatsbürgerlichen Schulwelt die Teilhabe an allgemein verbindlichen und gleichen Bildungsangeboten als Ideal gilt, rückt in einer inspirierten Schulwelt das Anliegen der Entfaltung individueller Neigungen ins Zentrum von Gerechtigkeits- und Ungleichheitserwägungen.

3.3 Exkurs: Das Relativismusproblem

Aus der Kopplung von Kompetenz- und Pluralitätsannahme folgt, dass Sozialforschung keine letztgültige Definition von Gerechtigkeit und Ungleichheit beanspruchen kann. Was als gerecht gilt, wird unausweichlich situativ verhandelt (Boltanski 2010, 82 ff.). Wir als Forschende können und müssen uns zu diesen situativ stattfindenden Verhandlungen und Kompromissen (und deren sozialen Konsequenzen) verhalten, können aber im Sinne einer pragmatistischen Herangehensweise keinen privilegierten moralischen oder epistemischen Standpunkt für uns beanspruchen, von dem aus wir sprechen und uns engagieren könnten – und der uns gestatten würde, jeweils eine einzige richtige Definition von Ungleichheit und Gerechtigkeit zu behaupten.

Dieses Verständnis führt zu dem Einwand, der dem Pragmatismus ausgehend von traditionellen dualistischen Weltvorstellungen seit jeher vorgebracht wird, dass dieser auf einen moralischen Relativismus oder gar Nihilismus hinauslaufe, weil er ja jedes sichere Fundament für Kritik leugnet. Dieser Einwand greift zu kurz. Vielmehr bedeutet die pragmatische Position, dass Sozialforschung (immer von ihrer eigenen Position im Verhältnis zu pluralen moralischen Ordnungen ausgehend) erst in die Lage versetzt wird, sich effektiv kritisch zu engagieren, weil sie anerkennt, dass stets und unausweichlich mit von anderen als legitim anerkannten Einwänden zu rechnen ist. Sie anerkennt also die Fragilität der eigenen Kritikposition, kann damit aber auch aktiv mit dieser umgehen. Aus pragmatischer Sicht läuft das Festhalten an einem als transzendent und absolut gedachten moralischen Standpunkt, der quasi gegen jede Kritik immun sein soll, auf ein metaphysisches Wunschdenken hinaus, das einerseits eine allen anderen Akteur*innen gegenüber überlegene Erkenntnisposition proklamiert, gerade dadurch aber andererseits die reale Schwäche (weil Angreifbarkeit) der eigenen Position übersieht.

Der aus neopragmatischer Sicht „totalisierende Charakter“ (Boltanski 2010, 74) einer normativen Außenposition erscheint zudem kontraproduktiv, „da sein Blick durch persönliche Optionen (gebunden z. B. an eine spezifische kulturelle Zugehörigkeit, ein politisches oder religiöses Engagement) oder durch den Rückgriff auf eine inhaltliche Moralphilosophie (wie den Utilitarismus) geleitet ist“ (Boltanski 2010, 57). Dem setzt die (neo-)pragmatische Soziologie entgegen, dass die oder der kritische Forscher*in immer selbst Teil der sozialen Praxis der Wirklichkeitserzeugung ist. Das wiederum hat aus pragmatischer Sicht analytische Vorteile: Erst das Anerkennen des empirisch plausibel belegbaren Umstands pluraler Ordnungen lässt aus Sicht der pragmatischen Soziologie verstehen, „auf welche Art und Weise solche Asymmetrien und Ungleichheiten sich reproduzieren, manchmal aber auch auflösen“ (Barthe et al. 2016, 218).

Letztlich ist das Relativismusproblem aber eine Frage der sozialtheoretischen und moralphilosophischen Positionierung und damit nicht endgültig auflösbar. Die Annahme, dass Kritik notwendigerweise eines normativen Standpunktes, einer Außenperspektive bedürfe, impliziert, dass empirische und moralische Wahrheiten objektiv – d. h. unabhängig vom betrachtenden Subjekt – existieren (Rorty 2017). Der Pragmatist lehnt solche ontologischen Begrifflichkeiten ab und sieht Wahrheit und Gerechtigkeit dagegen als Produkte sozialer Praxis. Der Begriff der Wahrheit wird damit ersetzt durch den des Rechtfertigens (Rorty 2003, 9 ff.).

Aus der Pluralitätsannahme folgen spezifische Aufgaben und Verantwortungen für die Sozial- und Bildungswissenschaften. Als Auftrag einer solchen Konzeption kritischer Sozialforschung kann beispielsweise gesehen werden, Spannungen – die im sozialen Alltag zunächst nicht unbedingt als problematisch wahrgenommen werden müssen – zwischen den verschiedenen in einer Situation wirksamen moralischen Bezugspunkten aufzuzeigen (vgl. Horvath et al. 2023, 287). Die Rekonstruktion von in konkreten Situationen wirksamen Konventionen oder Schulwelten kann dabei helfen, solche Spannungen zu identifizieren, deren Folgen hinsichtlich der Reproduktion sozialer Ungleichheit abzuschätzen und so auch für andere beteiligte Akteur*innen die Möglichkeit zu geben, über die Folgen dieser Konfigurationen – etwa deren Relevanz für Fragen der ungleichen Verteilung von Bildungschancen – kritisch nachzudenken.

Ein Beispiel: Digitale Bildungstechnologien zeigen eine fundamentale Spannung zwischen zwei widersprüchlichen Schulweltbezügen. Einerseits sind sie geprägt von industriellen Schulwelt-Elementen wie standardisierten Tests und behavioristischen Lernvorstellungen. Andererseits beziehen sie sich auf eine inspirierte Schulwelt, die individualisiertes, kreatives und selbstgesteuertes Lernen fordert und Hingabe, Leidenschaft und Selbstentfaltung als Maßstäbe postuliert (Horvath et al. 2023). Diese kreativen Bezüge erscheinen etwa in den Narrativen zur Bewerbung der Technologien, während auf technologischer Ebene in der Regel industrielle Bezüge umgesetzt werden.

Relevant ist diese analytische Aufgabe der Rekonstruktion von schulweltlichen Bezügen, weil diese Art von Spannung Konsequenzen haben kann, etwa weil in den verschiedenen in digitalen Lernumgebungen angerufenen Schulwelten jeweils andere Kriterien angelegt werden, die in pädagogischen Situationen gelten müssen, damit diese als gut und gerecht beurteilt werden können. Ebenso wird die Rolle, die Bildungstechnologien gegenwärtig und zukünftig einnehmen sollen, in diesen Schulwelten höchst disparat verhandelt. Diese spannungsreichen konventionellen Rahmungen bergen das Risiko, beharrliche Bildungsungleichheiten weiter zu festigen – beispielsweise, weil Benachteiligungen, die in einem schulweltlichen Bezug zustande kommen, in einem anderen für nicht weiter schlimm gehalten oder gar ganz ausgeblendet – oft tatsächlich einfach nicht wahrgenommen – werden (Frei et al. 2023).

Die Ergebnisse solcher Rekonstruktionen können helfen, soziale Akteur*innen zu sensibilisieren und Diskursräume für Kritik zu öffnen, die Möglichkeit bieten, die spannungsreiche Genese von scheinbar selbstverständlichen und unausweichlichen Dispositiven aufzuzeigen. Im nachfolgenden Kapitel wird auf dieses Ziel der Soziologie der Kritik, Herrschaftstendenzen durch die Eröffnung von Konflikt- und Kritikräumen entgegenzutreten, eingegangen.

3.4 Prüfungen, Institutionen – und das Problem von Kritik und Herrschaft

Die theoretische Annahme von pluralen Konventionen oder – im Bildungskontext von Schulwelten – als Orientierungspunkte alltäglichen Handelns und als Ankerpunkte zur Rekonstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit ermöglicht es, der empirischen Analyse einen theoretischen Rahmen zu geben. Dieser Rahmen geht über die Alltagskritik und die sich darin manifestierende Affirmation einer gegebenen Realität hinaus und erlaubt, „sich dem Zugriff der etablierten Realität ein Stück weit zu entziehen und eine alternative Einrichtung der Gesellschaft ins Auge zu fassen“ (Celikates 2019). Wenn solche Möglichkeiten der situativen Kritik am Gegebenen gestärkt werden, kann ein kritischer Anspruch eingelöst werden, ohne dass den Akteur*innen ihre Mündigkeit und ihre kritischen Kompetenzen abgesprochen werden.

Um von hier aus die Brücke zum Problem der Herrschaft zu schlagen, kann auf ein weiteres Leitkonzept der französischen pragmatischen Soziologie verwiesen werden: das der Prüfung (Barthe et al. 2016). In Boltanskis (2010) Verständnis besteht die Hauptaufgabe sozialer Institutionen darin, Prüfungen durchzuführen, die in ungewissen und spannungsreichen Situationen allgemein verbindliche Entscheidungen ermöglichen. In sich als meritokratisch verstehenden Bildungssystemen besteht für die Institution Schule die zentrale Aufgabe dabei in der Feststellung von Leistung bzw. genauer: von Leistungspotenzialen.

Ein Indiz von Herrschaft im Sinne der Verfestigung einer von ungleichen und gemeinhin auch als ungerecht wahrgenommenen Verhältnissen durchzogenen gesellschaftlichen Ordnung ergibt sich aus Sicht der Soziologie der Kritik, wenn es irgendwie immer dieselben sind, die in scheinbar neutralen und voneinander unabhängigen Prüfungen erfolgreich sind oder scheitern (Boltanski 2010). Digitale Bildungstechnologien hätten in diesem Sinn positive disruptive Herrschaftseffekte (bzw. emanzipatorisches Potenzial), wenn sie letztlich dazu führten, dass Gruppen, die derzeit beharrlich mit Bildungsbenachteiligungen konfrontiert sind, erfolgreicher (bzw. im Schnitt öfter erfolgreich) durch Verkettungen von schulischen Prüfungen gehen. Affirmative (bzw. unter Umständen auch eskalierende) Herrschaftseffekte wären dementgegen zu konstatieren, wenn es auch in algorithmischen Prüfungskonfigurationen erst recht wieder immer dieselben sind, die positiv oder negativ bewertet werden.

Ob solche Effekte vorliegen, ist eine empirisch zu beantwortende Frage. Die Schlüsselfrage für die kritische Sozialforschung ist dann, wie diese Effekte im Wechselspiel von situativen Praktiken und pluralen Rechtfertigungsordnungen zustande kommen. Der Leitvorstellung von der kritischen Kompetenz sozialer Akteur*innen folgend kann sich eine pragmatische Soziologie nicht mit Erklärungen zufriedengeben, die letztlich auf Naivität, Inkompetenz oder Böswilligkeit der beteiligten Akteur*innen hinauslaufen. Nicht, dass diese Aspekte keine Rolle spielen können – ganz im Gegenteil, und dagegen anzugehen ist ein wichtiger Auftrag für kritisches Engagement. Einen originären sozialwissenschaftlichen Beitrag zum Verständnis beharrlicher Benachteiligungen haben wir aber erst geleistet, wenn wir für unsere Erklärung keine solchen Defizitannahmen voraussetzen müssen.

Für das Beispielprojekt zu algorithmischen Sortierungen ergibt sich eine doppelte Aufgabe. Zum einen geht es darum, Punkte zu identifizieren, an denen Prüfungen stattfinden. Zum anderen gilt es zu eruieren, in welchem Verhältnis diese Prüfungen zu etablierten Prüfungsformen und -formaten des schulischen Alltags stehen. Eine These, die sich in diesem Zusammenhang schon in einer frühen Phase der empirischen Erschließung aufdrängt, setzt am Versprechen der Adaptivität KI-gestützter Bildungstechnologien an. Entgegen der weitverbreiteten Rede von der Anpassung von Lernerfahrungen und Lernwegen an individuelle Bedürfnisse, Talente und Interessen prüfen aktuell verfügbare adaptive Lerntools vorwiegend Leistungen. Sie nutzen dazu etablierte psychometrische Skalen, die von Softwareentwickler*innen als State of the Art übernommen werden. Standardisierte Leistungsmessungen sind sozial nicht neutral, sie können benachteiligend wirken. Von der Macht- zur Herrschaftsfrage wird dieser Umstand aber erst durch ihre durch plurale Bezugnahmen abgestützte Institutionalisierung, die sich aus der Kombination von industriellen standardisierten Testverfahren mit Narrativen einer inspirierten Schulwelt ergibt, in denen diese Form der Benachteiligung keine Rolle spielt und darum de-thematisiert wird (Frei et al. 2023).

Die Frage ist damit, wie Verkettungen von Prüfungen, die auf verschiedene Schulwelten Bezug nehmen, in ihrem Zusammenspiel Benachteiligungen verfestigen und auf Dauer stellen. Herrschaft kann in diesem Sinne auch gefasst werden als spannungsreiche, aber stabile Konfiguration von moralischen und epistemischen Ordnungen, die von Institutionen aufrechterhalten werden, hegemoniale Formen der Problematisierung begünstigen und alternative Sichtweisen erschweren. Im Umkehrschluss liegt die Aufgabe für eine kritische Sozialforschung darin, über das Explizieren von Logiken, das Identifizieren von Spannungen und das Aufzeigen von zum Schweigen gebrachten Alternativen die Möglichkeiten zur kritischen Auseinandersetzung mit Prüfungsarrangements zu erweitern und zu vertiefen (Horvath et al. 2023).

Aus Perspektive der Soziologie der Kritik sind somit nicht alle Prüfungen moralisch gleichwertig. Vielmehr ist der Rechtfertigungscharakter einer Prüfungssituation (d. h. dessen Grad der sozialen Akzeptiertheit) als „das Ergebnis von Prüfungen […], das als solches jederzeit einer neuen Prüfung unterzogen werden kann“ (Barthe et al. 2016, 220) zu verstehen. Bestimmte Argumente, die Akteur*innen in der Bewältigung unsicherer sozialer Situationen hervorbringen, erweisen sich also – je nach situativem Kontext – als akzeptabler als andere. In ihren Ergebnissen sind Prüfungen jedoch ihrerseits vollständig kontingent und damit potenziell immer Kritik ausgesetzt. Berücksichtigt werden können damit in der empirischen Analyse immer auch marginalisierte Deutungen der Welt, „was letztendlich die normative Orientierung der pragmatischen Soziologie“ (Barthe et al. 2016, 221) illustriert. Verbunden ist damit das Anliegen der pragmatischen Soziologie der Kritik, Konflikträume zu öffnen, die sich etablierten institutionellen Zwängen entziehen, wie nachfolgend ausgeführt wird.

4. Forschung zwischen kritischem Engagement und institutionellen Verflechtungen

Als Forschende im Sinn der französischen pragmatischen Soziologie befinden wir uns unausweichlich in einem Spannungsfeld von Kritik und Affirmation, das auf eine ambivalente Beziehung zu gesellschaftlichen Institutionen verweist. Die Möglichkeiten, Kritik zu üben, sind im gesellschaftlichen Zusammenleben in vielfältigen Situationen durch soziale Institutionen begrenzt. Soziale Institutionen erzeugen notwendige soziale Stabilität und gesellschaftliche Ordnung (Basaure 2008, 15). Institutionen wohnt im Gegenzug aber notwendigerweise auch die Tendenz inne, Kritik zu unterdrücken – also zu begrenzen, was als sagbar gilt und was nicht. Im Extremfall – dem der Herrschaft – sind keine alternativen Interpretationen zugelassen. Diskursräume sind verschlossen (Boltanski 2010, 82 ff.; Boltanski et al. 2014a, 2014b). Diese Schließung muss nicht unbedingt gewaltsam zustande kommen oder aufrechterhalten werden. Es genügt, wenn alternative Entwürfe sich gegen dominante Sichtweisen nicht durchsetzen können, weil sie als unrealistisch, nicht praktikabel oder verträumt systematisch abgetan werden können. Sachzwänge und eingeschränkte Vorstellungsräume sind in diesem Sinn ein zentrales Element von Herrschaftszusammenhängen, die über Kompromiss und Konsens eher als über Zwang hergestellt werden.

Aus diesem Blickwinkel auf die gesellschaftliche Wirklichkeit ergibt sich, dass soziales Zusammenleben im Wesentlichen auf Situationen aufbaut, die auf einem Konsens beruhen – einem Konsens, der in Institutionen seinen Ausdruck findet, die einmal etabliert aber dazu neigen, alternative Deutungen zu erschweren oder zu verunmöglichen. Soll Kritik in einer solchen Situation möglich sein, bedarf sie wiederum eines normativen Standpunkts, den sie, wenn sie anschlussfähig und wirksam sein will, nur aus dem (verengten!) Feld der moralischen Ordnungen gewinnen kann, in dem auch andere soziale Akteur*innen agieren. Sie muss nach den schlummernden und marginalisierten Alternativen suchen, die Vorstellungs- und Diskussionsräume erweitern. Genau auf diese möglichen (alternativen) normativen Standpunkte bezieht sich die Soziologie der Kritik, wenn sie Konventionen oder Welten als moralische Handlungsstützen aus alltäglichen Handlungssituationen rekonstruiert. Aus diesen Rekonstruktionen lassen sich gewissermaßen Metapositionen entwickeln (Horvath et al. 2023). Boltanski selbst verweist auf die Unscheinbarkeit von Situationen, in denen sich solche Räume öffnen lassen – Räume, die aus der Faktizität einer etablierten Wirklichkeit heraustreten und in denen eine Situation zu schaffen versucht wird, in der Kritik (wieder) möglich wird:

Consequently, we enter what I describe as a ‘metapragmatic regime‘, in the context of which actors, forced to step outside the daily rhythm of mere practice, undertake qualifying operations, reflected in their assessments and justifications. Thus, they aim to make judgements about people and about what is happening around them. (Boltanski et al. 2014b, 601)

Solche Diskursräume weiten sich nach und nach aus, wenn die Rolle der Kritik gestärkt wird (Boltanski 2010, 205). Damit werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass gesellschaftliche Institutionen, die sich als unausweichlich und quasi naturgegeben darstellen, in Frage gestellt werden können, womit die Bedingungen der Möglichkeit einer „Emanzipation im pragmatischen Sinn“ (vgl. Boltanski 2010, 215 ff.) geschaffen und die Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit denkbar (und damit zumindest grundsätzlich möglich) werden.

5. Schluss

Die im vorliegenden Beitrag eingenommene Perspektive auf Herrschaft, Macht und Ungleichheit in der schulischen Bildung nimmt ihren Ausgangspunkt bei den kritischen Kompetenzen von Akteur*innen. Der analytische Vorteil dieser Perspektive liegt darin, dass soziale Ordnung, sozialer Wandel, Herrschaft und Kritik in ihrem vielfältigen Verhältnis gedacht werden können. Indem plurale moralische und epistemische Ordnungen als Grundlage von Handlungskoordination begriffen werden, werden soziale Verhältnisse sozialwissenschaftlich auf neue Art beschreibbar und einer sozialkritischen Analyse von unten zugänglich gemacht.

Das Anliegen einer kritischen Sozialforschung, nicht bei der deskriptiven Beschreibung sozialer Verhältnisse stehen zu bleiben, sondern diese einer engagierten Reflexion zugänglich zu machen, wird eingelöst, indem anerkannt wird, dass Akteur*innen selbst immer schon kompetente Sozialkritiker*innen sind. Das Ergebnis ist eine Demokratisierung der Kritik an gegebenen Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnissen – wie auch der Wissensproduktion, auf der sie aufbaut. Aus dieser Perspektive ist es nun nicht mehr die oder der kritische Sozialforscher*in, die oder der aus einer privilegierten Perspektive heraus Machtverhältnisse kritisiert und die deprivierten Massen über ihre Beherrschtheit aufklärt. Vielmehr werden ausgehend von einer pragmatischen Beschreibung alltäglicher Handlungspositionen soziale Akteur*innen darin bestärkt, „sich in die Realität einzumischen und deren Konturen zu verändern“ (Boltanski 2010, 215).

Für die Analyse von Situationen in Bildungskontexten ermöglicht ein Blick durch die Brille der pragmatischen Soziologie der Kritik, Spannungen zwischen situativen Bezügen herauszuarbeiten, die weitreichende Folgen für die Auseinandersetzung mit Fragen der sozialen Klassifikation und Selektion in und durch Bildungsinstitutionen haben.

Der vielschichtige Wandel, der sich rund um die Schlagworte der Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz für die schulische Bildung abzeichnet, bildet vor diesem Hintergrund einen produktiven, aber vor allem hochrelevanten Analyse- und Dialoggegenstand. Die unausweichliche Konfrontation von technologischen, ökonomischen, politischen und pädagogischen Logiken und Praktiken fordert etablierte Sichtweisen auf Qualität und Gerechtigkeit in der schulischen Bildung zwangsläufig heraus. Gleichzeitig ergeben sich in diesem spannungsreichen Gefüge Konfigurationen, die durch Ausblendungen und Überblendungen von Benachteiligungen gekennzeichnet sind und kompromisshafte Ordnungen institutionalisieren, die alles andere als sozial neutral sind. Eine kritische Sozialforschung muss Wege finden, sich aus einer komplexen Innenposition heraus in den vielfältigen Prozessen der Klärung und Aushandlung zu engagieren, die mit diesem Wandel verbunden sind.

Danksagung

Die Autorin und die Autoren dieses Beitrags bedanken sich bei den anonymen Gutachter*innen für ihre Anmerkungen und die konstruktive Kritik. Diese haben wesentlich zur argumentativen und sprachlichen Verbesserung des Textes beigetragen. Ebenso bedanken wir uns bei Lalitha Chamakalayil, Oxana Ivanova-Chessex und Luca Preite für ihre wertvollen Rückmeldungen und die redaktionelle Betreuung des Beitrags.

Die diesem Beitrag zugrunde liegende Forschung wurde durch eine Förderung des Schweizerischen Nationalfonds finanziert (Projektnummer 204737).

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Tabelle 1: Konventionen der Qualität von Bildung

Konvention/Schulwelt Qualität von Bildung (Gemeinwohl) Äquivalenzprinzip (Prüfung, Evaluation)
1 Staatsbürgerliche Konvention/Schulwelt des Gemeinwesens Solidarität, Gleichheit, soziales Engagement Chancengleichheit, demokratische Prinzipien, Integration
2 Industrielle Konvention/industrielle Schulwelt Leistung, Fachlichkeit Effizienz, Produktivität, Expertise
3 Marktliche Konvention/marktliche Schulwelt Wettbewerbsfähigkeit Preis, Angebot – Nachfrage, return of investment, Kosten – Nutzen
4 Häusliche Konvention/häusliche Schulwelt Tradition, Gemeinschaft, Hierarchie (Meister*in–Auszubildende) Anerkennung, Autorität und Tradition, Werte
5 Inspirierte/kreative Schulwelt Liebe, Leidenschaft, Ausbruch aus dem Gewohnten, Innovation Vorrang (Betonung) des Einzigartigen

 Quelle: Steinberg (2021, 437) und Leemann (2019, 269 f.), eigene Ergänzungen.