EDITORIAL: SITUIERTE BILDUNG? EMPIRISCHE FORSCHUNG ZU MACHT UND UNGLEICHHEITEN IN BILDUNGSKONTEXTEN DER SCHWEIZ

Lalitha Chamakalayil, Oxana Ivanova-Chessex und Luca Preite

Macht- und differenztheoretische Perspektiven sind in der deutschsprachigen empirischen Forschung zu Bildung inzwischen weitgehend etabliert (vgl. bspw. Kleiner/Rose 2014; Diehm et al. 2017; Hartmann et al. 2017; Dankwa et al. 2021; Heidrich et al. 2021; Akbaba et al. 2022; Amirpur et al. 2023) – gleichzeitig gehören Macht- und Differenztheorien nach wie vor nicht zu einem selbstverständlichen analytischen Repertoire beispielsweise der Schul- und Unterrichtsforschung. Diese theoretische Perspektivierung ermöglicht einen Blick auf Bildungszusammenhänge als von gesellschaftlichen Dominanz- und Differenzverhältnissen durchzogen, als ein Feld, in dem meritokratische Versprechen mit Machtverhältnissen, wie Rassismus, (Hetero-)Sexismus, Klassismus, Ableismus, verwoben wirken und hegemoniale Ordnungen reproduziert, verstetigt, aber auch verschoben werden (können) (Riegel 2016). In dieser Perspektivierung wird Bildung als eine Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen (Koller 2012) verstehbar, die nie neutral ist, sondern in Resonanz mit gesellschaftlichen Bedingtheiten der Bildung erfolgt. Denn die Selbst- und Weltverhältnisse – genauso wie deren Transformationen – werden als eingebettet in gesellschaftliche Ordnungen konzeptualisiert, für die ein Ringen um legitime Wissensbestände, „Wahrheiten“ und hegemoniale Wissensordnungen konstitutiv ist (Khakpour/Rangger i. E.). Bildungsräume,  orte, -institutionen können dann genauso wie im Bildungsbereich handelnde Subjekte nicht als neutral, von Machtverhältnissen immunisiert betrachtet werden, sondern können in dieser theoretischen Perspektivierung als im Ringen um legitimes Wissen involvierte Akteur*innen der gesellschaftlichen Verhältnisse verstanden werden.

Für diese gesellschaftstheoretische Auffassung von Bildung und unsere daran anschliessende Herleitung von Bildung als situiert sind Überlegungen der feminist standpoint epistemology (Hartsock 1983; Hill Collins 1986; Harding 1992) zentral. Feministische Erkenntnistheoretiker*innen hinterfragen die forschende Position als view from nowhere – die Annahme der Existenz einer körperlosen universalen Objektivität – und fordern die methodologische Berücksichtigung der Positionalität von forschenden Subjekten, Erkenntnisprozessen und Erkenntnissen in gesellschaftlichen und sozioökonomischen Machtverhältnissen. Die Wissensproduktion wird auf diese Weise als entlang der Matrix der Dominanz (Hill Collins 2000, 18) situiert und in relationalen Verhältnissen hervorgebracht begründet: Was wir meinen zu wissen, zu sehen, wahrzunehmen, analytisch herauszuarbeiten und zu verstehen, hat mit unseren in einem spezifischen Kontext hervorgebrachten Positionalitäten zu tun. Die Idee der Universalität und Objektivität des Wissens muss dieser methodologischen Perspektive zufolge zugunsten einer Situiertheit von Wissen – „situated knowledges“, im Plural, wie Haraway (1988, 581) es formuliert – aufgegeben werden. Stattdessen wird von partialen, verortbaren, kritischen, in solidarischen Suchbewegungen entstehenden Wissensperspektiven (Haraway 1988, 584) ausgegangen, welche von Subjekten erzeugt werden, die auf unterschiedliche Arten und Weisen die Bedingungen ihrer Existenz verkörpern (Haraway 1988, 581) und in gesellschaftlichen Verhältnissen verortet werden. Die Situiertheit des Wissens bezieht sich damit sowohl auf die Gesellschaftsgebundenheit der Erkenntnis und Wissensproduktion als auch auf die Partialität und Kontingenz der verfügbaren Wissensbestände.

Beziehen wir diese erkenntnistheoretischen Thesen auf Bildung, wird deutlich, dass Bildung – als ein mit Wissensproduktion-, -aneignung und -vermittlung verbundenes Phänomen – nicht aus dem Nichts entsteht, sondern konstitutiv auf gesellschaftlich positionierte Autor*innen und Kontexte der Wissensproduktion angewiesen zu verstehen wäre. Bildung – oder auch was darunter verstanden wird – erscheint dann nicht als neutral, sondern als gesellschaftlich und sozial verortet, normiert, an bestimmte hegemoniale Epistemologien gekoppelt und hierdurch spezifische gesellschaftliche Ordnungen, Privilegien und Benachteiligungen erzeugend. Bildung als mit situierten Wissensbeständen verbunden wird dann als partielle Deutungen, Zusammenhänge, Prozesse, Praktiken, Verhältnisse (be-)greifbar, welche durch historisch entstandene (hegemonial wirkende) Ordnungen und gesellschaftliche, institutionelle und biographische Situiertheiten der Beteiligten geprägt sind.

Diese Überlegungen zur Situiertheit von Bildung sind ein Ausgangspunkt des Themenschwerpunktheftes, das macht-, differenz- und ungleichheitstheoretisch verortete Analysen von Bildung, vor allem im Kontext der Schweiz, in den Mittelpunkt der Diskussion stellt. Mit diesem Themenschwerpunktheft schliessen wir an Diskussionen an, die im Zuge der Vernetzungstagung der Arbeitsgruppe „Bildung in gesellschaftlichen Macht- und Ungleichheitsverhältnissen“ (bis Juni 2024 AG „Interkulturelle Bildung“) der Schweizerischen Gesellschaft für Bildungsforschung (SGBF) geführt wurden. Die Tagung fand unter dem Titel „Macht- und ungleichheitskritische Perspektiven auf Bildung: Erkenntnisse und Suchbewegungen der empirischen Forschung“ im Mai 2023 statt. Als Koordinationsteam der Arbeitsgruppe luden wir – die Herausgebenden dieses Themenschwerpunktheftes – dazu ein, Bildung im Anschluss an die intersektional gedachten Impulse und Ansätze postkolonialer, rassismuskritischer, ableismuskritischer Perspektiven, feministischer Forschung und queer Studies zum Gegenstand einer gesellschaftstheoretisch informierten Analyse zu machen und Mechanismen der (Re-)Produktion, Verschiebungen und Umdeutungen von Dominanz- und Differenzverhältnissen, damit zusammenhängende institutionelle und gesellschaftliche Ordnungen und darin mündende diskursive und institutionelle Gewaltverhältnisse, aber auch relationale Handlungsspielräume von in diesen Kontexten handelnden Akteur*innen in den Blick zu nehmen.

Der Band bringt macht-, differenz- und ungleichheitstheoretische verortete Beiträge zusammen, die im Hinblick auf die thematische Ausrichtung, theoretische Zugänge und methodische Umsetzung sehr vielfältig sind, die jedoch unseres Erachtens etwas gemeinsam haben: Sie nehmen Bildung als machförmig und machtvoll strukturiert in den analytischen Blick und leisten hierdurch einen Beitrag zu einer gesellschaftskritischen und -theoretischen Aufmerksamkeit für Bildungsphänomene.

Den Auftakt geben drei qualitativ-empirische Beiträge, die sich mit machtvollen Prozessen der Repräsentation gesellschaftlicher Differenz und positionierenden Differenzkonstruktionen im schulischen Kontext beschäftigen. Dilyara Müller-Suleymanova analysiert in ihrem Beitrag auf der Grundlage von Gruppendiskussionen mit Jugendlichen, deren Eltern in die Schweiz migriert sind, wie die Realität einer postmigrantischen Gesellschaft in der schulischen Praxis des Geschichtsunterrichts kaum bis gar nicht repräsentiert ist – im Gegenteil: Sichtbar werden spezifische Lücken in den Geschichtsnarrativen und Bildungsinhalten, die auf Macht- und Dominanzverhältnisse in der Schul- und Unterrichtspraxis verweisen. Auf der Grundlage einer ethnographischen Studie zu Beurteilungspraktiken an Schweizer Sekundarschulen beschäftigt sich Bettina Grimmer mit der Herstellung von Leistungsordnungen im Schulkontext. Dabei zeigt sie auf, wie sich leistungsbezogene Unterscheidungen mit sozialen Ungleichheiten verweben und wie Schüler*innen in dieses machtvolle doing difference involviert sind. Stephanie Mekacher richtet in ihrer ebenfalls ethnographisch angelegten Analyse den Blick auf Differenzkonstruktionen in der Primarschulpraxis. Dabei zeigt sie auf, wie einschneidend schulbezogene Differenzkonstruktionen in dieser frühen Bildungsphase sind und wie Praktiken von intersektional verschränkten Differenzkonstruktionen und -bearbeitungen im Schulalltag für das doing pupil wirksam werden.

An diese Beiträge anschliessend beschäftigen sich Dominic Studer, Simon Affolter und Philipp Marti mit Perspektiven von Schüler*innen auf Rassismus im Kontext eines globalhistorisch ausgerichteten Geschichtsunterrichts. Anhand einer Interviewanalyse zeigen sie auf, dass die Verortung von Rassismus in der Gegenwart nicht automatisch mit der Reflexion der eigenen Positionierung in Rassismusverhältnissen einhergeht, weshalb ein stärkerer Lebensweltbezug bei der Auseinandersetzung mit Rassismus fachdidaktisch für sinnvoll befunden wird. Auf der Grundlage biographischer Interviews mit Musiklehrpersonen analysieren und diskutieren Philipp Saner, Seraina Hürlemann und Ruedi Kämpf aus einer musik-pädagogischen und fachdidaktischen Perspektive die Frage der Situiertheit musikalischer Wissensvermittlung in der schulischen Praxis, wobei vor allem Körperlichkeits- und Vulnerabilitätsdimensionen eine Berücksichtigung finden. Die Beiträge zum Schulkontext abschliessend führen Mario Steinberg, Ken Horvath und Andrea Frei in die (neo-)pragmatische Perspektive der Soziologie der Kritik auf Herrschaft, Macht und Ungleichheit ein. Sie illustrieren die Thesen dieser Theorieperspektive anhand eines Forschungsprojektes, in dem es um Wechselwirkungen von schulischen Unterscheidungen und digitalen Bildungstechnologien geht.

Im letzten Teil des Themenheftes werden macht- und differenztheoretisch informierte Analysen aus den Kontexten der Sozialen Arbeit, der Hochschulen und der Erwachsenenbildung vorgestellt. So geht Simone Brauchli in ihrem Beitrag, der sich auf eine ethnographische Studie zur Sozialpädagogischen Familienbegleitung stützt, auf die Geschlechterspezifik in der Ausgestaltung der Kinderschutzpraxis ein und fragt nach der Rolle der Väter in der sozialpädagogischen Begleitung. Anhand der Fallanalysen zeigt sie eine doppelte Unverbindlichkeit der Väter gegenüber den Familien und dem sozialpädagogischen Angebot und problematisiert damit eine verbundene Verantwortungsentlastung sowohl für die Familien als auch für die Unterstützungsmassnahmen. Anschliessend setzt sich Andrea Gerber mit der Relevanz und dem Potential von Affekten und Emotionen in der Aushandlung und Anvisierung einer diversitätssensiblen Hochschulbildung auseinander. Auf der empirischen Basis einer Interviewstudie mit Lehrenden verschiedener Hochschuldisziplinen zeigt sie, wie in Bildungssituationen evozierte Affekte und Emotionen sowohl eine Abwehr wie auch eine Reflexion von Machtverhältnissen in Bildungskontexten implizieren, und diskutiert davon ausgehend mögliche Implementation einer machtkritischen bzw. machtbewussten Hochschuldidaktik. Schliesslich gehen Miryam Eser Davolio und Kushtrim Adili in ihrem Beitrag der Frage nach, welche Machtverhältnisse sich in einem Bildungssystem widerspiegeln, das Bildungsungleichheiten bei Erwachsenen primär mittels kompensatorischer Förderung von Grundkompetenzen auszugleichen versucht, anstatt den Fokus auf die Reproduktion von Ungleichheit im Bildungsverlauf bzw. die Etablierung von Chancengleichheit zu richten.

Die von Sezen Çakmak verfasste Rezension zur Dissertation von Johanne Funck zum Thema „Migration und Recht auf Bildung. Die Rolle des Aufenthaltsstatus beim Zugang zum Schulsystem“ schliesst dieses Themenheft ab.

Wir danken den Autor*innen für ihr reges Interesse an dem Call und die den Diskurs voranbringenden Beiträge sowie den Reviewer*innen für ihr Engagement und die fundierten Rückmeldungen zu Manuskripten. Unser grosser Dank geht auch an das Herausgeber*innen-Team der Zeitschrift „Gesellschaft – Individuum – Sozialisation. Zeitschrift für Sozialisationsforschung“ (GISo), die den Band in seiner Konzeption und Umsetzung begleitet und unterstützt haben. Danken möchten wir insbesondere Daniel Werner für das sorgfältige Lektorat sowie Antonia Huber für die tatkräftige Unterstützung während des gesamten Formatierungsprozesses. Nicht zuletzt möchten wir uns bei allen Vortragenden und Teilnehmenden der ersten Vernetzungstagung der SGBF-Arbeitsgruppe „Bildung in gesellschaftlichen Macht- und Ungleichheitsverhältnissen“ danken, ohne die es diese Publikation nicht gegeben hätte.

Literatur

Akbaba, Yalız/Buchner, Tobias/Heinemann, Alisha M. B./Pokitsch, Doris/Thoma, Nadja (Hrsg.) (2022): Lehren und Lernen in Differenzverhältnissen. Interdisziplinäre und intersektionale Betrachtungen. Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Amirpur, Donja/Hormel, Ulrike/Machold, Claudia/Stošić, Patricia (2023): Editorial. Zum Verhältnis von Theorie, Methodologie und Empirie in der erziehungswissenschaftlichen Rassismusforschung. Bestandsaufnahmen, Justierungen und Ausblicke. In: Zeitschrift für erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung, 2 (1), 3–9.

Dankwa, Serena O./Filep, Sarah-Mee/Klingovsky, Ulla/Pfruender, Georges (Hrsg.) (2021): Bildung.Macht.Diversität. Critical Diversity Literacy im Hochschulraum. Bielefeld: transcript.

Diehm, Isabell/Kuhn, Melanie/Machold, Claudia (Hrsg.) (2017): Differenz – Ungleichheit – Erziehungswissenschaft. Verhältnisbestimmungen im (Inter-)Disziplinären. Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Haraway, Donna (1988): Situated Knowledges. The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective. In: Feminist Studies, 14 (3), 575–599.

Harding, Sandra (1992): Rethinking Standpoint Epistemology. What Is “Strong Objectivity”? In: Alcoff, Linda/Potter, Elizabeth (Hrsg.): Feminist Epistemologies. New York: Routledge, 49–83.

Hartmann, Jutta/Messerschmidt, Astrid/Thon, Christine (Hrsg.) (2017): Queertheoretische Perspektiven auf Bildung. Pädagogische Kritik der Heteronormativität. Opladen: Budrich.

Hartsock, Nancy C. M. (1983): The Feminist Standpoint. Developing the Ground for a Specifically Feminist Historical Materialism. In: Harding, Sandra/Hintikka, Merrill B. (Hrsg.): Discovering Reality. Feminist Perspectives on Epistemology, Metaphysics, Methodology, and Philosophy of Science. Dordrecht: Springer Netherlands, 283–310.

Heidrich, Lydia/Karakasoglu, Yasemin/Mecheril, Paul/Shure, Saphira (Hrsg.) (2021): Regimes of Belonging – Schools – Migrations: Teaching in (Trans)National Constellations. Wiesbaden: Springer VS.

Hill Collins, Patricia (1986): Learning from the Outsider Within. The Sociological Significance of Black Feminist Thought. In: Social Problems, 33 (6), 14–32.

Hill Collins, Patricia (2000): Black Feminist Thought. Knowledge, Consciousness, and the Politics of Empowerment. New York: Routledge.

Khakpour, Natascha/Rangger, Matthias (i. E.): Hegemoniekritische Lehrer*innenbildung unter Bedingungen von Rassismus. In: Journal für LehrerInnenbildung, Themenheft Rassismuskritik, 24 (04).

Kleiner, Bettina/Nadine Rose (Hrsg.) (2014): (Re-)Produktion von Ungleichheiten im Schulalltag. Judith Butlers Konzept der Subjektivation in der erziehungswissenschaftlichen Forschung. Opladen/Berlin/Toronto: Budrich.

Koller, Hans-Christoph (2012): Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Kohlhammer.

Riegel, Christine (2016): Bildung – Intersektionalität – Othering. Pädagogisches Handeln in widersprüchlichen Verhältnissen. Bielefeld: transcript.