Tagungsbericht: 8. Internationale Erziehungswissenschaftliche Ethnographie-Konferenz: Re-Writing (against) Culture. Ethnographisches Schreiben in erziehungswissenschaftlicher Forschung: Praktiken, Ansätze, Innovationen und Positionierungen
Albiona Hajdari und Franziska Schlattmeier
Vom 27. bis 29. Juni 2024 fand die 8. Internationale Erziehungswissenschaftliche Ethnographie-Konferenz an der Pädagogischen Hochschule Zürich statt. Das zentrale Anliegen der Tagung war eine „Aktualisierung der Writing-(against)-Culture-Debatte“. Dabei wurden insbesondere die Positioniertheit der Ethnograph*innen, die Praxis des ethnographischen Schreibens sowie der Umgang mit der Produktion ethnographischer Daten und Texte thematisiert. Organisiert wurde die Konferenz von einem Komitee bestehend aus Simone Brauchli, Felizitas Juen, Georg Rißler, Tobis Röhl, Anja Sieber Egger, Gisela Unterweger und Bettina Wohlfender.
Bereits vor dem offiziellen Beginn der Tagung am Donnerstag fanden vier thematisch breit gefächerte Workshops statt. In diesen konnten die Teilnehmenden Fragen sowie teilweise selbst eingebrachtes Material diskutieren. Über die drei Tage der Tagung hinweg wurden fünf Keynotes und vier Sessions, die diverse Symposien und Forschungsforen mit vielfältigen Beiträgen enthielten, angeboten.
Das vielfältige und sehr reichhaltige Programm der Tagung kann im vorliegenden Tagungsbericht nicht in seiner inhaltlichen Breite angemessen repräsentiert werden. Von daher gliedert sich der Bericht im Folgenden als inhaltlicher Argumentationsverlauf nach thematischen Fragen und Aspekten, die übergreifend in den fünf Keynotes sowie in den Workshops und Sessions diskutiert wurden.[1]
Starten lässt sich bei Fragen nach der Wahrheit, Authentizität und Glaubwürdigkeit des Geschriebenen. Didier Fassin (Collège de France) griff in seiner Keynote das Problem der unterschiedlichen Wahrheitsverständnisse in der Ethnographie auf, die häufig auf divergierenden Interpretationen und Aussagen basieren. Dabei ist relevant, welche Stimmen gehört werden und wer eigentlich für wen wie schreibt (z. B. diskutiert im migrationsgesellschaftlichen Kontext im Forschungsforum von Anita Hubo et. al. und in Session III von Rebecca Mörgen et al.). Fragen zum Prozess des Schreibens durchzogen viele Diskussionen, z. B. zeigte der Workshop von Tobias Boll auf, was ein gutes Protokoll ausmacht: „Ein gutes Protokoll generiert Bilder vor dem inneren Auge.“
Jessica Calarco (University of Wisconsin–Madison) widmete sich in ihrer Keynote der Frage nach Glaubwürdigkeit und Authentizität in der Darstellung der ethnographischen Forschung. Sie betonte die Bedeutung eines schrittweisen Ansatzes in der Analyse, welches – von den Daten über die Interpretation bis hin zu Aussagen und Argumentationen – sorgfältig und transparent dargelegt werden muss. Dies sei entscheidend, um gegenüber den Leser*innen Glaubwürdigkeit zu schaffen. Besonders betonte sie, dass die Komplexität der untersuchten Phänomene der ethnographischen Forschung in den Daten, Interpretationen und Argumentationen sichtbar gemacht werden müsse. Dazu stellte sie fünf Kriterien auf, wie etwa eine konkrete, nicht abstrakte Darstellung der Daten zu generieren.
Dörte Negnal ging in der methodischen Session der Frage nach, wie die „Klassifikationen der Klassifizierer*innen“ (Bourdieu) entstehen; sie zeigte Reflexionen zur Feldkonstruktion und zum Feldzugang auf und fragte danach, wen wir als Forschende wie zu Wort kommen lassen. Johanna Egli et al. thematisierten in ihrem Symposium Positionierungen der Forschenden und ihre Zugänge im Feld in von Macht- und Ungleichheitsverhältnissen geprägten Kontexten.
Exemplarisch für weitere Überlegungen zur Reflexivität kann der Umgang mit Irritationen genannt werden, zu dem Flora Petrik und Sophia Richter in ihrem Beitrag feststellten, dass diese in bisherigen ethnographischen Forschungen zu wenig berücksichtigt werden, und sie forderten, diese systematisch in einen reflexiven Umgang miteinzubeziehen.
Wie im Workshop von Sarah Schirmer und Eva Schramm deutlich wurde, lässt sich auch der Einbezug von Emotionen wie das „Unwohlsein“ als analytischer Zugang nutzen.
Als besondere Herausforderungen wurden z.B. im Forschungsforum von Magnus Frank und Soniya Alkis methodologische Fragen einer rassismuskritischen Ethnographie oder im Symposium IV von Johanna Egli der Umgang mit Diskursen im Bereich von „muslimischen Jugendgruppen“ beispielhaft genannt.
Während der gesamten Tagung wurde immer wieder die Rolle der beforschten Personen kritisch diskutiert. Eine spannende Perspektive zur partizipativen ethnographischen Forschung brachte Franziska Oberholzer in der Session III ein. In ihrem Projekt im inklusiven Schulkontext zeigt sie auf, wie durch die Kombination verschiedener Datenformen und methodischer Ansätze multiple Perspektiven auf die gleiche Situation eingefangen und dargestellt werden können und markiert gleichzeitig Grenzen sowie Herausforderungen partizipativer Ansätze in der Ethnographie.
Ähnliche Herausforderungen und den Umgang mit unterschiedlichen Akteur*innen im Feld zeigte Bettina Hünersdorf mit ihrem Beitrag in Session I auf, ausgehend von einer transferorientierten ethnographischen Forschung.
Claudia Machold ging in der Session II der Frage nach, welche Akteur*innen wie in einer Ethnographie auftauchen, wer spricht und wer nicht spricht und wie das Wissen dargestellt wird. Martin Fuchs (Universität Erfurt) betonte in seiner Keynote unter anderem, dass die beteiligten Akteur*innen im Feld in unterschiedlichen Kontexten involviert sind und er forderte demnach eine Repräsentation der ethnographischen Forschung über den akademischen Kontext hinaus, was entlang sozialer Verstehensprozesse neu betrachtet werden sollte.
Ergänzend zu diesen Akteur*innen-Perspektiven wurden posthumanistische/more-than-humans-Reflexionen (z. B. Christina Huf, Markus Kluge et. al. in Session I), technische Erneuerungen wie z. B. das Eye-Tracking (Isabel Carvalho und Mandy Schiefner-Rohs in Session IV) und die Forderung, den Körper in die Daten zu holen (Jennifer Carnin und Katharina Schitow in Session IV), diskutiert.
In Überlegungen zum „schreibenden Ich“ (z. B. Workshop von Magnus Frank), zur Entstehung, zum Aufbau und zum Inhalt von ethnographischen Texten etc., wurden in den Vorträgen und Diskussionen immer wieder Fragen des Kontexts virulent, also der „äusseren Umstände“ und Faktoren von Forschung und deren Einfluss auf die Ethnographie.
Cornelia Schadler (Universität Wien) fokussierte in ihrer Keynote die Frage nach der Präsenz der/des Autor*in in Publikationsprozessen der Forschung und inwieweit diese*r ein „autonomes research Subjekt“ sei. Dabei betonte sie, dass der Zweck/das Ziel der Datenpräsentation und dabei die Rolle der Autor*innenschaft in der Ethnographie immer mitbedacht werden müsse. Sie stellte die Frage, ob Autor*innenschaft in der Ethnographie immer notwendig sei, und identifizierte vier Typen von Autor*innen, die jeweils unterschiedliche Wege beschreiten, um sich im Publikationsprozess zu positionieren und ihre eigene „wissenschaftliche Existenz“ aufrechtzuerhalten. Besonders das Publizieren in Journals erschwere eine ausführliche Darstellung von Ergebnissen und vertiefteren Reflexionen.
Judith Laister (Universität Graz) bot in ihrer Keynote zu einem Kunst- und Forschungsprojekt zur ästhetischen Feldforschung eine andere Perspektive auf Repräsentation. Sie zeigte auf, wie im Projekt Erkenntnisse performativ, multimodal und translational dargestellt werden. Insbesondere legte sie den Fokus auf die sogenannte Rückübersetzung der Ergebnisse in das beforschte Feld. Die ästhetische Feldforschung sieht Laister als eine mögliche Antwort auf die Writing-Culture-Debatte, in der Kultur „performativ in gesellschaftliche Kontexte eingeschrieben“ wird.
Weiterhin wurde im Verlauf der Tagung mehrmals die Frage „Was sind Daten in der Ethnographie?“ angesprochen und somit immer wieder eine kritische Sicht auf die eigene Datenproduktion, die eigene Perspektive sowie die eigenen Grenzen zur Diskussion eingenommen. Inwieweit sind demnach ethnographische Texte Daten? Und wie werden diese dargestellt? Damit befasste sich zum Beispiel Sabine Bollig in Session III und fokussierte, wie Beobachtungsprotokolle in Artikeln belegt werden. Durch das Aufzeigen von unterschiedlichen Belegpraktiken warf sie die Frage nach einer Datafizierung der Ethnographie auf. Statt einem „going data management“ forderte sie, sich mehr in Richtung „data-care-work“ (z. B. in Anlehnung an die Sorgeethik von Joan Tronto) zu orientieren.
Die Tagung bot mit ihren vielfältigen Beiträgen und Formaten einen passenden Rahmen, in dem die „Writing-(against)-Culture-Debatte“ durch gemeinsame Reflexionen, konkrete methodische Ansätze und Einblicke in verschiedene Projekte vertieft und weitergedacht werden konnte. Zusätzlich war das Conference Dinner ein weiterer Höhepunkt, das als festlicher Mittelpunkt der Tagung in der Nähe des Zürichsees stattfand.
Es lässt sich zudem abschliessend feststellen, dass der Besuch einer Ethnographie-Konferenz insofern eine Besonderheit darstellt, als dass dort viele Ethnograph*innen zusammenkommen, um über Ethnographie zu sprechen und diese während vier Tagen gleichzeitig ethnographisch begleiten. Neben diskutierten Inhalten ist somit auch interessant, wie diskutiert wird, wie Notizen in den einzelnen Sessions gemacht werden, was in den Pausen besprochen wird etc.
Im gemeinsamen Tagungsausklang wurden diese unterschiedlichen Eindrücke zunächst im Plenum gesammelt, um sie dann in ChatGPT als Prompts einzugeben mit der Aufforderung, daraus ein Gedicht über die gesamte Tagung hinweg zu erstellen. Hier wird deutlich, dass neben den an der Tagung diskutierten Fragen und Herausforderungen wie zum Beispiel die Forderung nach data-care-work oder die posthumanistischen Entwicklungen vor allem die Rolle der KI weiteren Überlegungen bedarf. Dies wird wahrscheinlich in der Zukunft die Entwicklung der ethnographischen Forschung prägen und kann anschliessend an diese Konferenz an weiteren Treffen vertiefend diskutiert werden.
Dahingehend wird der Tagungsbericht mit einem abschliessenden Vers aus dem von ChatGPT generierten Gedicht, das den gedanklichen Tiefgang während der Tagung metaphorisch abbilden soll, beendet:
From lake’s cool waters to data’s deep sea,
Our conference in Zürich, forever will be.
[1] In diesem Tagungsbericht werden einzelne ausgewählte Beiträge der Tagung erwähnt, diese stehen stellvertretend für die weiteren Beiträge.
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