DIFFERENZKONSTRUKTIONEN IN EINER SCHWEIZER PRIMARKLASSE

Stephanie Mekacher

1. Einleitung

Im Lichte der jüngsten empirischen Erkenntnisse aus internationalen Vergleichsstudien wie PISA, die die Beständigkeit des Zusammenhangs von sozialer Herkunft, Bildungserfolg und Schulleistung aufzeigen (OECD 2023), wird der Handlungsbedarf von Schulen hinsichtlich der Bearbeitung von (Bildungs-)Ungleichheiten offensichtlich. Dieser Diskurs um Bildung, Differenz und Ungleichheit wurde in jüngster Zeit angesichts von Migrationsbewegungen und der integrativen Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit einem besonderen Bildungsbedarf noch verstärkt und stellt innerhalb der Erziehungswissenschaften ein zentrales Forschungsdesiderat dar. Bildung und Bildungseinrichtungen erscheinen in diesem Zusammenhang nicht mehr neutral, sondern werden als ein von Dominanz- und Differenzverhältnissen durchzogenes Feld wahrgenommen, welche spezifische Privilegien und Benachteiligungen erzeugen. Um die Beständigkeit ungleicher Bildungschancen und -erfolge zu verstehen und Wege zu ihrer Überwindung zu finden, müssen nicht nur bildungspolitische Vorgaben und gesellschaftliche Diskurse analysiert, sondern auch die Logiken und Praktiken der Unterscheidung im schulischen Alltag untersucht werden (Diehm et al. 2017). Während im bundesdeutschen Kontext etliche Forschungsergebnisse zur Herstellung von Differenz(en) vorliegen, so etwa aus der Langzeitethnographie von Machold und Wienand (2021), gestaltet sich die empirische Datenlage in der Schweiz in Bezug auf die ersten Jahre der Primarstufe schwieriger.

Hieran anschließend ging ein Forschungsvorhaben der Frage nach[1],  auf welche Weise im schulischen Alltag der Primarstufe welche Differenzen in ihrer Verschränkung hervorgebracht werden und inwiefern diese (Re-)Produktionen, Verlagerungen und Umdeutungen von Dominanz- und Differenzverhältnissen mit situierten Ordnungen und Stigmatisierung in Verbindung stehen. Unter Verwendung von Daten dieser mittlerweile abgeschlossenen Untersuchung werden im folgenden Beitrag zentrale Ergebnisse dargestellt. Aus einer ethnomethodologischen Perspektive soll beschrieben werden, wie die schulischen Akteur*innen, d. h. die Schüler*innen und Lehrpersonen, einer Primarklasse des sogenannten Zyklus 1 in der Schweiz, die von Kindern etwa im Alter zwischen sechs und acht Jahren besucht wird, Abgrenzungs- und Zuschreibungsprozesse vornehmen und wie sich diese interdependenten Differenzkonstruktionen auf die Positionierung der Individuen im sozialen Gefüge der Schulklasse auswirken. Im Fokus dieses Beitrags steht der Schüler Max[2], der während des Feldaufenthaltes immer wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit der Forscherin rückte.

Dazu wird einführend im 2. Kapitel der erziehungswissenschaftliche Differenzdiskurs skizziert, wobei dem Ansatz des doing difference besondere Beachtung geschenkt wird. Im Zuge der Veranschaulichung der Stärken, aber auch der Problematiken der doing-Ansätze wird auf die Intersektionalitätsperspektive eingegangen und die dekonstruktivistische Sicht auf Differenz angerissen. Das 3. Kapitel wird mit der methodologischen Verortung und der konkreten methodischen Vorgehensweise der Studie eröffnet, worauf eine Beschreibung des Schülers Max und seiner Schulklasse folgt. Zur exemplarischen Illustration der zentralen Forschungserkenntnisse werden in diesem Kapitel Szenen aus dem schulischen Alltag präsentiert, in deren Vordergrund der Schüler Max sowie die verbalen und körperlichen Umgangsweisen seiner Lehrpersonen und Mitschüler*innen mit ihm stehen. Ausgehend von den unterschiedlichen Rollen und Adressierungsweisen wird die Verschränkung der heterogenen Differenzlinien dargelegt. Abgeschlossen wird mit einem Fazit, in dem zentrale Befunde sowie Schlussfolgerungen beleuchtet werden.

2. Der erziehungswissenschaftliche Differenz- und (Un-)Gleichheitsdiskurs

Die erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Differenz und Ungleichheit, insbesondere in ihrem Zusammenhang, ist von anhaltendem, wenn auch konjunkturellem Interesse geprägt (Diehm et al. 2017, 1). Was aber unterscheidet die Begriffe Differenz und soziale Ungleichheit? In den Bildungs- und Sozialwissenschaften wird diese Frage aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Daraus resultiert ein breites Bedeutungsspektrum der beiden Begrifflichkeiten, deren Verhältnis Riegel (2016, 17) folgendermaßen definiert: „Differenz stellt eine gesellschaftskonstituierende Größe dar, die auf Pluralität und Vielfalt, aber auch auf Macht, Herrschaft und Ungleichheit verweist.“ Ausgehend von einem sozialkonstruktivistischen Verständnis sind Differenzen keine natürlichen bzw. essentialistisch fixierten Gegebenheiten, sondern werden im Rahmen von Interaktionen in situativen Kontexten performativ hergestellt, was ihre Prozesshaftigkeit, Veränderbarkeit und Kontextabhängigkeit verdeutlicht (Riegel 2016, 17). Der soziologischen Perspektive nach Kreckel (2004) zufolge manifestiert sich soziale Ungleichheit erst dann, wenn Differenzen zwischen Individuen eine hierarchische Bedeutung erhalten. Erst mittels einer Bewertung können objektive Unterschiede zu normativen Abweichungen werden. Eine Definition dessen, was in Bezug auf menschliches Verhalten angebracht ist und was nicht, ist für diesen Prozess der Umdeutung von Varianz in Devianz notwendig. Kreckel (2004) plädiert dementsprechend für ein Verständnis von sozialer Ungleichheit im weiteren Sinne, die immer dann vorliegt, wenn bestimmte soziale Differenzierungen dazu führen, dass bestimmte Personen oder Gruppen anhaltende Vorteile gegenüber anderen genießen.

Angestoßen durch die Debatten der Postmoderne und im Zusammenhang mit sozialen Bewegungen, die die Benachteiligung sozialer Gruppen anprangerten, wie z. B. die Frauenbewegung, erfährt der Umgang mit Differenz und (Un-)Gleichheit in der Erziehungswissenschaft seit den 1990er-Jahren eine verstärkte Aufmerksamkeit (Diehm et al. 2017, 5). In den letzten Jahren ist der erziehungswissenschaftliche Diskurs zur (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit und dem darin inhärenten und bisher ungeklärten Verhältnis von Gleichheit und Differenz vor allem durch die Ergebnisse internationaler Vergleichsstudien wie PISA neu entfacht worden (Budde 2013). Um der Frage nach der Genese von (Bildungs-)Ungleichheiten nachzugehen, bietet laut Machold und Wienand (2021) die Analyse von Prozessen des Unterscheidens und Klassifizierens – die Untersuchung der Herstellung von Differenz im schulischen Alltag – einen vielversprechenden Ansatzpunkt. So haben sich im deutschsprachigen Raum verschiedene Studien der (Re-)Konstruktion von Differenz und Differenzordnungen im (vor-)schulischen Alltag gewidmet (vgl. u. a. Dean 2020). In diesem Zusammenhang ist insbesondere das Konzept des doing difference von zentraler Bedeutung.

2.1 Doing difference

Das Konzept des doing difference lässt sich in einer ethnomethodologischen Forschungstradition verorten, die sich auf die Praktiken der Konstruktion sozialer Wirklichkeit sowie auf die darin reflektierten Normalitätserwartungen in menschlichen Handlungen innerhalb spezifischer Situationen konzentriert. Fenstermaker und West (1995) beabsichtigten, in der Erweiterung des doing-gender-Ansatzes von West und Zimmerman (1987) mit der Untersuchung alltäglicher kultureller Praxis die Herstellungsmodalitäten der Kategorien race, class und gender und deren Zusammenspiel in den Fokus zu stellen und dabei Mechanismen offenzulegen, die in westlichen Gesellschaften zur Aufrechterhaltung von Machtverhältnissen und Ungleichheiten beitragen. Obschon die Differenzkategorien race, class und gender jeweils einzigartige Merkmale und Auswirkungen aufweisen, werden sie durch identische Interaktionsmechanismen hervorgebracht. Die Autorinnen übertragen ihre These der Omnirelevanz von Differenzkategorisierung, die West schon im Zuge des doing-gender-Konzepts postulierte, auf die Kategorien race und class (Kubisch 2008, 30). Diese Sichtweise, die die Gleichzeitigkeit des Erlebens der Differenzdimensionen betont, lenkt den Fokus weg von den einzelnen Kategorien und hin zum situativen und interaktionistischen Herstellungsprozess von verschiedenen Differenzen an sich (Fenstermaker/West 1995). Die Hervorbringungsweisen von race, class und gender sind demnach als dynamische und simultane Prozesse zu verstehen, wobei die Bedeutsamkeit der jeweiligen Differenzkategorien nach Interaktionskontext variieren kann, d. h. race, class und gender beeinflussen sich gegenseitig und schaffen den Bezugsrahmen der jeweils anderen Differenzkategorien. Da Menschen ihr Verhalten stets nach normativen Erwartungen ausrichten, also laut Fenstermaker und West (1995) accountable sein müssen, sind nebst gender auch race und class Ergebnisse einer situierten Hervorbringung, in der soziale Akteur*innen ihre Handlungen mit den gesellschaftlichen Normen hinsichtlich der jeweiligen Kategorie in Einklang bringen und diese damit gleichermaßen aufrechterhalten und naturalisieren. Doing difference ist damit ein kontinuierlicher Prozess des Erzeugens von Differenz, der zwischen handelnden Personen und Beobachtenden in einem spezifischen soziokulturellen und historischen Kontext stattfindet und als ungleichheits- und dominanzkonstituierend betrachtet wird (Riegel 2016). Kritik besteht gegenüber dem konstruktivistischen Ansatz des doing difference v. a. vonseiten strukturtheoretischer Wissenschaftsperspektiven. Sie bemängeln insbesondere, dass die ethnomethodologische und interaktionistische Betrachtungsweise die fortwährende interaktive Hervorbringung von race, class und gender als alleinige Erklärung für die Beständigkeit und Stabilität sozialer Ungleichheit heranzieht. Gesellschaftliche Differenzierungs- und Hierarchisierungsprozesse und bestehende Machtverhältnisse werden dadurch ausgeblendet, dass die Forschenden nicht von einem dialektischen Zusammenhang zwischen vorgelagerten sozialen Strukturen und Interaktionen ausgehen, sondern sich auf die mikrosoziologische Ebene der Interaktion konzentrieren (Collins et al. 1995). Konsens besteht in solchen sozialwissenschaftlichen Debatten jedoch dahingehend, „dass die Konstruktion von sozialen Kategorien nicht mehr angezweifelt wird und Prozesse der Differenzierung und Hierarchisierung für gesellschaftsstrukturelle Entwicklungen sozialer Ungleichheit als relevant erachtet werden“ (Riegel 2016, 25). In den letzten Jahren haben sich – u. a. vor dem Hintergrund der oben formulierten Kritik – Ansätze entwickelt, die den Blick auf eine Vielzahl sozialer Differenz- und Ungleichheitsverhältnisse richten und dabei explizit deren Verschränkung in den Vordergrund der Analyse rücken. Der Begriff der Intersektionalität scheint sich zur Charakterisierung des Zusammenwirkens verschiedener Ungleichheit schaffender Aspekte dabei vorläufig durchgesetzt zu haben.

2.2 Intersektionaltätsansatz

Die Intersektionalitätsdebatte entstand aus der Arbeit von Crenshaw, die in den 1980er-Jahren anhand mehrerer Gerichtsentscheide Mechanismen aufdeckte, welche die gleichzeitige Benachteiligung von Schwarzen Frauen hinsichtlich race, class und gender kaschierten. Sie plädierte für die Berücksichtigung der Überschneidungen und Simultanität verschiedener Differenzlinien, in denen unterschiedliche Formen der Diskriminierung miteinander interagieren und infolgedessen neue Formen von Benachteiligungen entstehen können. Eine solche Analyse von Unterdrückungs- und Diskriminierungsprozessen im Kontext von Mehrfachzugehörigkeiten steht im Kontrast zu Konzeptionen, die das Wirken von Differenzlinien isoliert betrachten oder die Vielfalt von Differenzkategorien als Addition bzw. Summe von Verschiedenheiten interpretieren. Die Perspektive der Intersektionalität befasst sich folglich nicht nur mit diversen Differenzdimensionen, sondern auch mit deren jeweiligen situations- und kontextabhängigen Verflechtungen und wie diese die Position eines Individuums im sozialen Raum beeinflussen. So verstehen Winker und Degele (2009, 15) Intersektionalität als „kontextspezifische, gegenstandsbezogene und an sozialen Prozessen ansetzende Wechselwirkungen ungleichheitsgenerierender sozialer Strukturen (d. h. von Herrschaftsverhältnissen), symbolischer Repräsentationen und Identitätskonstruktionen“. In dieser multidimensionalen Perspektive werden wie bei Fenstermaker und West (1995) Individuen nicht nur als passive Opfer betrachtet, sondern aufgrund von Verschränkungen ebenfalls als Mitgestalter*innen der sozialen Wirklichkeit angesehen. Der Intersektionalitätsansatz hat mittlerweile Eingang in die Pädagogik und Erziehungswissenschaft gefunden. Er wird vor allem dann aufgegriffen, wenn es um die Untersuchung sozialer Ungleichheiten und damit verbundener Differenz- und Zugehörigkeitsordnungen und deren Bedeutung für Sozialisations-, Bildungs- und Erziehungsverhältnisse und -prozesse geht (vgl. u. a. Kubisch 2008; Weber 2008). Neben divergierenden theoretischen Zugangsweisen des Intersektionalitätsansatzes herrscht zusätzlich Uneinigkeit darüber, welche und wie viele Kategorien und ungleichheitsstrukturierende Differenzlinien bei Analysen in den Blick genommen werden sollen und auf welchen Ebenen die intersektionalen Wechselwirkungen zu verorten sind. Darüber hinaus befürchten dominanz- und machttheoretische Kritiker*innen, dass durch die Fokussierung auf kategoriale Bezüge die strukturell, historisch und gesellschaftlich verankerten Herrschafts- und Unterwerfungsverhältnisse im Intersektionalitätsansatz ausgeblendet werden (Riegel 2016). Mit den Möglichkeiten der De-Konstruktion von Differenz(en) hat sich im deutschsprachigen Raum u. a. Hirschauer (2014) befasst.

2.3. Die de-konstruktivistische Sicht auf Differenz

Hirschauer (2014, 173) hat sich intensiv mit der zeitlichen Dimension sozialer Zugehörigkeiten und den damit verbundenen Handlungsmöglichkeiten und -räumen auseinandergesetzt und versucht „einen analytischen Rahmen zu entwickeln, der für die Multidimensionalität und Kontingenz der Kategorisierungen […] offen ist“. Hirschauer (2014, 180) argumentiert, dass im Ansatz des doing difference die unterschiedlichen „Formen der Zugehörigkeit“ und die zeitliche Dimension von Kategorisierungen vernachlässigt werden. Er bezieht sich dabei auf den Intersektionalitätsansatz und führt aus, dass Differenzierungen sich nicht nur mit anderen Unterschieden überlagern, sondern sich ebenso in sozialen Prozessen verstärken oder abschwächen können. Erst in der zeitlichen Entwicklung und aufgrund dessen, dass Unterscheidungen in späteren sozialen Kontexten entweder beibehalten werden oder durch Neutralisierungsprozesse in den Hintergrund treten, wird ihre soziale Relevanz etabliert. Je nach kontextuellem, biografischem und zeitlichem Bezugsrahmen können soziale Kategorisierungen aufgehoben und Zugehörigkeiten eingestellt werden. Der Autor bezeichnet diese Diskontinuität der Differenzherstellung als undoing difference. Rabenstein und Steinwand (2018) argumentieren hingegen, dass sich ein solches undoing bzw. Ruhen von Unterscheidungen empirisch kaum beobachten lässt, sondern nur auf die Kontingenz von Unterscheidungen und deren Konjunkturen aufmerksam macht. Denn laut Emmerich und Hormel (2017) setzt ein undoing voraus, dass entweder zuvor ein doing beobachtet wurde oder dieses von den Forschenden als eigene Erwartung der Normalität angenommen wird.

Die in diesem Kapitel dargestellten theoretischen Grundlagen legen nahe, dass die Schule an der (Re-)Produktion von Ungleichheitsverhältnissen beteiligt ist. Im Mittelpunkt schulpädagogischer Differenzforschung stehen die Erfassung interaktiver Konstruktionen von Unterscheidungen und die damit verbundene (Re-)Produktion sozialer Ordnungen bzw. Ungleichheiten. Derweil sich diverse Studien mit der interaktiven Konstruktion und Bearbeitung von Differenzen auf der Kindergarten- oder Sekundarstufe befassen (vgl. u. a. Biffi et al. 2006; Kampshoff 2013), liegen zu den Fragen, auf welche Weise im schulischen Alltag der ersten Primarklasse Differenzen in ihrer Verwobenheit hervorgebracht werden und inwiefern diese spezifische Privilegien und Benachteiligungen hervorrufen, im Vergleich zum bundesdeutschen Kontext (vgl. exemplarisch Machold/Wienand 2021) im Bildungsraum Schweiz bislang kaum Forschungen vor. Ausnahmen stellen u. a. die ethnographisch angelegten Studien von Jäger (2011), Unterweger (2014) und Kassis (2019) dar. Die in diesem Beitrag rezipierte Studie schließt an diese Forschungslücke an.

3. Methodisches Vorgehen

Zur Untersuchung der situativen Herstellungs- und Bearbeitungsprozesse von Differenzen und der damit verbundenen (Re-)Produktion von sozialen Ordnungen bzw. Ungleichheiten in der Unterrichtspraxis bietet der ethnographische Zugang eine angemessene Forschungsmethode, da er vom Grundgedanken des Entdeckens getragen wird und sich in der Konzeption der Studie sowie der Datenanalyse auf die Grundannahmen der Grounded-Theory-Methodologie (Strauss/Corbin 1996) stützt. Auf der Grundlage der in diesem Beitrag skizzierten Forschung soll im Folgenden der situativen Differenzherstellung, die den Schüler Max in den Blickpunkt rückt, nachgegangen und die Verschränkung der hervorgebrachten heterogenen Differenzlinien beleuchtet werden. In diesem Zuge werden folgende Fragestellungen bearbeitet:

  • Auf welche Weise und in welchen Situationen wird Max von verschiedenen schulischen Akteur*innen so adressiert, dass Differenz(en) hervorgebracht wird bzw. werden?
  • Welche Unterscheidungskategorien lassen sich dabei identifizieren?
  • Und welche Auswirkungen hat dies für Max und seine Peers?

Basierend auf Protokollen von vier Feldaufenthalten im schulischen Alltag einer ersten Primarklasse, die aus teilnehmenden Beobachtungen und Audioaufzeichnungen hervorgegangen sind, werden Praktiken der Differenzierung gegenüber dem Schüler Max im Primarschulalltag offengelegt und theoretisch diskutiert. Es soll dargestellt werden, wie im situativen Handeln und Sprechen der Lehrkräfte und Schüler*innen Differenzen thematisiert, hervorgehoben oder neutralisiert werden und ungleiche, hierarchisierte Positionierungen (re-)produziert werden. Dabei sind diese interaktionistischen Prozesse stets in makrosoziologische Strukturen eingebettet. Als gesellschaftliche Organisation setzt die Schule den Rahmen für das Handeln der schulischen Akteur*innen: Die Rollenstruktur, Aufgabenverteilung und die Organisation von Lehren und Lernen sind durch gesamtgesellschaftliche Normen und Erwartungen festgelegt. Um die Deutung der beobachteten Szenen und der doing-difference-Prozesse der schulischen Akteur*innen zu kontextualisieren, werden zunächst einige Angaben zur ethnographierten Schulklasse und zum familiären Hintergrund von Max gemacht. Der siebenjährige Max lebt gemeinsam mit seiner Familie in einer Vorortsgemeinde. Max spricht zu Hause Portugiesisch und Schweizerdeutsch; seine Mutter stammt aus Brasilien. Er besucht die 1. Primarklasse in einem Schulhaus, welches neben seiner Klasse einen Kindergarten, eine 2. Primarklasse sowie das schulergänzende Betreuungsangebot der Tagesschule beherbergt. Seine beiden Lehrerinnen, Frau Zaugg und Frau Amstutz, werden von Frau Langenegger im Bereich der integrativen Förderung unterstützt. Gemäß den Lehrpersonen fiel Max bereits im Kindergarten mit seinem Sozialverhalten auf und wird im Lehrer*innenzimmer oft als auffälliger Schüler bezeichnet

4. Zur (Re-)Produktion von Differenz: Max im Schulalltag der 1. Primarschulklasse

Anknüpfend an die Frage, wie verschiedene schulische Akteur*innen gegenüber Max Differenzen konstruieren, werden nachfolgend aus dem Fundus des empirischen Materials des Forschungsprojekts einige Beispiele aus dem Schulalltag aufgeführt, bei denen der Schüler Max die Aufmerksamkeit seiner Lehrpersonen oder Mitschüler*innen auf sich zog. Um die situativen Differenzkonstruktionen gegenüber des Jungen von Seiten der Lehrpersonen sowie der Schüler*innen zu präsentieren, werden die beobachteten Szenen in diesem Kapitel getrennt rekonstruiert. Das Handeln und Sprechen der Lehrkräfte und das der Lernenden ist dabei aber stets in einem wechselseitigen, reflexiven Zusammenhang zu verstehen. Eine analytische Trennung der beiden Dimensionen soll jedoch dazu beitragen, die Impulse der Lehrerinnen klarer zu identifizieren und von den darauffolgenden peerkulturellen Reaktionen klarer abzugrenzen und hervorzuheben.

4.1 Max als Schüler

Während der teilnehmenden Beobachtungen in der ersten Primarklasse fiel Max der Ethnographin schon zu Beginn auf. Er stand mehrmals durch verbale oder performative Auftritte im Mittelpunkt des Schulgeschehens. Sein Verhalten und seine schulischen Leistungen wurden von den Lehrpersonen anhand der Norm der schulkonformen Schülerin bzw. des schulkonformen Schülers bemessen (doing pupil), welche sich an Erwartungen hinsichtlich der Leistungsfähigkeit sowie an Ansprüchen an das Lern-, Arbeits- und Sozialverhalten orientiert. Von den Kindern wird erwartet, dass sie die festgelegten Regeln des schulischen Zusammenlebens verinnerlicht haben und einhalten. Diese Regeln konzentrieren sich hauptsächlich auf eine kontrollierte Körperpraxis. Lehrpersonen benennen Kontrolle und Disziplinierung des Körpers als wichtigste Voraussetzung zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Disziplin bzw. zur adäquaten Teilhabe am Unterricht. Der nachfolgende Ausschnitt aus dem ersten Feldaufenthalt illustriert, dass es als Schüler*in der ersten Primarklasse unabdingbar ist, sich an den vorgesehenen, routinisierten Ablauf schulischer Praktiken, der durch die Lehrperson festgelegt wird, zu halten.

Max hält seinen Malkasten hoch und erkundigt sich bei der Lehrkraft: „Chani mine ga wäsche?“[3] Die Lehrperson antwortet: „No nid, i due dr rüefe.“[4] Max: „Aber i cha warte.“[5] Frau Zaugg erwidert: „Nein, wir stehen keine Schlange.“ Max ist drauf und dran ebenfalls in den Gang zum Waschbecken zu gehen. Die Lehrerin teilt ihm mit: „Wenn du so weiterfahren willst.[6] Nächste Woche gibt es keinen Malkasten.“ Max stellt seinen Malkasten in der Folge wieder auf sein Pult. (Beobachtungsprotokoll 1A 09. Februar 2022, Pos. 1292–1297)

Max versucht, sich dem vorgesehenen Ablauf des Aufräumens, „der schulischen Choreographie“ (Machold/Wienand 2021, 63), zu entziehen. Die Lehrerin reagiert auf Max’ Verhalten mit einer verbalen Rüge, gefolgt von einer Androhung einer Konsequenz für weiteres Fehlverhalten. Über die Verhaltensbeurteilung ruft die Lehrkraft an die geltenden Erwartungen ans Schüler*innensein auf und verlangt gleichzeitig eine entsprechende Anpassungsbereitschaft von Max. Negative Zuwendung der Lehrpersonen gegenüber Max in Form von Ermahnungen, die auf eine Formung von Max zum angepassten Schüler und der ordentlichen Realisierung des Unterrichts abzielen, ließ sich auch in weiteren Situationen beobachten.

Max und Markus sind auf dem Flur und kämpfen miteinander. Frau Langenegger schreitet ein und ruft: „Giele, stopp! Max, sicher nid kämpfe mit em Markus!“[7](Warum massregelt sie nur Max und Markus nicht?). (Beobachtungsprotokoll 1D 30. März 2022, Pos. 587–589)

Das Eingreifen von Frau Langenegger in der obenstehenden Unterrichtsszene zeigt sich als Akt des doing difference, bei dem die Unterscheidungskategorien pupil und gender gleichzeitig in den Vordergrund treten. Die Lehrerin bezieht sich mit ihrem Tadel zunächst auf die Ebene des korrekten Schüler*innenverhaltens, bringt jedoch gleichzeitig die Geschlechtszugehörigkeit der kämpfenden Kinder mit ein. Hiermit verknüpft sie die sozialen Regeln, die den Schulalltag strukturieren, eng mit Geschlechterverhältnissen und konstruiert in ihrer Handlung zugleich Wissen über geschlechtlich codierte Verhaltensweisen. Miteinander raufen resp. die mangelnde Körperkontrolle der Jungen wird implizit als geschlechterspezifische Eigenschaft von Jungen eingestuft. Darüber hinaus wird die Verantwortung für dieses Fehlverhalten nicht beiden Schülern, sondern alleinig Max zugeschoben, wodurch ihm das Etikett des unangepassten Schülers verliehen wird. Indem das Verhalten von Max in der Klassenöffentlichkeit permanent negativ kommentiert wird, hat er kaum die Möglichkeit, seiner Stigmatisierung als Außenseiter entgegenzuwirken. Diese Charakterisierung von Max erfolgt von den Lehrer*innen nicht nur über seine unzureichenden Verhaltensweisen, sondern ebenso durch Bewertungen seiner Leistung.

Die Lehrerin nimmt in der Folge einen Stuhl und setzt sie sich neben Max. In den nächsten Minuten unterstützt sie ihn bei der Bearbeitung des Buchstabenhefts. Sie fordert ihn auf: „So, Max, komm. Jetzt nimmst du …“ Max erwidert: „Das hani scho gmacht.“[8] Frau Zaugg meint: „Nein, da ist die [sic!] Schwarz, schau. So, jetzt nimmst du das Bleistift …“ (Beobachtungsprotokoll 1A 09. Februar 2022, Pos. 326–330)

Die Hilfeleistung der Lehrkraft geht mit einer verbalen und non-verbalen Markierung des Unterstützungsbedarfs von Max einher und macht unverkennbar, dass seine bisherige Schreibarbeit nicht den schulischen Leistungsstandards entspricht. In diesem Prozess der Kennzeichnung von Leistungsdisparitäten wird eine pädagogische Ordnung hinsichtlich der Leistungsfähigkeit sowie der Leistungsbereitschaft hervorgebracht. Leistung wird in der ersten Primarklasse, wie dies ebenfalls Machold und Wienand (2021) in ihrer Langzeitethnographie definieren, demzufolge nicht nur als das Ergebnis eines Lernprozesses betrachtet, sondern umfasst ebenso die Bemühungen und (Fort-)Schritte, die zu diesem Ergebnis geführt haben. Im Verlauf der teilnehmenden Beobachtung in den weiteren Schulwochen wurde ersichtlich, dass es Max oft schwer fiel, die schulischen Leistungsanforderungen zu erfüllen. Dass der Junge sich seiner Position in der schulischen Leistungsordnung sehr wahrscheinlich bewusst ist, machen Aussagen wie „Frou Zougg. Dʼ Emma-Lou und dr Markus chöi das ohni häbe und i cha das nid.“[9] (Beobachtungsprotokoll 1C 09. März 2022, Pos. 1658–1659) erkenntlich.

Nach Goffman (1967) versuchen Personen, deren Identität von den normativen Identitätserwartungen – hier des leistungsbereiten und -fähigen Schüler*innenseins – negativ abweicht, ihre Unzulänglichkeiten resp. ihr Stigma durch angepasste Verhaltensweisen zu verbergen oder zu reduzieren. Im Fall von Max könnte man schließen, dass er mit aller Kraft versucht, öffentlichen Herabsetzungen seines Leistungsvermögens zu entgehen, was sein Verhalten in der nachfolgenden Unterrichtssituation unterstreicht.

Max [steht] kurze Zeit später wieder von seinem Platz auf und schaut bei Luan, wie er sein Bild bisher gemalt hat. Luan holt gerade einen Malkasten und ein Glas Wasser. Albion, der Pultnachbar von Luan, dreht nun die Zeichnung von Luan um und ruft: „Maax!“ Frau Zaugg, die gerade die Zeichnung von Valentina betrachtet geht zu Max und teilt ihm mit: „Ich möchte, dass du etwas von dir zeichnest. Keine Kopie! Jetzt darfst du vorne an den [sic!] Pult kommen.“ (Beobachtungsprotokoll 1A 09. Februar 2022, Pos. 1135–1139)

Max versucht, eine optimierte Kompetenz und Leistungsbereitschaft zu demonstrieren, indem er während des beobachteten Unterrichts regelmäßig aufsteht und sich die Arbeiten seiner Mitschüler*innen als Inspiration anschaut. Sein Vorhaben stößt bei seinem Klassenkameraden Albion auf Ablehnung, er hält es für eine nicht rechtmäßige Aufgabenbearbeitung. Diese Reaktion von Albion veranschaulicht, dass er die institutionelle Erwartung, sich an die vorhergesehenen Abläufe zu halten, bereits internalisiert hat. Er ist bestrebt, sich als kompetentes Mitglied der Schulklasse zu präsentieren, das sich aus eigenen Anstrengungen um eine angemessene Eingliederung in die meritokratische Wertegemeinschaft der Klasse bemüht. Auch der Lehrerin sind Max’ Absichten nicht verborgen geblieben und sie versucht, sein Verhalten zu unterbinden, indem sie einerseits das Kopieren von Luans Arbeit als ungenügende Leistung deklariert und Max anderseits auf einen anderen Arbeitsplatz, näher am Pult der Lehrerin, verweist. Mit dieser Intervention schreibt die Lehrerin Max ein unangemessenes Schülersein zu und beruft sich in ihrem Handeln erneut auf die leistungsbezogene Differenzordnung. Wie Hirschauer (2014) akzentuiert, führt die Leistungsdifferenzierung zur Entstehung hierarchisierter Positionen und damit verbundenen Rangordnungen (besser vs. schlechter). Infolge seiner unzulänglichen Leistung und seinem nichtschulkonformen Verhalten, die in einem sich gegenseitig bedingenden Verhältnis stehen, wird Max von den Lehrer*innen über doing pupil als unangepasster Schüler typisiert und klassifiziert. Maxʼ Mitschüler*innen, wie Albion in der obigen Sequenz, übernehmen die normativen Setzungen bezüglich des erfolgreichen, schulkonformen Verhaltens und Leistens und nutzen diese zur Bewertung der Peers. Mit der in diesem Kapitel vorgenommenen (Re-)Konstruktion der schulischen Leistungsordnung der Primarklasse von Max wird sichtbar, dass sich die Kinder den schulischen Konventionen zu fügen haben, um sich als leistungsbereite und -fähige Lernende zu positionieren. Auf der Grundlage der meritokratischen Logik, so resümieren Machold und Wienand (2021, 72), sind die Schüler*innen mit ihrer Leistung ständig dem Urteil der Lehrpersonen und der Mitschüler*innen ausgesetzt, welche die „vergleichende Bewertung der Tätigkeit eines Schulkindes in Konkurrenz zu anderen Schulkindern” vornehmen und als Legitimationsgrundlage für soziale Unterscheidungen heranziehen. Die Konsequenzen dieser Differenzierung auf die Position von Max innerhalb der sozialen Ordnung in der Schulklasse können in den sich überlagernden peer- und lernkulturellen Praktiken hinsichtlich des doing pupil nachgezeichnet werden.

4.2 Max als Klassenmitglied

Wie im vorhergehenden Kapitel erläutert, beinhaltet doing pupil auch, dass die Schüler*innen der ersten Primarklasse den bewertenden Blick der Lehrkräfte verinnerlichen und in ihren peer- und lernkulturellen Praktiken aufgreifen, (um-)deuten und zum Handeln der Lehrer*innen relationieren. Der auf diese Praktiken ausgerichtete Analysefokus wird im ersten Schritt anhand zweier Beobachtungssituationen aus dem ersten (1A) und letzten (1D) Feldaufenthalt in der 1. Klasse dargelegt, die die Kontinuität und Stabilität der Unterscheidungspraktiken im schulischen Alltag nachzeichnen.

Derweil die Lehrkraft weg ist, spielen Max und Emilija auf einem kleinen roten Xylophon […]. In dem Moment, in dem Frau Zaugg zurückkommt, rennt Max in den Kreis zurück und ruft: „Ahhh, schnäu wäg.“[10] Emilija teilt der Lehrperson mit, dass Max auf dem Xylophon gespielt habe. Max fügt an: „Si het aber ou.“[11] Emilija verneint dies (obwohl das nicht stimmt). Frau Zaugg packt Max am Arm und führt ihn zu seinem Posten zurück.[12] (Beobachtungsprotokoll 1A 09. Februar 2022, Pos. 1602–1608)

In der ersten Unterrichtsszene fällt auf, wie sehr Emilija darauf bedacht ist, der Lehrerin ihre Unschuld zu demonstrieren, obwohl sie sich während derer Abwesenheit ebenfalls der Einhaltung der geltenden Konventionen entzogen hat. Das Mädchen nutzt Max, dessen Verhalten im Unterricht bereits häufig als fehlerhaft etikettiert wurde, um sich der Lehrerin als angepasste Schülerin und anerkanntes Mitglied der Schulklasse zu präsentieren, was einwandfrei funktioniert. Die Lehrerin stellt die von Emilija vorgenommene Erklärung der Situation nicht in Frage und ermahnt Max mit einer rein physischen Intervention. Diese Reaktion der Lehrkraft resultiert in einer weiteren klassenöffentlichen Markierung von Max als Abweichler, wodurch ihm zugleich seine Rolle als gleichwertiges Mitglied der Peergroup abgesprochen wird.

Im Anschluss meldet sich Max zur Vorstellung seiner Bildergeschichte. Ich kann hören, wie Markus kommentiert: „Das wird luschtig. Mir lachene aui us. Das wird so luschtig.“[13] Jemand (leider kann ich nicht zuordnen, wer) meint: „Wart nume, bis du dran bisch.“[14] (Beobachtungsprotokoll 1D 30. März 2022, Pos.1349–1353).

Das zweite Unterrichtsszenario zeigt deutlich, wie in den Handlungen und Äußerungen der Schüler*innen das doing pupil und doing peer miteinander verschränkt werden. Das angekündigte Auslachen von Max ist implizit mit der Zuschreibung von Leistungsdefiziten verbunden. Markus unterstellt Max, die schulischen Leistungserwartungen nicht zu erfüllen, und nutzt dies als Anlass, ihn öffentlich zu beschämen. Die geplante Demütigung von Max wird von einem anderen Mitschüler mit der Androhung einer Retourkutsche konterkariert. Trotz dieser Parteinahme für Max, welche als undoing difference gelesen werden könnte, kann sie die negative Konnotation seines Schülerseins auf Dauer nicht abschwächen. Die über das doing pupil hervorgebrachte Hierarchisierung zwischen denen, die den Erwartungen an das Schüler*innensein entsprechen, und den anderen wird als Ordnungskriterium in die Peer-Aktivitäten übernommen. Die Kinder der 1. Klasse identifizieren sich mit der Rolle der oder des schulkonformen Lernenden und verkörpern diese in ihrem Handeln und Sprechen, was als embodiment of pupil bezeichnet werden kann (Jäger 2011, 38).

Kurze Zeit später entdecke ich Max, der sich auf einen der Stühle in der gebauten Wohnung gesetzt hat. Lisa protestiert: „Neei[n], Max!“ Max erklärt den Schülerinnen, dass er mitspielen wolle. Frau Zaugg, die gerade in der Nähe steht, fordert Max auf, die gebaute Wohnung zu verlassen. Sie diskutiert mit den Mädchen danach darüber, warum Max nicht mitspielen dürfe. Lisa erläutert: „Aber mir wei ohni ihn spiele. Er duet blöd und nimmt Sache weg.“[15] Frau Zaugg: „Das heter aber ids nid gmacht.“[16] Malea und Sofi: „Dooch. Gestr heter das die ganz Zyt gmacht.“[17] (Beobachtungsprotokoll 1C 09. März 2022, Pos. 747–754)

In der obenstehenden Szene lässt sich beobachten, wie Max von seinen Klassenkamerad*innen aufgrund der Missachtung geltender Verhaltenskonventionen am Vortag als inkompetenter Spielpartner essentialisiert und vom Spielgeschehen ausgeschlossen wird. Über das doing pupil while doing peer wird Max demnach sowohl als verhaltensauffälliger, leistungsschwacher Schüler als auch als störender Mitschüler konstruiert, was die Ausgrenzung des Jungen im Schulalltag weiter verschärft. Bemerkenswert ist zudem, dass Frau Zaugg sich in einem ersten Schritt auf die Seite der Mädchen stellt, indem sie Max zum Verlassen der Spielecke auffordert und sich im weiteren Verlauf des Geschehens ausschließlich die Ansichten der Schülerinnen zur Situationsklärung anhört. Obschon die Lehrerin bestrebt ist, Max seinen Mitschülerinnen als kompetenter Spielpartner vorzuführen und ihn in deren Spiel zu integrieren, wird der Junge nicht nach seinen eigenen Wünschen und Ansichten gefragt. Solche Prozesse des doing difference der Peers gegenüber Max wurden während der Feldbesuche mehrmals beobachtet. Im Folgenden wird eine weitere Pausensequenz aufgegriffen, in der sich schulisch-peerkulturelle Dynamiken mit schulisch-organisatorischen Kriterien verweben.

Max kommt ins Nebenzimmer und ruft laut: „Rrrrrrrrrrrrr.“ Er hält sodann eine Seite der Wippe fest und schaukelt sie hin und her. Lisa ruft: „Hör uf.“[18] Max fragt: „Darfi mau druf?“[19]
Malea und Lisa antworten im Chor: „Neeei[n].“
Lisa fügt an: „Das isch es Froueschiff.“[20]
Malea meint: „Ja, es dörfe sowiso nume vier druf.“[21] Max versucht weiterhin auf die Wippe zu stehen und bemerkt: „De mach i es Buebeschiff, imfau.“[22] Malea: „Hör uf.“[23] Sofi: „Ok, de mach eis.“[24] Lisa: „Aber de gang nüm zu üs.“[25] Max rennt aus dem Nebenzimmer und sagt: „I gaʼs go säge.“[26] (Beobachtungsprotokoll 1A 09. Februar 20222, Pos. 498–509)

In der Pausensituation erfährt Max gleich eine mehrfache Ausgrenzung. Zuerst wird ihm der Zutritt zum Spiel der Mitschülerinnen grundsätzlich verwehrt, was Lisa nachträglich mit seiner Geschlechtszugehörigkeit begründet. Diese von den Peers auf dem Geschlecht basierende geschaffene Distanz resp. Differenz lässt sich in geschlechtsspezifischen Grenzziehungen der Lehrpersonen im Unterricht wiedererkennen. Häufig werden negative Verhaltensweisen einzelner Jungen im Klassenzimmer als geschlechtsspezifisch verortet, womit allen männlichen Lernenden eine unangemessene Repräsentation der Norm des angepassten Schülers unterstellt wird. In einer weiteren Erklärung des Spielausschluss von Max führt Malea die zulässige Personenanzahl fürs Schiff an, wobei anzunehmen ist, dass sich diese Beschränkung auf eine von der Lehrpersonen gesetzte organisatorische Regelung bezieht, die die Stabilität der schulischen Ordnung gewährleisten soll.

Max sieht sich dadurch den Praktiken der Unterscheidung intersektional ausgesetzt. Sein Verhalten wird sowohl durch die Handlungen seiner Mitschüler*innen (doing peer) wie auch durch geschlechtsspezifische Kriterien (doing gender) und die Einhaltung der schulischen Choreographie (doing pupil) kategorisiert. In der Überlappung von doing gender while doing peer bzw. doing pupil while doing peer wird erkenntlich, wie verschiedene Unterscheidungskategorien miteinander interagieren und sich hierdurch spezifische Formen der Diskriminierung entwickeln können. In den Pauseninteraktionen werden unterschiedliche Differenzlinien simultan hervorgebracht, was in einer Mehrfachdiskriminierung von Max resultiert und seinen Status im schulischen Umfeld bestimmt. Hierbei darf Max laut Fenstermaker und West (1995) nicht als passives Opfer betrachtet werden. Stattdessen sollten auch seine Bewältigungsstrategien und seine Eigeninitiative in dieser Situation beachtet werden: Wie er die geschlechtsbezogene Diskriminierung erkennt und sich etwa mit dem Bau eines „Bubenschiffes“ aktiv gegen den Spielausschluss wehrt. Max’ Absicht, sich durch den Bau eines eigenen Schiffes alternativ am Spiel der Mädchen zu beteiligen, wird jedoch sofort von Malea untergraben, die ihm verbietet, sich ihrem Spielort zu nähern. Diese Taktik dürfte von Frau Zaugg übernommen worden sein. Wie in Kapitel 4.1 dargelegt, hatte sie Max auf einen speziellen Sitzplatz im Klassenraum verwiesen, der für Kinder mit unangemessenem Verhalten vorgesehen ist.

Es scheint plausibel, dass Max in der Peergruppe hauptsächlich in Bezug auf sein nichtschulkonformes Verhalten in der Rolle als Schüler wahrgenommen wird – was seine Mitschüler*innen als „blöd tun“ bezeichnen und als Vorwand für seine Ablehnung als Spielkamerad dient. Solche Beurteilungen des Schüler*innenverhaltens durch Gleichaltrige fungieren als Orientierungshilfe im komplexen Interaktionsgeschehen innerhalb der Schulklasse und tragen gleichzeitig zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung dieser bei. Darüber hinaus wird seine Akzeptanz in der Peergroup durch die im unterrichtlichen Geschehen etablierte und in der Peerkultur aufrechterhaltende Geschlechterordnung erschwert. Demzufolge sind, wie dies auch Kampshoff (2013) ausführt, soziale und pädagogische Praktiken im schulischen Alltag eng miteinander verflochten. Max, der in peerkulturellen Praktiken nicht in der Lage ist, auf andere anerkennungswürdige Rollen (wie z. B. der Rolle als Spielpartner) zurückzugreifen, kann die schulisch markierten Differenzen über die Peerkultur nicht relativieren und deshalb keine Distanzierung zu seiner allgegenwärtigen Identität als unangepassten Schüler schaffen.

5. Fazit

Mit der empirischen Analyse im vorliegenden Beitrag konnte (re-)konstruiert werden, dass Differenzen im schulischen Alltag der untersuchten Primarklasse nicht nur im Handeln und Sprechen der pädagogischen Fachkräfte hergestellt werden, sondern auch in den täglichen Interaktionen der Schüler*innen. Generell lassen sich Praktiken der Differenzkonstruktion und -bearbeitung im Schulalltag in erster Linie im Hinblick auf die Erfüllung von Schüler*innennormen, des doing pupil, beobachten, die von der Aushandlung von Peerbeziehungen überlagert werden. Im doing pupil zeigt sich zusätzlich ein impliziter Verhaltenskodex, der sich an Mittelschichtstandards orientiert und wahrscheinlich nicht allen Kindern gleichermaßen zugänglich ist, was auf die Differenzkategorie class verweist. Anhand des Datenmaterials wurde herausgearbeitet, wie die wiederholenden Prozesse des doing difference die soziale Ausgrenzung von Max perpetuieren. An ihn wird über die wechselseitige Adressierung von Lehrpersonen und Klassenkamerad*innen die anhaltende Zuschreibung des „unwissenden, unangepassten Jungen“ gebunden, was seine Position in der hierarchischen Schulklassenordnung festschreibt. Max unterliegt somit einem mehrschichtigen Normierungsprozess, wobei die Relevanz der Ordnungsmuster je nach Handlungskontext und beteiligten schulischen Akteur*innen variiert. Maxʼ mangelnde Anpassungsfähigkeit wird von den Lehrpersonen und Mitschüler*innen als nicht erfüllte schulische Normerwartung eingestuft und zu seiner maßgeblichen Eigenschaft erklärt. In Anlehnung an Garfinkel (1967) kann man diese Art der Generalisierung von Differenzzuschreibungen als „Essentialisierung“ bezeichnen, die Schüler*innen auf eine oder mehrere überschneidende Dimensionen von Differenz reduziert. Die Stigmatisierung von Max als Abweichler führt dazu, dass dem Schüler fortlaufend negative Eigenschaften zugeschrieben werden, die es ihm erschweren, fast verunmöglichen, Beziehungen zu seinen Peers aufzubauen und zu pflegen. Mittels der Hervorhebung von ineinander verflochtenen Differenzlinien, wie etwa dem doing gender while doing pupil, werden kontinuierlich neue Achsen der Ungleichheit (Klinger/Knapp 2005) aufgebaut, die innerhalb der Aktivitäten der Peergruppe in der Reproduktion der sozialen Ordnung der Schulklasse münden. Das Zusammenspiel mehrerer Differenzlinien resultiert darin, dass Max einer Diskriminierung unterliegt, die sich negativ auf seine identitätsrelevante Positionierung in der Schulklasse auswirkt.

Die Fokussierung auf die situative Herstellung von Differenzen im Rahmen dieses Beitrags erlaubt jedoch keine direkten Schlussfolgerungen hinsichtlich der Ungleichheitsverhältnisse auf der Makroebene. Die Bedeutung und Konsequenzen der identifizierten Aufschichtung von Ungleichheitserfahrungen und Diskriminierung für die Schullaufbahn von Max können nicht unmittelbar erschlossen, jedoch vermutet werden. Der zeitlich begrenzte Aufenthalt im Feld gewährt lediglich einen begrenzten Einblick in den Schulalltag der untersuchten Primarstufenklasse und ist demnach als reduzierte Darstellung der tatsächlich gelebten (Schul-)Wirklichkeit aufzufassen. Um zu rekonstruieren, wie sich pädagogische und peerbezogene Differenzierungspraktiken in Bildungsbiographien aufschichten und manifestieren, wären zusätzliche Längsschnittstudien erforderlich. Trotz der Begrenzungen der vorliegenden Studie zeigen die Befunde eindeutig, dass es von großem Wert ist, den Schulalltag in Bezug auf Differenzvorstellungen ethnographisch zu untersuchen. Durch solche Forschungsverfahren kann aufgezeigt werden, wie Differenzen nicht nur von außen an die Schule herangebracht werden, sondern gleichermaßen durch pädagogische und peerkulturelle Praktiken geschaffen oder stabilisiert werden können.

Literatur

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[1] Mit dem Titel „Schule macht Schüler*innen. Eine Untersuchung von Differenzkonstruktionen im Primarschulalltag“ (Mekacher i. D.).

[2] Alle Namen in diesem Beitrag wurden anonymisiert.

[3] „Kann ich meinen waschen gehen?“

[4] „Noch nicht, ich rufe dich auf.“

[5] „Aber ich kann warten.“

[6] Weiterfahren“ bedeutet hier „weitermachen“.

[7] „Jungs, stopp! Max, sicher nicht mit Markus kämpfen!“

[8] „Das habe ich schon gemacht.“

[9] „Frau Zaugg, Emma-Lou und Markus können das ohne sich zu halten und ich kann das nicht.“

[10] „Ahhh, schnell weg.“

[11] „Sie hat aber auch.“

[12] „Posten“ hat hier die Bedeutung von „Platz“.

[13] „Das wird so lustig. Wir lachen ihn alle aus. Das wird so lustig.“

[14] „Wart nur, bis du an der Reihe bist.“

[15] „Aber wir wollen ohne ihn spielen. Er tut blöd und nimmt Sachen weg.“

[16] „Das hat er aber jetzt nicht gemacht.“

[17] „Dooch. Gestern hat er das die ganze Zeit gemacht.“

[18] „Hör auf.“

[19] „Darf ich auch mal drauf?“

[20] „Das ist ein Frauenschiff.“

[21] „Ja, es dürfen sowieso nur vier drauf.“

[22] Dann mach ich ein Bubenschiff, nur dass ihr es wisst.“

[23] „Hör auf.“

[24] „Ok, dann mach eins.“

[25] „Aber dann gehe nicht mehr zu uns.“

[26] „Ich gehe es sagen.“